Namedropping und Anekdoten; so gewinnt Denis Scheck sein Publikum für sich, bevor er mit der Vermittlung von Literatur beginnt, die seines Erachtens wertvoll ist. Dazu gehört der neue Buchpreis-gekürte Roman Archipel von Inger-Maria Mahlke. Ein Bericht von zwei Veranstaltungen
Von Lena Karger
Bild: Herbstblätter von bluemorphos via pixabay CC0
Denis Scheck – Der neue Literaturpapst
Denis Scheck wirkt nicht so, als könne er jemandem gefährlich werden. In seinen pinken Socken mit den blauen Streifen, der runden Brille und seiner freundlich schwäbelnden Stimme sitzt eher der Typ »netter Onkel« am 21. Oktober auf den Brettern des Deutschen Theaters in Göttingen. Dabei gibt es für Autorinnen und Autoren in Deutschland gute Gründe, sein Urteil zu fürchten. In seiner Literatursendung Druckfrisch lobt und verreißt er regelmäßig Neuerscheinungen für die ARD und in den Publikumsreihen raunt es von dem »Literaturpapst neben Reich-Ranicki«. Als er loslegt wird schnell klar: Der deutsche Literaturbetrieb schätzt sich glücklich, Leute wie Denis Scheck zu haben, die ab und an den Staub vom Buchmarkt pusten.
Klatsch und Tratsch
Der Literaturkritiker sitzt hinter einer dichten Reihe von Büchern, von denen im Verlauf des Abends einige auf dem Boden landen werden. Er beginnt sein Programm mit zwei Anekdoten. Zuerst erzählt er, wie ihm in einer Hotellobby einmal von hinten eine Stimme ins Ohr raunte: »Scheck, Bücher und Warzen haben eins gemeinsam: Beide werden besprochen.« Das war Hans Magnus Enzensberger, scheinbar auch privat ein Querulant. Die nächste Anekdote handelt von Oliver Kahn, dessen Satz aus seiner Biografie Nummer Eins: »Die Trennung meiner Frau hatte nichts mit ihrer Person zu tun« bei keinem von Schecks Auftritten fehlen darf. Als der Fußballtitan und der Literaturkritiker sich dann einmal in einer anderen Hotelhalle begegneten und letzterer schon dachte, ihm drohe Prügel, entschuldigte sich der Torwart, dass ihm so ein Satz in sein Buch rutschen konnte.
Der ehemalige Übersetzer und Literaturagent versteht es, die Aufmerksamkeit seines Publikums zu erregen und zu halten. Nach diesem kleinen Namedropping und den Privat-Anekdoten ist die Aufmerksamkeit des Publikums ganz bei ihm. Dass dieser Trick auch in der Literatur nichts Verwerfliches sein muss, erklärt er etwas später am Beispiel Philip Roth. Die beiden sind zeitweilig Freunde gewesen und der Schriftsteller verriet ihm, welches in den Medien verbreitete Missverständnis ihn am meisten störte: »Die Vorstellung, dass Romane ausschließlich aus biographischen Daten schöpfen.« Hierauf kontert Scheck jetzt in Göttingen, eben nichts Verwerfliches darin zu sehen, sich durch das Interesse an einer Privatperson zu einem Roman locken zu lassen. So sei der Roman Asymmetrie von Roths ehemaliger Geliebten Lisa Halliday nicht nur durch ihre private Beziehung zu Roth interessant, sondern führe weiter in die politische Gegenwart der USA und ihre Verstrickungen. Auch die Abrechnung Leaving a Doll’s House von Roths Exfrau sowie dessen Revanche hierauf Mein Mann, der Kommunist stehen auf Schecks »lesen«-Seite.
Info
Vom 12.-21. Oktober fand der 27. Göttinger Literaturherbst statt. Als Nachklapp veröffentlicht Litlog in der Woche vom 22.-28. Oktober jeden Tag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms.
Hier findet ihr die Berichte im Überblick.
