Benjamin von Stuckrad-Barres Lesung ist genauso poppig-überdreht, wie man sie erwartet hat. Dabei besticht der Autor durch gekonnten Witz, spart bei aller Belustigung aber geschickt aus, worum es eigentlich gehen sollte: MeToo-Bewegung und Frauenkampf, den Stoff seines Romans Noch wach?
Von Frederik Eicks
Bild: Alciro da Silva, mit freundlicher Genehmigung des Göttinger Literaturherbst
Wäre Göttingen eine Familie, dann wäre Benjamin von Stuckrad-Barre, der hier sein Abitur gemacht hat, ohne Frage das Problemkind: Studium geschmissen, irgendwie in den Musikjournalismus reingewurstelt, steiler schriftstellerischer Aufstieg, Absturz mit allem Drum und Dran – Magersucht, Drogensucht, triumphale Rückkehr mit dem Bestseller Panikherz. Aber wie eine halbwegs funktionierende, unterstützende Familie liebt Göttingen dieses Kind trotzdem: Schon als Stuckrad-Barre am 30. April die Bühne der vom Göttinger Literaturherbst und Literarischen Zentrum veranstalteten Frühjahrslese betritt und gestisch Applaus einfordert, jubelt das Publikum in der vollen Sheddachhalle dem sogenannten Pop-Literaten lautstark zu. Was von dieser Lesung zu erwarten ist, sollte allen Anwesenden schon im Vorfeld klar gewesen sein. Das liegt nicht nur an der Kontroverse um seinen neuen Roman Noch wach?, auf die noch eingegangen werden muss. Auch mit der eigentümlichen Form seiner Lesungen werden bestimmt einige noch von seinem letzten Besuch in Göttingen vertraut sein.
Doch selbst wenn nicht: Alles, was man wissen muss, wird unmissverständlich kommuniziert und inszeniert, noch bevor der Autor als Hauptfigur des Abends überhaupt die Bühne betritt. Hinter der Bühne hängt ein absurd großes Transparent, sicherlich drei Meter in der Höhe und fünf Meter in der Breite, das dieselbe Bürogebäudefassade zeigt wie das Cover des aktuellen Romans, darauf der panikherzgelbe Riesenschriftzug Noch wach?. Das ist natürlich keine schriftstellerische, sondern eine Praxis von Bands, die auf ihren Touren wahlweise Bandnamen oder eben den aktuellen Albumtitel als Transpi hinter der Bühne hängen haben. Aus den Boxen tönt während des Einlasses ein Musik-Mix, in dem von The Kinks’ Sunny Afternoon über Nina Chubas und Chapo102s Ich hass dich bis zum Indie-Klassiker Lisztomania der Band Phoenix alles dabei ist. Das mutmaßlich einzige Auswahlkriterium: bloß nix Seichtes. Es wird also konzert-ig und wild. Auf der Bühne: ein Tisch, ein Stuhl, ein Wasserglas, ein Mikro – Solo-Performance.
Bitter-böse Lästereien
Im Ringelshirt springt die Hauptfigur nun zu den ohrenbetäubend lauten Klängen von Falcos Out of the Dark mit einem kleinen Hopser auf die Bühne, lässt sich schon mal im Voraus feiern und beginnt ihre Lesung mit der Geschichte, wie sie vorhin am Gänseliesel ein Eis gegessen habe. Stuckrad-Barres Ortskenntnis kommt im Verlauf des Abends immer wieder zum Tragen, was ihm etwas wie einen Einer-von-uns-Bonus einzubringen scheint: Das Publikum frisst ihm aus der Hand, es scheint beinah egal zu sein, was genau er da erzählt, Hauptsache irgendwas mit Ortsbezug – Tanz in den Mai in Nörten-Hardenberg, das Versacken in der Tangente, die »gutaussehenden Arschlöcher« auf dem Basketballplatz hinter dem Max-Planck-Gymnasium usw. usf. Zum ersten Running Gag des Abends wird der Laden Calvör, der als selbstbezeichnete ›Akademische Buchhandlung‹ ein leichtes Ziel für Stuckrad-Barre ist: »Noch zweimal 3sat, dann darf ich auch bei Calvör rein!« Er beweist dabei ein außergewöhnliches Talent für Stand-up-Comedy: Punktgenaues Timing und Delivery sorgen für eine dermaßen einnehmende Bühnenpräsenz, dass man sich ihr trotz meist bitter-böser Lästereien nur schwer entziehen kann – dieser Mann ist einfach unglaublich lustig.
