Der politische Herbst II

Gesellschaftliche Fragen spielen in der Literatur seit jeher eine große Rolle – tun sie das also auch beim diesjährigen Literaturherbst? Drei Lesungen in Göttingen führen vor, wie Politik auf einem Literaturfestival stattfinden kann.

Von Steffen Bach

Bild: Von MabelAmber via Pixabay, Pixabay Licence

Ob Politik und Literatur zusammengehören wurde und wird immer wieder diskutiert – für die Organisator*innen des 28. Göttinger Literaturherbstes steht offenbar fest, dass sie es tun. Unter den 80 Veranstaltungen des Festivals finden sich jedenfalls etliche mit mehr oder weniger entschieden politischem Inhalt. Nur, wie wird Politisches auf einem Literaturfestival verhandelt, in welchem Rahmen und in welcher Form darüber gesprochen? Um sich einer Antwort anzunähern, bieten sich drei Veranstaltungen des diesjährigen Literaturherbstes besonders gut an.

Am Montag, den 21. Oktober diskutieren Luisa Neubauer, Thea Dorn, Mareike Nieberding und Wolfgang Gründinger in der Lokhalle über die Fridays-for-Future-Demonstrationen und den Stellenwert von Protest und Engagement. Am Mittwoch, den 23. Oktober sprechen in der musa Hengameh Yaghoobifarah und Max Czollek über Rassismus in der deutschen Gesellschaft. Und am Freitag, 25. Oktober, lädt die Stadt Göttingen zusammen mit dem Literaturherbst ins Alte Rathaus, um die diesjährigen Preisträger des deutsch-polnischen Samuel-Bogumił-Linde-Preises vorzustellen. Jeweils klingt Politik an, sollen gesellschaftsrelevante Themen verhandelt werden. Wie das genau geschieht, bleibt abzuwarten.

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Reihe

Vom 18.-28. Oktober fand der 28. Göttinger Literaturherbst statt. Als Nachklapp veröffentlicht Litlog ab jetzt bis 15. November jeden Werktag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms.
Hier findet ihr die Berichte im Überblick.  

Emotionen, Proteste und Fridays-For-Future in der Lokhalle

Der Saal in der Lokhalle ist etwa halbvoll am Montagabend, das Publikum ist im Grundschul- bis Ruhestandsalter, viele tragen bunte Anoraks und haben rote Gesichter von der kalten Herbstluft. Die Fahrradständer vor der Lokhalle sind voll. Wirklich massenhaft wirkt der Andrang der Zuschauer*innen trotz großer Namen auf der Bühne nicht, aber die Ausmaße der Halle lassen die Anzahl vielleicht auch kleiner erscheinen, als sie ist.

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Luisa Neubauer, Alexander Repenning
Vom Ende der Klimakrise. Eine Geschichte unserer Zukunft

Tropen: Stuttgart 2019
304 Seiten, 18,00€

Nicht gerade wenige Gäste sitzen also auf der Bühne, und so leitet auch Gesa Husemann vom Literaturherbst mit der Bemerkung ein, der Spruch »Wir sind viele, wir sind laut« träfe heute Abend in jedem Fall auf das Podium zu. Vier unterschiedliche Charaktere mit dezidierten Meinungen treffen aufeinander, das Publikum ist gespannt auf Synergien und kontroverse Diskussion. Und es fängt gut an. Aguigah leitet mit der Frage ein, warum gerade jetzt so viele junge Menschen auf die Straße gehen, um für Klimaschutz zu kämpfen. Mareike Nieberding mutmaßt, dass es immer schon Zeit war, sich einzumischen, jede Generation aber wieder neu Gründe dafür finden müsse, es auch tatsächlich zu tun. Thea Dorn attestiert ihren Altersgenoss*innen der um 1970 geborenen eine große »Bräsigkeit« und begrüßt das Aufstehen der Jugend. Und Wolfgang Gründinger muss empört zurückfragen warum nicht gerade jetzt junge Menschen protestierten sollten, verliert sich dabei aber ein wenig in einem Monolog, der um aktuelle politische und ökologische Krisen weltweit kreist.

