Wie lässt sich sexualisierte Gewalt erzählen? Deniz Ohdes Ich stelle mich schlafend beschreibt eine toxische Beziehung, ohne dabei dem Pathos des Traumas zu verfallen. Ohne jegliche Sentimentalität wird das Leben der Protagonistin erzählt, die ebenso gefangen in ihren Verhaltensmustern ist wie die Lesenden in der bedrückenden Schwere des Romans.
Hinweis: In diesem Text wird sexualisierte Gewalt behandelt.
Von Johanna von der Fecht
Es beginnt mit Yasemin, die zurückkehrt zu der Brache. Von dort aus wird in Rückblenden erzählt, was geschah – mit dem Stück Land und mit ihr. Denn eigentlich beginnt es anderswo mit einem Willensbruch, der Vergewaltigung ihrer Mutter, und in diesem Anfang scheint der gesamte Fortlauf der Handlung festgeschrieben: Yasemin steckt im Geburtskanal fest, will offenbar nicht auf die Welt kommen, doch als sie dann da ist, wächst sie bei Eltern auf, die sich selbst nicht lieben, einander nicht lieben und Yase auch nicht. Ihr Vater, ein Vergewaltiger, lehrt sie, dass ein Nein nichts wert ist und eine Entschuldigung alles. Ihre Mutter lehrt sie den Selbsthass, das selbststrafende Verhalten, um vor der Welt zu bestehen. Und damit fällt Yasemin in Vitos Arme, in denen sie ihre Erfüllung sucht.
Die Rückkehr also als Initiationsmoment des Erzählens. Ähnlich wie in Streulicht (Suhrkamp 2020), Deniz Ohdes preisgekröntem Debüt, in dem die Ich-Erzählerin an den Ort ihrer Kindheit und Jugend zurückkehrt, um von der eigenen Sozialisation im rassistischen und klassistischen Deutschland zu erzählen. Doch in Ohdes neuem Roman ist das Erzählen nicht nur an Yasemins Erinnern und somit an ihre Rückkehr gebunden. Der Zeitpunkt des Erzählens dann, wenn die Brache schon Brache ist, liest sich vielmehr als selbstreflexives Moment, das dem Roman als Aufhänger dient, das eigene Erzählen zu begründen: »Lässt sich an einem Streifen Erde ablesen, was geschah?« – Nein, die Rückblenden folgen, weil ein brachliegendes Stückchen Land, das sich schon langsam wieder einfügt in die Umgebung und über das Gras zu wachsen beginnt, nichts verrät. Nichts von Yasemin und ihrer Wohnung, die sich dort befand; auch nichts von ihrer Beziehung zu Vito, die nicht mit ihren Worten »Ich beende das hiermit« endet, sondern damit, dass Vito nachts in ihre Wohnung eindringt, auf sie wartet und sich in die Luft jagt, als Yasemin immer noch nicht da ist – ein Zufall. Sie überlebt Vito.
»Es war eine Verstrickung, keine Verliebtheit.«
Dieses Ende zeigt: Ich stelle mich schlafend ist keine Liebesgeschichte, auch nicht die ihrer abgründigen Seiten. In ihrer nüchternen, detailreichen Sprache führt Ohde die Lesenden vielmehr hinein in die bedrückende Atmosphäre von Yasemins Kindheit und Jugend, in der Yasemin – geplagt von dem Gedanken an ihre Zeugung – verzweifelt versucht, zu verschwinden, sich von ihrer vermeintlichen Schuld zu befreien. Sie gibt sich rigorosen Badezimmer-Dusch-Prozeduren hin, als »könnte eine störende Erfahrung mit jedem Strich des Waschlappens über die nasse Haut ausgetrieben werden, als hätte sie einen versteckten Schmutz auf ihrem Körper hinterlassen«, und sucht Zuflucht in der Welt der Zeichen und Spiritualität.
Und dann, eines Tages, begegnet die dreizehnjährige Yase in der Enge der Hochhaussiedlung und ihrer eigenen Routinen – Vito: »Eines flüchtigen Blickes würdigte Vito sie, und Yase legte alles hinein«. Ohne je mit ihm gesprochen zu haben, ist sie überzeugt, der Liebe ihres Lebens begegnet zu sein. In Vito erkennt und findet sie jemanden, dem sie sich gänzlich hingeben kann. Vito als ein Gott, ein Angehimmelter, ein »Bildnis, zu dem sie sang« und sie als die Singende, die Untergebende, die in ihm Verschwindende. Ihre ›Liebe‹ ist der Anfang des Endes: »Sein Mund ein offenes Grab, auf das ich gestürzt bin, als wäre es eine Verheißung«, erkennt Yasemin Jahre später.
Das Schicksal der Schuld
Die Beziehung hält nicht lange, zu sehr beginnt Yasemin sich im Zuge eines Reha-Aufenthaltes vor ihrem eigenen Körper zu ekeln und anschließend von Vito zu distanzieren. Mit der Abkehr von ihm sind es wieder die strikten Routinen und ein strafender Umgang mit sich, die Yasemin zu Ankerpunkten werden. Sie versagt sich ein jegliches Recht auf Sicherheit, Genuss und Gemütlichkeit und führt lustlose Tage, an deren Ende sie mit ihrem gebügelten Schlafanzug auf der Couch sitzt. Yasemin ist überzeugt: Dieses Leben, das nicht so wirklich gelebt wird, sondern nur verstreicht, ist ihr Schicksal.