Der zweite Running Gag wird Stuckrad-Barres penetrantes Beharren darauf, dass die Geschichte von Noch wach? »ausgedacht«, »erfunden«, eben »Fiktion« sei. Das ist die ersten zwei Male auch witzig, aber wozu genau seine Beteuerung gut sein soll, keine Ahnung zu haben, wieso er nun ständig nach dem Axel-Springer-Verlag gefragt werde, erschließt sich nicht. Ginge es nur um die rechtliche Absicherung, wäre der Sache mit einer einmaligen Bemerkung ja Genüge getan. Vielleicht hängt dieses Verhalten mit der von ihm an diesem Abend zum Ausdruck gebrachten Abneigung gegenüber Künstler:innen zusammen, die ihre gesellschaftliche Rolle überstrapazieren und sich in Dinge einmischen, von denen sie keine Ahnung haben. So sei zum Beispiel Heinrich Böll ein guter Autor, wenn man das Politische weglasse. Wenn, dann müsse man schon ein Buch darüber schreiben, aber er selbst, Stuckrad-Barre, käme ja nie auf so eine Idee.
Das Ding mit der Autorinszenierung
Mit diesen Aussagen, die Stuckrad-Barre wie im Vorübergehen gegeneinanderstellt, stößt man direkt auf den Kern dessen, was seine Inszenierung ausmacht. Es gibt nur zwei Momente an diesem Abend, in denen klar ist, dass das Gesagte ernst gemeint ist: Stuckrad-Barres Erinnern an den verstorbenen Freund und Begründer des Literaturherbstes, Christoph Reisner, für den er als letztes eine Passage aus Panikherz liest, und seine Feststellung, dass Göttingen neben gewissen Hotels (ja, wirklich) der einzige Ort sei, der ihm ein Gefühl von Heimat gebe. Alle anderen Aussagen werden mindestens einmal ironisch gebrochen – nur an welchen Stellen die Brüche verlaufen, ist nicht immer ersichtlich. So lässt sich unmöglich sagen, welche Haltung gegenüber politischer Literatur Stuckrad-Barre nun einnimmt. Er lästert nicht nur über engagierte Künstler:innen, die, zugestanden, manchmal ihre Rolle übertreiben, sondern auch über Lyriker:innen, die das Weglassen von Großbuchstaben als politisches Statement verkaufen wollten (was zwar eine polemische Spitze ist, dessen ungeachtet aber nichts weiter tut, als unbeabsichtigter Weise Stuckrad-Barres Engstirnigkeit in diesen Belangen aufzudecken). Deutlich wird: Das Politische ist ihm eher ein Dorn im Auge.
Aber, aber, aber: Nun hat Stuckrad-Barre mit Noch wach? einen Roman geschrieben, der zweifellos als politisch zu charakterisieren ist, schließlich handelt er vom Aufkommen der MeToo-Bewegung und – so wird vermutet – den ans Licht gekommenen Vorwürfen sexueller Belästigung und Machtmissbrauchs bei der BILD. Angesichts dessen wirken seine Aussagen zu politischer Literatur seltsam fehlplatziert, scheint politische Literatur unter bestimmten Umständen doch auch okay zu sein. Die insgesamt vier Erzählpassagen, die der Schriftsteller an diesem Abend aus Noch wach? vorliest, ergeben eine Art Schnelldurchlauf durch ca. die erste Hälfte des Buchs: Man lernt das besagte ›Medienhaus‹, von dem natürlich niemand weiß, was damit gemeint ist (haha), und den inhaltsleeren, neoliberalen Business-Sprech der dortigen Angestellten kennen, dann die Figur Sophia, welche die Übergriffe des Chefs zunächst verteidigt, in der letzten gelesenen Passage aber davon erzählt, in was für einem »absolut verfickten Albtraum« sie sich befinde und dass sie »jetzt übrigens doch auch Feministin« sei.
Wenn der Text politischer ist als der Autor
Es wäre unangemessen, Stuckrad-Barre zu unterstellen, er hätte diese historischen Ereignisse nur deswegen zum Stoff seines Romans gemacht, weil er um die Sprengkraft wusste und kühl seinen ökonomischen Erfolg vorausberechnet hat. Stattdessen muss – auch mit Blick auf die Gerüchte, denen zufolge er am Auffliegen des Ex-BILD-Chefs beteiligt war – davon ausgegangen werden, dass er sich diesem Stoff gewidmet hat, weil er ihn umtrieb. Stuckrad-Barre hat einen politischen Roman geschrieben, scheint sich aber der damit einhergehenden Verantwortung entziehen zu wollen, weil er eigentlich überhaupt kein politischer Autor sein möchte – seine nicht begründete, sondern stumpf prinzipiengeleitet wirkende Ablehnung des allzu Politischen hält ihn davon ab.