Viele Fragen, aber wenig Dissens

Alle vier Teilnehmer*innen haben ohne Zweifel viel zu sagen zu dieser und den folgenden Fragen, und Aguigah versteht es, die eher redefreudigen Thea Dorn sowie Wolfgang Gründinger im Zaum zu halten sowie die zurückhaltendere Mareike Nieberding zu aktivieren. Gleichzeitig tritt aber schon in dieser ersten Frage-Antwort-Runde zutage, was den ganzen Abend prägen wird. Die vier Diskutant*innen umfassen zwar zwischen Luisa Neubauer, geboren 1996, und Thea Dorn, geboren wie gesagt 1970, keine geringe Altersspanne. Ansonsten kommen die Aktivistin, die Schriftstellerin, die Journalistin und der Politikwissenschaftler und Berater aber augenscheinlich alle aus einem ähnlichen Milieu. Und das macht einen richtigen Dissens bei Fragen zu Klima und Generationengerechtigkeit an diesem Abend in der Lokhalle schwer auffindbar.

René Aguigah, Luisa Naubauer, Thea Dorn, Mareike Nieberding und Wolfgang Gründinger (©Literaturherbst, Fotograf: Dietrich Kühne)


Zwar sind die Fragen, die der Moderator und später das Publikum stellen allesamt spannend – etwa welche Rolle Gefühle bei einer Protestbewegung haben oder haben dürfen (Konsens: Gefühle sind wichtig, aber eine sachliche Agenda ebenso), oder ob bessere Bildung die Menschen zu mehr Klimaschutz bewegen könnte (Luisa Neubauer stimmt eher zu, Wolfgang Gründinger ist skeptisch, denn viele wüssten zwar vieles, würden aber dennoch nicht handeln). Da aber keine*r der Teilnehmer*innen aus einem Beruf kommt, bei dem konkrete Einschränkungen durch den Klimaschutz zu befürchten sind, wie etwa bei Landwirt*innen, und da keine*r politische Verantwortung innehat, bleiben die Diskussionen oft im theoretischen Bereich stecken. Zusätzlich führt der Grundkonsens, dass Klimaschutz wichtig ist und die Jugend ernst zu nehmen, paradoxerweise nicht zu großer Einigkeit. Stattdessen sorgt diese argumentative Nähe vor allem zwischen den nicht gerade schüchternen Podiumsgästen, Thea Dorn und Wolfgang Gründinger, zu wenig zielführenden Wortgefechten über Details und Kleinigkeiten.

Mitunter hat es den Anschein, als stünde das Ego dieser beiden Diskutant*innen eher im Vordergrund als die politischen Fragen, und Diskussionen entzünden sich an Details, nur um über irgendetwas uneins sein zu können. Die Vielschichtigkeit und Komplexität der globalen Herausforderung Klimaschutz bleibt dabei mitunter im Hintergrund. Dementsprechend ermüdend wirken diese Kabbeleien. So endet der Abend nach zwar durchaus kurzweiligen anderthalb Stunden doch mit dem schalen Gefühl, nicht wirklich viel Neues erfahren zu haben. Aus keinem der allesamt interessant klingenden Bücher wurde gelesen, aber dafür hätte die Zeit wohl auch einfach nicht gereicht.

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Mareike Nieberding
Verwende deine Jugend. Ein politischer Aufruf

Klett-Cotta: Stuttgart 2019
108 Seiten, 12,00€

Heimat, Zugehörigkeit und »Annika«-Bashing in der musa

Nach diesem ersten, etwas frustrierenden Abend, beginnt die Lesung am Mittwoch wenig erwartungsfroh. Hengameh Yaghoobifarah, Journalist*in bei der taz sowie dem Missy Magazine, stellt den zusammen mit der Journalistin und Schriftstellerin Fatma Aydemir herausgegebenen Essayband Eure Heimat ist unser Albtraum in der musa vor. Mit dabei sind der Schriftsteller und Politikwissenschaftler Max Czollek, der einen der Essays im Band geschrieben hat, sowie Moderator Joachim Baur, Historiker aus Berlin, und Zeliha Karaboya vom kooperierenden Göttinger Migrationszentrum. Der Saal in der musa ist bis auf den letzten Platz besetzt, das Publikum scheint größtenteils aus Studierenden zu bestehen, aber auch Menschen jenseits der 40 haben sich zahlreich eingefunden. Yaghoobifarah, die*der in Berlin lebt, hat in der Vergangenheit vor allem mit der mitunter polemischen Kolumne Habibitus in der taz für Aufsehen und einige Shitstorms rechter Internetuser gesorgt. Ebenso wurde einer ihrer*seiner Artikel aus der Spex im Jahr 2016 online breit diskutiert, in dem sie*er Besucher*innen des Fusion Festivals kulturelle Aneignung vorwarf. Der Abend verspricht also, lebhaft zu werden.