In dieser Zeit, es sind über zehn Jahre, ist sie mit Hermann zusammen. Ihre Beziehung kennt »keine Dunkelheit und keine Geheimnisse«, schließlich kommt Hermann aus einer liebenden Familie und weiß, was es heißt, geliebt zu werden und zu lieben. Anders als Vito gibt er ihr nicht die Möglichkeit, in ihm zu verschwinden – weist sie zurück, wenn sie es versucht. Doch Yasemin weiß damit nichts anzufangen. Und so sehr sie es versucht, letztlich nützt Hermanns Zärtlichkeit nichts und als sie Vito zufällig wiederbegegnet, fällt sie ihm erneut in die Arme.
Ich stelle mich schlafend als »trauma plot«?
Ohdes zweiter Roman fügt sich in die Reihe der Romane ein, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden und von wiederholter sexueller und psychischer Gewalt erzählen. Die amerikanische Literaturkritikerin Parul Sehgal prägte dafür den abwertenden Begriff des »trauma plots«, der sich dadurch auszeichne, psychologische Tiefe auf das Trauma der Figuren zu reduzieren. Indem alles ins Zeichen des Traumas gestellt würde, büße die Literatur an ästhetischer Qualität ein, so Sehgal. Doch während sie dieser Erzählungen traumatischer Erfahrungen grundsätzlich überdrüssig ist, gestehen andere dem Trauma seine Daseinsberechtigung in der Literatur zu. Diese gehe jedoch mit einer moralischen sowie ästhetischen Verantwortung einher: »Wenn ein Trauma auf diese Art Tiefe für eine nicht sonderlich tiefgründige Erzählung erschwindeln soll, dann ist das nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein moralisches Problem. Die Komplexität und Intensität der Leidenserfahrungen, die eine traumatische Störung auslösen, werden verwässert und in den Dienst einer Erzählung gestellt, die ohne großen künstlerischen Aufwand schnelle emotionale Effekte erzeugen möchte«, schreibt der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen dazu. Zurecht stellt sich also die Frage: Wie kann von Trauma erzählt werden?
Ich stelle mich schlafend gibt eine Antwort auf diese Frage. Denn es geht dem Roman nicht darum, Yasemins Vergangenheit als spannende Vorgeschichte zu verkaufen, die durch eine sukzessive Auflösung den Plot vorantreiben soll. Es geht ihm auch nicht darum, die Lesenden mit Yasemins Leiderfahrungen zu schockieren oder ihre voyeuristischen Neigungen zu befriedigen. Stattdessen werden früh und auf wenigen unsentimentalen Seiten Yasemins Zeugung und ihre lieblose Kindheit geschildert. Danach müssen die Lesenden sich durchkämpfen durch die Schwere des Plots, der psychologisch eingehend Yasemins sich wiederholende Verhaltensmuster und Gedanken darstellt und plausibel macht, wieso sie sich auf Vito einlässt und so oft nicht »Nein« sagen kann.
Der Roman erzählt somit vom Trauma und wie dieses in der wiederholten Erfahrung von Gewalt enden kann. Das ist ein statistisch belegter Fakt, den der Roman gegen Ende auch als solchen markiert: »Personen, die früher sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, haben ein erhöhtes Risiko, in Zukunft einen erneuten Übergriff zu erleben.« Das liest sich beinahe als eine Immunisierung seitens der Autorin; so sollten die wiederholten Gewalterfahrungen von Yasemin und ihr statischer Charakter nicht als Faulheit und fehlende Originalität gewertet, sondern als Realitätsmarker verstanden werden. Dieser Versuch der Rechtfertigung ist im Kontext der Kritik zum »trauma plot« verständlich, doch ist dieser Bruch mit dem sonstigen Stil leider nicht ganz stimmig.
Ebenso wenig stimmig sind die allgegenwärtigen Metaphern, wie die des Schlafs und des Mondes. Sind sie zum Teil zwar Ausdruck von Yasmins Obsession mit der Zeichenhaftigkeit der Welt, die eigens Ausdruck ihrer Bewältigungsstrategie ist, wirken sie aufgrund ihrer Fülle im Roman überladend.
Zurück zum Anfang
Nichtsdestotrotz besticht Ich stelle mich schlafend durch Ohdes feinsinnige Sprache, der es nach Streulicht erneut gelingt, die Lesenden in die beklemmende Stimmung ihres Romans zu ziehen: »Eine Berührung von ihm, und jede andere Berührung würde an ihr abprallen, kein Schlag könnte sie treffen, jede Drohung wäre getilgt, es wäre nur noch Abendsonne auf dem Balkon, auf dem sie mit Vito stünde, […] die Dunkelheit würde nichtig, das Geräusch aneinanderreibender Bettdecken, saurer Geruch, Unausweichlichkeit, all das gäbe es nicht mehr. In Vito würde sie sich auflösen.« Eindrücklich wird so geschildert, wie und wieso Yasemin nur in den patriarchalen Armen Vitos ihre Erfüllung sucht und damit zur Zielscheibe eines Mannes wird, der ihre Aufopferung für selbstverständlich hält.
Es endet mit einem Knall, der Vito und Yasemins Wohnung vernichtet. Dieser Knall ist nicht nur Zerstörung, sondern auch Urknall – ein möglicher neuer Anfang am Ende des Romans. Doch inwiefern Yasemin der Zirkularität dieser stetigen Neubeginne, die durch die Struktur des Romans nahegelegt wird, entkommen kann, bleibt fraglich. Und so ist der Roman weniger die hoffnungsvolle Geschichte einer Traumabewältigung als die bestürzende Schilderung der Realität sexualisierter Gewalt.