Was das für eine Lesung bedeutet, wenn der Text politischer ist als der Autor, zeigt dieser Abend: Obwohl das Buch um den zentralen Konflikt in Form des von der Figur Sophia sogenannten »Fummel-Opis« kreist, vermeidet Stuckrad-Barre tunlichst, tatsächlich auch darüber zu reden. Er spricht über ein Interview, das er für 3sat gegeben habe, die »Nazi-Villen von den Verbindungsschweinen« oder seine Bestseller-Platzierung und beschwert sich über Göttinger Eisläden, in denen nie mehr als eine Person arbeite und deswegen die Schlangen so lang seien – kurzum: Stuckrad-Barre spricht über Stuckrad-Barre und über Göttingen, aber nicht über MeToo, nicht über Feminismus, nicht über Frauenkämpfe, die damit eine völlig marginale Rolle spielen. (Wäre er jedoch die einzig beteiligte Person auf der Bühne geblieben und hätte über diese Dinge gesprochen, hätte es das wahrscheinlich auch nur bedingt besser gemacht.)
Mit irgendwas muss man sich ja profilieren
Dabei böte sich gerade eine so kontroverse Veröffentlichung wie Noch wach? dafür an, auf der Bühne mit ein oder zwei Gesprächspartner:innen (Betonung auf ›:innen‹) in den Austausch zu gehen und die verschiedenen Streitfragen und Positionen dazu mal gründlich auszuloten: Stimmt es, dass es nicht an Stuckrad-Barre ist, solch einen Stoff literarisch zu verarbeiten? Ist es nicht grundsätzlich gut, wenn auch Männer sich mit feministischen Themen auseinandersetzen – und wenn ja, was ist dann bei Noch wach? schiefgelaufen? Hier verschenkt der sonst so streitlustige Stuckrad-Barre das diskursive Potential, das seinem Roman innewohnt, indem er die Lesungen zu einem Buch, das für ihn völlig ungewohnt ist, veranstaltet, wie er es gewohnt ist: als Solo-Performance, bei der er zu jedem Zeitpunkt die Kontrolle darüber behält, über was gesprochen wird und wie darüber gesprochen wird.
Gerne saugt das Publikum auf, was der brillant performende Stuckrad-Barre sagt, weil sich keine anderen Perspektiven außerhalb der seinen auftun. Auf diese Weise kann er zum Schluss völlig unwidersprochen gegen den gesamten deutschsprachigen Literaturbetrieb schießen, der zugegebenermaßen einige Probleme hat und bisweilen ganz schön stock-im-arschig ist, und sich als Außenseiter aufspielen, der »keine Preise, keine Stipendien« bekomme und das »auch gut so« finde. De facto ist er selbstverständlich alles andere als ein Außenseiter im literarischen Feld, aber ihn mit Bourdieus Theorie zu behelligen, mit der sich der Sachverhalt wunderbar darstellen ließe, ist bei Stuckrad-Barre und seiner (teils sicher berechtigten) Aversion gegen Akademie und Wissenschaft wohl vergebene Liebesmüh. Aber ey, mit irgendwas muss man sich ja profilieren.
Dennoch: Gerade ein Scheibchen geisteswissenschaftlicher Fachkultur, in welcher der mündliche Dialog und Diskurs als ausgesprochen wichtig gelten, um Wissen zu generieren und zu vermitteln, hätte Stuckrad-Barres Lesung gutgetan. So schließt er – zum einzigen Mal auf die Kontroverse rund um das Buch anspielend – mit der Bemerkung, dass es in solch einer »anstrengend-nervösen Zeit« schön sei, auch solche Lesungen wie diejenige in Göttingen zu geben. Wer sich aber ernsthaft mit Themen wie MeToo auseinandersetzen möchte, der muss bereit sein für die schwierigen Diskussionen, die sich unweigerlich entspinnen, und auch für die damit einhergehende Anstrengung und Nervosität (wohlgemerkt aber nicht für unsachliche, auf die Person zielende Kritik). Wenn Stuckrad-Barre seine Unlust dazu so offensiv zur Schau stellt, dann darf er sich nicht wundern, wenn man ihm vorwirft, die Sache nicht zu Ende gedacht oder unlautere Motive zu haben. Ist das denn wirklich alles, was dem Publikum am Ende des Abends im Gedächtnis bleiben soll: ›Der Stucki kommt aus Göttingen und der ist echt n lustiger Typ‹?