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Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah (Hg.)
Eure Heimat ist unser Albtraum

Ullstein: Berlin 2019
208 Seiten, 20,00€

Nach einer Begrüßung durch Hanna Hovtvian vom Literaturherbst startet Joachim Baur das Gespräch und fragt Hengameh Yaghoobifarah direkt, warum sie*er zusammen mit Aydemir auf die Idee gekommen sei, einen Essayband zum Heimatbegriff zusammenzustellen. Yaghoobifarah weist auf das Wiederaufkommen des Begriffs im politischen Raum vor allem durch die AfD, aber auch durch alle anderen Parteien von CSU bis zu den Grünen hin. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung sei die Benennung des Innenressorts der Bundesregierung durch Horst Seehofer in »Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat« gewesen. Weil also das Ministerium, das die innere Sicherheit des ganzen Landes gewährleisten soll, diese mit dem Begriff der Heimat verbindet, wollten Yaghoobifarah und Aydemir auch ihre Sicht und die anderer migrantischer bzw. marginalisierter Menschen in die Öffentlichkeit bringen. Gerade um das Formulieren einer Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit in Verbindung mit der Herkunft gehe es dabei.

Angestarrt werden in der Öffentlichkeit

Nachdem die Motivation für das Erscheinen des Bandes geklärt ist, geht es schon direkt ins Buch, Hengameh Yaghoobifarah liest ihren*seinen Essay aus Eure Heimat ist unser Albtraum, der den Titel »Blicke« trägt. Ganz diesem Titel gemäß geht es darin um Blicke, um das Anstarren, welches sie*er als nicht-binäre, migrantische Person mit ausgefallenem Kleidungsstil in der Öffentlichkeit erfährt. Auch geht es um Fremdzuschreibungen, wenn ihr*ihm etwa abgesprochen wird, rassistische Erfahrungen gemacht zu haben, weil sie*er doch gar keine genügend dunkle Hautfarbe habe, um Opfer von Rassismus werden zu können. Diese Erfahrungen und die durch sie ausgelösten Gefühle stellt Yaghoobifarah in allgemeine Zusammenhänge und erläutert so für das größtenteils weiße Publikum nachvollziehbar, was abweichendes Aussehen auch im Deutschland des 21. Jahrhunderts noch immer bedeutet.

Das tut sie*er mit ruhiger Stimme und unaufgeregtem Ton, was die Wirkung ihrer*seiner Worte noch verstärkt. Zwar polemisiert Yaghoobifarah auch in diesem Essay gegen weiße Frauen, die sie*ihn anstarren und die pauschal als »Annika« bezeichnet werden. Auf Nachfrage des Moderators erläutert sie*er dann aber ausführlich, dass sie*er damit vor allen Dingen gegen weiße Feministinnen zielt, die ihrer*seiner Erfahrung nach nicht-weißen Frauen* zu oft nicht gegen Rassismus von weißen Männern beistehen. Die Provokation gehört in jedem Fall zu Hengameh Yaghoobifarahs bevorzugten Redestrategien, die (nachträgliche) sachliche Erörterung und Erklärung liegt ihr*ihm aber augenscheinlich mindestens ebenso gut.

Max Czollek, Hengameh Yaghoobifarah, Joachim Baur und Zeliha Karaboya (©Literaturherbst, Fotograf: Theodoro da Silva)

Überhaupt ist der ganze Abend geprägt von einem ernsten, aber ruhigen Tonfall, der vor allem nach dem Hin und Her vom Montag trotz aller Härte der besprochenen Themen angenehm ist. Man hat das Gefühl, neue Sichtweisen lernen und reich an Gedankenanstößen die Veranstaltung verlassen zu können. Bevor es wieder Zeit zum Aufbruch ist, liest allerdings auch Max Czollek seinen Essay mit dem Titel »Gegenwartsbewältigung«. Der Enkel des Widerstandskämpfers gegen das NS-Regime Walter Czollek schreibt darin über seine Erfahrungen als Jude in Deutschland und die schwierige Balance zwischen selbstbewusstem Jüdischsein einerseits und dem Widerstand dagegen, zum Vorzeigejuden einer angeblich weltoffenen Bundesrepublik gemacht zu werden andererseits.

