Das in 35 Sprachen übersetzte Buch Papyrus versetzt die Leser:innenschaft auf unterhaltsame Weise in die Zeit der Gründung der Bibliothek von Alexandria, die versucht, alle Bücher weltweit zu vereinen. In Anwesenheit der spanischen Autorin Irene Vallejo entsteht beim Göttinger Literaturherbst ein wertschätzender Austausch über das Meisterwerk Buch vor einem begeisterten Publikum.
Von Anna Röttger
Bild: Anna Röttger
Das Publikum hat seine Weingläser und Tapas vor die gefragten Sitzplätze gestellt – im ausverkauften Saal des Literaturhauses in Göttingen wird es spürbar eng. Das Licht wird gedimmt und die zur Ruhe gekommenen Menschen richten den Blick nach vorne, auf drei sitzende sowie eine stehende Frau, die sich am 23. Oktober 2022 im Rahmen des Göttinger Literaturherbstes eingefunden haben. In der Mitte sitzt die Übersetzerin und an diesem Abend auch Moderatorin Annette Paatz, die an der Göttinger Universität mit einem Schwerpunkt auf spanische und lateinamerikanische Literatur lehrt. Links neben ihr die Schauspielerin Andrea Strube, die einigen als Ensemble-Mitglied am Deutschen Theater Göttingen bekannt ist und die an diesem Abend die Lesung der deutschen Fassung übernimmt.
Auf der Bühne ganz rechts schließt sich diejenige an, die Anlass der Veranstaltung ist, die Autorin Irene Vallejo, die kürzlich die Frankfurter Buchmesse als Repräsentantin des Gastlandes Spanien eröffnete. Doch das ist nicht alles: Rechts von Vallejo steht eine Dolmetscherin für Gebärdensprache, die sich mit einer Kollegin abwechselt. Der Abend verspricht mehrsprachig zu werden: Spanisch, Deutsch und Gebärdensprache. Die Wertschätzung für (ihre) Übersetzer:innen, die Vallejo in ihrer Rede zur Eröffnungsfeier der Buchmesse hervorhob, wird in Göttingen erneut sichtbar. Die Autorin betont, dass in der Vergangenheit erst durch Übersetzungen das Wissen weitergegeben werden konnte.
Irene Vallejo
Papyrus
Diogenes: Zürich 2022
752 Seiten, 28,00€
Hinter den Frauen überragt die sogenannte ›Wand der ungelesenen Bücher‹ bzw. das Kunstwerk Bucharchitektur von Gerhard Steidl. Im Laufe des Abends wird dieses von Vallejo angesprochen. Aber was ist die Besonderheit dieser Wand? Auf den ersten distanzierten Eindruck erinnert sie an weiße bis beige schmale Kacheln, die der Länge nach gefliest scheinen. Die Struktur irritiert jedoch und verlockt zu einem Blick aus der Nähe: Gebundene Bücher, mit Nähten und Fadenheftung können entdeckt werden, das Wirken von 12.000 Büchern! Ohne die Buchdeckel und die Möglichkeit, die Seiten herauszunehmen, verbirgt das Werk jedoch jedes Wort. An diesem Abend, im Zentrum das Werk Papyrus, das im spanischen El infinito en un junco (dt.: das Unendliche, das aus einem Schilfrohr erwächst) heißt, dürfen wir jedoch einen Blick in das Innere und darüber hinaus in dessen Entstehungsprozess werfen.
Der Traum vom Sammeln aller Bücher weltweit
Das Sachbuch Papyrus erzählt von der Gründung der Bibliothek in Alexandria und der Bedeutung Griechenlands sowie des Untergangs des Römischen Reiches im Hinblick auf das Medium Buch. In der Bibliothek in Ägypten wird in Gedenken an Alexander den Großen versucht, alle Bücher – damals Papyrusrollen – zu vereinen, um die bedeutsamen Werke zu archivieren:
Was wurde wann aufgeschrieben? Warum? Welches Material wurde verwendet? Und wodurch sind uns die Texte noch heute verfügbar? Die Leidenschaft, mit der Vallejo sich für die Antike interessiert, transportiert sie in ihren Text und versetzt die Lesenden und Hörenden in eine längst vergangene Zeit. Die erste und die letzte Passage liest Irene Vallejo beim Literaturherbst auf Spanisch und anschließend Andrea Strube auf Deutsch vor. Auf beiden Sprachen – unabhängig von der individuellen Sprachkenntnis – wirkt die Lesung mitreißend: Die Stimmfarben, die Betonungen, das Tempo, die dadurch erzeugte Spannung der beiden professionellen Leserinnen führen das Publikum in eine exklusive Welt.