Auch in diesem Text, der sich im Weiteren gegen das von Czollek ausgemachte Integrationsparadigma wendet, das Migrant*innen die Einordnung in die deutsche Gesellschaft abverlangt, werden rassistische und antisemitische Zustände in der BRD des 21. Jahrhunderts schonungslos beschrieben. Im Gegensatz zu Yaghoobifarah wählt Max Czollek dabei keine humorvoll-abgründige Sprechweise, sondern bleibt wissenschaftlich-nüchtern. Beide Ansätze lassen aber die Dringlichkeit deutlich werden, mit der sich Angehörigen marginalisierter Gruppen gegen den im Kern völkischen Heimatbegriff im politischen Diskurs zur Wehr setzen müssen. Deutschland ist eben nicht so friedlich und pluralistisch, wie es die weiße, nicht-jüdische Mehrheitsbevölkerung gerne glauben will.

Geerdete Atmosphäre und Austausch mit Leser*innen

Positiv fällt an diesem Abend in der musa auf, dass weder Yaghoobifarah noch Czollek je abgehoben oder verkopft wirken. Und das, obwohl man Max Czollek die wissenschaftliche Arbeit in seiner akademischen Sprache anmerkt und Hengameh Yaghoobifarah stark auf Begrifflichkeiten aus der Gender-Theorie zurückgreift, die den*die wenig bewanderte Leser*in erst einmal verwirren. Diese geerdete Atmosphäre entsteht sicher auch durch das Gespräch mit Zeliha Karaboya vom Göttinger Migrationszentrum, das Moderator Joachim Baur nach Czolleks Lesung einleitet. Sie erzählt zunächst von ihrer Geschichte als Kind kurdischer Einwanderer. Direkt in ihren ersten Sätzen beschreibt Karaboya aber auch ihre Skepsis angesichts des Buchtitels und sagt, sie habe zuerst kein Buch lesen wollen, das ihr ihre zweite Heimat Deutschland zum Albtraum erklären will. Nach der Lektüre sei sie aber anderer Meinung und sehe in den Essays eher ein Plädoyer für eine pluralistische Gesellschaft. Auch berichtet sie von ihren Klient*innen im Migrationszentrum, die zwischen Deutschland und Kurdistan oder dem Irak leben und in beiden Orten ihre Heimat sehen.

Hengameh Yaghoobifarah hört ihr aufmerksam zu, ebenso Czollek, und beide pflichten ihr bei, dass das Buch nicht als Manifest gemeint ist, das Migrant*innen absprechen will, sich in Deutschland zu Hause zu fühlen. Stattdessen sei die »Heimat« als politische Vokabel gemeint und nicht als persönlich-emotionale. Auf dem Buchcover sind deshalb die Worte »eure« und »unser« Ton in Ton geprägt – nicht die persönliche Abneigung gegen den Begriff der Heimat sollte im Vordergrund stehen. Stattdessen richtet sich das Buch, so lassen sich Yaghoobifarahs und Czolleks Ausführungen zusammenfassen, gegen Heimat als politisches Modell von Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft.

Grußworte, Anekdoten und deutsch-polnisches Desinteresse im Alten Rathaus

Nach diesem eindrücklichen Abend steigt die Vorfreude auf den Freitag. Immerhin werden auch da nur zwei Leser auf der Bühne stehen bzw. sitzen, das volle Podium vom Montag war vielleicht doch zu viel des Guten. Schon 20 Minuten vor Beginn der Lesung reihen sich die Besucher*innen vor dem Alten Rathaus, kräftig beschallt durch Studierende, die beim Gänseliesel den Abschluss ihrer Promotion feiern. Wegen der Geräuschkulisse beginnt die Lesung dann auch mit einer Viertelstunde Verspätung, wie Literaturherbst-Geschäftsführer Johannes-Peter Herberhold verkündet. Genug Zeit, sich das vollbesetzte Rathaus und die Gäste anzuschauen. Waren am Mittwoch noch eher asymmetrische Frisuren und Outdoor-Jacken im Trend, sind es heute Jackett und Seidenhalstuch. Vor allem das gehobene Göttinger Bürgertum ist an diesem Abend in die Innenstadt gekommen, um sich der Kultur zu widmen. Eine gewisse Steifheit liegt dadurch schon vor Beginn der Lesung im Raum.

Und diese vergeht leider auch in den ersten 30 Minuten nicht, nachdem Herberhold endlich wieder die Bühne für seine Anmoderation betreten hat (und die Studierenden draußen immer noch nicht, wie angekündigt, weitergezogen sind). Zunächst begrüßt er das Publikum und dankt den Sponsoren, weist außerdem auf den besonderen Charakter des Abends hin. Anfang Juni wurden den Schriftstellern Christoph Hein und Szczepan Twardoch durch die Partnerstädte Göttingen und Toruń der Samuel-Bogumił-Linde-Literaturpreis verliehen. Mit diesem wird seit 1996 ein*e deutsche*r und ein*e polnische*r Autor*in ausgezeichnet, die sich um »Verständigung, Versöhnung und freundschaftliche Zuwendung zum jeweiligen Nachbarn« verdient gemacht haben. Ein durchaus politischer Preis also, betrachtet man die schwierige Geschichte der beiden Nachbarländer. Die Schriftsteller haben bereits in Toruń den Preis erhalten und gelesen und würden nun im Rahmen des Literaturherbstes in Göttingen ihre Neuerscheinungen präsentieren.

Grußwort, Einleitung, Redebeitrag

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Christoph Hein
Gegenlauschangriff. Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege

Suhrkamp: Berlin 2019
122 Seiten, 14,00€

Diese Vorrede Herberholds erklärt womöglich das zu Ehren der Preisträger schick angezogene Publikum, in jedem Fall erklärt es die Gestaltung der ersten halben Stunde des Abends. Auf das Grußwort des Gastgebers folgen nämlich eine Einleitung durch die Moderatorin Katrin Seibold, Journalistin bei der 3sat Kulturzeit, Redebeiträge von einem Vertreter des Auswärtigen Amtes, das den Preis fördert, sowie der Kulturdezernentin der Stadt Göttingen, Petra Broistedt. Viel hört man von der Bedeutung der deutsch-polnischen Freundschaft und der Kultur für die Völkerverständigung. Leider bleibt von den angesetzten 90 Minuten immer weniger für diese deutsch-polnische Verständigung übrig, je länger die Lobreden auf sie dauern.

Aber endlich ist es so weit, Katrin Seibold leitet zum inhaltlichen Teil des Abends über. Szczepan Twardoch liest aus seinem jüngsten Buch Wale und Nachtfalter, das melancholisch-sinnierende Prosa enthält. Der Untertitel weist die Neuerscheinung als »Tagebuch« aus. Autobiographisches liest Twardoch also, über Diskussionen mit seiner Schwester und dem Großvater über die Komplexität der modernen Welt oder Gespräche mit dem eigenen Sohn über den Tod. Der Autor liest polnisch, für die deutschen Passagen übernimmt sein Übersetzer Olaf Kühl.

Christoph Hein, Katrin Seibold und Sczcepan Twardoch (©Literaturherbst, Fotograf: Theodoro da Silva)

Direkt anschließend leitet Seibold über zu Christoph Hein. Dieser hat bis jetzt eine Dreiviertelstunde nur schweigend auf dem Podium gesessen, kommt nun aber zu Wort und präsentiert seine neuste Publikation, den ebenfalls autobiografischen Band Gegenlauschangriff. Dieser versammelt laut Untertitel Anekdoten aus dem »letzten deutsch-deutschen Kriege«, also der 45-jährigen deutschen Teilung. Ohne viel Einleitung liest Hein einige dieser pointierten Geschichten vor, in beschwingt-lockerem Ton, das Publikum lacht häufig. In starkem Kontrast steht dieser Tonfall zu Twardochs melancholischer Prosa, und der polnische Autor, der Deutsch versteht, lacht als einer der wenigsten nicht. Christoph Hein liest von ostdeutschen Schauspielerinnen auf Gastspiel in Düsseldorf, die unbedingt für einen Tag Paris sehen wollen und sich dafür über die verbotene Staatsgrenze nach Westen schmuggeln lassen und die danach wieder brav zum Gastspiel zurückkehren. Auch Kürzesttexte sind dabei, so der von einer adligen Münchner Cafébesucherin, die sich vom montagsdemonstrierenden ostdeutschen Volk, das im Fernseher übertragen wird, offenbar persönlich beleidigt fühlt. Nachdem einige Male die Parole »Wir sind das Volk« zu hören ist, giftet die Münchnerin in Richtung des Fernsehapparates verächtlich: »Und das sollt ihr auch bleiben!«