Von der Erfindung des griechischen Alphabetes bis zum Buch
Göttinger Literaturherbst 2022
Vom 22. Oktober bis 6. November findet der 31. Göttinger Literaturherbst statt. Litlog ist wieder mit dabei und veröffentlicht jeden Tag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms. Hier findet ihr unsere Berichterstattung im Überblick.
Papyrus ist jedoch kein trockenes Sachbuch, kein Nachschlagewerk für historische Fakten. So wie während der Veranstaltung Humor und empathische Wertschätzung zwischen den Frauen auf der Bühne und auch zwischen dem Publikum und der Bühne bestehen, wirkt auch der Text unterhaltsam und erfrischend. Immer wieder werden Bezüge zur Gegenwart hergestellt und anekdotisch Inhalte verdeutlicht. Teilweise kommentiert die Autorin im Werk das Geschehen und berichtet an zwei Stellen in dem 662 Seiten umfassenden Werk autobiographisch. Die Spanierin erklärt, dass sie versucht habe, auf eine Weise zu schreiben, wie ihre Mutter ihr als Kind abends vorlas. Durch Bücher in eine ferne Welt, von der Realität und den Sorgen des Alltags, wie dem Mobbing in der Schule, hinübergleiten zu können, sei ein großes Potential von Literatur, führt Vallejo an. Darüber hinaus wird sich auf der Bühne dialogisch über die Bedeutung von Übersetzungen, denn Papyrus wurde in 35 Sprachen übersetzt, sowie über vergessene, unbekannte Autorinnen in der frühen Literaturgeschichte ausgetauscht.
Mittels der charismatischen Stimme von Andrea Strube erfährt das Publikum außerdem von der Erfindung des griechischen Alphabetes. Dabei spielt eine unbekannte Person die zentrale Rolle. Im 8. Jahrhundert fasziniert sie, wie die einfachen phönizischen Händler so schnell schreiben konnten. Daraufhin lernt sie eifrig die Schrift, doch eine Frage bleibt offen: Warum notieren die Phönizier lediglich Konsonanten und keine Vokale? »Stellen wir uns vor, wie dieser Satz ohne Vokale aussähe: Stlln wr ns vr, w dsr Stz hn Vkl ssh.« Das Publikum stellt es sich vor, reagiert mit Gelächter und auch Irene Vallejo muss aufgrund des anschaulichen Vortrags Strubes schmunzeln. Alle Zuhörenden lernen: Erst durch das fantastische Werkzeug des griechischen Alphabetes, das die Optimierung des phönizischen Alphabetes mittels Vokalen darstellte, sei präzises Schreiben ohne Uneindeutigkeiten möglich geworden.
Bisher unzugängliche Worte
In ihrem Sachbuch Papyrus begibt sich Vallejo auf die Suche nach den – dem Publikum außerhalb der Universitäten bisher verschlossenen – ersten Büchern und öffnet sie für uns. Im Gegensatz zur Wand der ungelesenen Bücher bleiben die Werke, die in ihrem Text erscheinen, somit nicht verschlossen. Die Gemeinsamkeit des Kunstwerks im Literaturhaus und dem literarischen Werk Vallejos sei, dass die Faszination, die von Büchern ausgehe, hervorgehoben werde. Erst Schriftstücken gelinge es, Menschen weltweit miteinander zu verbinden, so die Autorin. Die unterhaltsame Lektüre, zu der die Lesung einlädt, thematisiert Wendepunkte auf dem Weg zu einer vernetzten globalen Welt und regt zur Reflexion an. Die Autorin hebt in dieser Hinsicht den Wert jedes einzelnen Buches hervor, das wir in den Händen halten dürfen. Irene Vallejo eröffnet einen Blick in bisher unzugängliche Worte, welche die Geschichte des Buches und der zivilisatorischen Welt exemplarisch erläutert. Die Besucher:innen im Literaturhaus feierten die Veranstaltung mit langem Applaus und genossen auch im Anschluss die herzliche, durch Musik und Kulinarik untermalte Stimmung. Das ein oder andere zerbrochene Weinglas sorgt hoffentlich für zukünftiges Glück, um noch viele weitere solch gelungene Literaturabende genießen zu können!