Deutsche Heiterkeit und polnische Melancholie

Hein versammelt kleine und größere deutsch-deutsche Beobachtungen aus viereinhalb Jahrzehnten und lässt auf humorvolle Art die grausame Realität der europäischen Teilung wiederauferstehen. Gern hört man ihm beim Vorlesen zu, auch wenn die Darstellung der eigenen Rolle als DDR-Dissident und kritischer Dichter manchmal etwas arg herausgestellt wird. Schade ist bei der Lesung nur, dass sich so gar keine Verbindung zum eben Gehörten von Twardoch einstellen will. Der Samuel-Bogumił-Linde-Preis soll zwar nicht explizit an künstlerisch verwandte Schriftsteller*innen vergeben werden. An diesem Abend lesen der polnische und der deutsche Autor aber auffallend aneinander vorbei, kommen der nachdenkliche Ton Szczepan Twardochs und der jovial-heitere Heins so gar nicht miteinander ins Gespräch.

Und auch das redliche Bemühen Katrin Seibolds, beide auf die gemeinsame Geburtsregion, Schlesien, anzusprechen, versandet in zwei Monologen. Für viel mehr Austausch ist dann auch kein Raum mehr und die nächste Lesung im Alten Rathaus folgt auf dem Fuße. Überziehen ist also keine Option. Am Ende antwortet Hein auf die Frage, was ihm Hoffnung gebe, seine Kinder, Twardoch sagt, er brauche keine Hoffnung, er brauche nur Ruhe. Dafür erntet dann auch er einige Lacher. Obwohl die deutsch-polnische Freundschaft also auch durch die Literatur gepflegt werden sollte, war die heutige Veranstaltung eher ein Beispiel für freundliches gegenseitiges Desinteresse. Politisch wurde es somit so gut wie gar nicht, wobei freundliches Desinteresse ja auch zwischen politischen Akteuren manchmal wünschenswert wäre. Vielleicht kann das die Lehre des Abends sein.

Wie findet Politik beim Literaturherbst statt?

Drei sehr unterschiedliche Veranstaltungen des 28. Göttinger Literaturherbstes finden damit ihren Abschluss. Alle waren mehr oder weniger politisch – oder hatten zumindest den Anspruch, das zu sein. Dass ein Literaturfestival politisch sein kann, daran besteht spätestens nach dieser Woche kein Zweifel mehr. Etwas schmerzt es, dass von 80 Lesungen nur drei für diese nicht-repräsentative Betrachtung ausgewählt werden konnten, aber glücklicherweise folgt der nächste Herbst ja mit großer Sicherheit. Mit ebenso großer Sicherheit war am intensivsten in dieser Reihe der Abend, der am wenigsten vorhatte. Keine volle Bühne, keine Preisverleihung, aber dafür viel Zeit für die Erfahrungen und Texte zweier Schreibender am Mittwoch in der musa. Und dazu noch Raum für das Gespräch zwischen den Literaturschaffenden Yaghoobifarah und Czollek sowie den Leser*innen ihrer Texte (oder zumindest einer Leserin).

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Szczepan Twardoch
Wale und Nachtfalter. Tagebuch vom Leben und Reisen

Rowohlt: Berlin 2019
256 Seiten, 24,00€

Eine entscheidende Rolle spielt also offenbar die Zeit. In der engen Taktung, die die dutzenden Veranstaltungen in nur elf Tagen überhaupt möglich macht, geht das Nachdenken über tiefgreifende Fragen und komplexe Themen schnell verloren. Wenn sich der Abend aber wie am Mittwoch auf ein Buch beschränkt, auf wenige Diskutant*innen, die womöglich noch aus ganz verschiedenen Lebensbereichen kommen, kann eine intensive Beschäftigung mit drängenden Themen in Gang gesetzt werden. Dann ist das Festival für die Besucher*innen nicht nur künstlerisch, sondern auch gesellschaftlich eine Bereicherung.

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