Literatur für Eilige
Überhaupt ist der Abend ein Plädoyer für das Lesen. Wer keine Zeit hat, solle es laut Scheck doch einfach mit Lyrik probieren. Für ihn selbst erweitere Lyrik die Sicht auf die Welt: »Wir brauchen Lyrik, um nicht den Verstand zu verlieren.« Es sind Sätze wie diese, die den Abend über immer wieder fallen und die man sich am liebsten alle aufschreiben möchte. Scheck formuliert elegant und treffsicher und beweist die Liebe zur Sprache eines ehemaligen Übersetzers. Weiter spricht er sich für Eskapismus aus, findet Babylon Berlin gar nicht so toll und plädiert dafür, wieder mehr illustrierte Bücher zu lesen. Zum Beispiel Heimat von Nora Krug, die die Vergangenheit ihrer Familie in Nazi-Deutschland beschreibt und bebildert.
»Wenn Sie den Spiegel-Bestseller-Sticker sehen, laufen Sie!«
Donald Trump, Susanne Fröhlich und Oliver Kahn – sie alle haben eins gemeinsam: Die Spiegel-Bestsellerliste. Laut Scheck ist es einer der größten Irrtümer der Literaturwelt, bei Buchkäufen Masse mit Qualität zu verwechseln. Dass nicht immer alles, was sich gut verkauft, auch gut ist, beweist Scheck mit Zitaten wie dem eingangs genannten von Oliver Kahn. Genauso wenig wären die deutschen Literaturpreise ein unbedingtes Qualitätssiegel, von denen in Deutschland – so Scheck – rund 700 pro Jahr verliehen werden! Anders sei es bei der Gewinnerin des diesjährigen Deutschen Buchpreises Inger-Maria Mahlke, deren Roman Archipel er als detailreich, sinnlich und lesenswert empfiehlt. Eine Kostprobe davon, wie lesenswert der Roman wirklich ist, lieferte die Gewinnerin ebenfalls im Rahmen des Literaturherbstes. Mahlke las am 13. Oktober im Alten Rathaus Göttingen.
Buchpreisträgerin Mahlke im Gespräch mit Stephan Lohr
Die Stimme der diesjährigen Buchpreisträgerin ist angeschlagen, als sie von Moderator Stephan Lohr begrüßt wird. Seit dem Entscheid der Jury am 07. Oktober wurde Inger-Maria Mahlke, wie sie selbst sagt, von einem Event zum nächsten gereicht. Nun liest sie im Göttinger Alten Rathaus aus ihrem Gewinner-Roman Archipel. Seit 2014 begrüßt der Göttinger Literaturherbst die*den deutsche*n Buchpreisträger*in zur Lesung und heute nimmt zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder eine Frau diesen Platz ein. Das Göttinger Publikum scheint mit der Entscheidung des Deutschen Börsenvereins einverstanden zu sein. Die Reihen sind voll besetzt und der Applaus ist lang, als die Autorin die Bühne betritt.
Auch Stephan Lohr ist mit der diesjährigen Preisträgerin sehr zufrieden, wie er sagt. Archipel habe für ihn erstmals den Begriff ›Schmöker‹ positiv besetzt. Nach einer kurzen Einführung kommt das Gespräch auf den Wechsel an der Spitze des Rowohlt-Verlags, den Mahlke sehr bedaure. Ihre Verlegerin Barbara Laugwitz wurde kürzlich von Florian Illies abgelöst, was bei renommierten Autoren wie Daniel Kehlmann und Jonathan Franzen auf Unverständnis stieß. Mahlke, die ihre Verlegerin bereits in ihrer Dankesrede beim Buchpreis erwähnte, lobt auch an diesem Abend das Feingefühl, mit dem diese es verstünde, sowohl publikumswirksame als auch schwierigere Texte zu veröffentlichen. An diesem Abend lässt sich nur erahnen, dass Archipel wohl eher zur letzteren Sorte gehört.
Worum geht’s in dem Roman?
In Archipel führt Mahlke rückwärts durch das letzte Jahrhundert der Insel Teneriffa und ihrer Bewohner. Es beginnt 2015 mit Rosa Bernadott, die in das zerrüttete Haus ihrer Großeltern zurückkehrt und springt dann von einer Generation zur vorherigen. Die Geschichte setzt sich somit aus einzelnen »Zeitblasen« zusammen, wie sie die Autorin nennt. Auf die Frage Stephan Lohrs, warum es ihr so wichtig sei, die rückwärts chronologische Erzählweise in Interviews zu betonen, antwortet die Autorin, in ihr stecke die Hauptidee des gesamten Werkes. Erinnerung und Zeit selbst sollten thematisiert werden. »Im Nachhinein machen wir Ereignisse immer kohärenter als sie eigentlich sind und verfälschen sie dadurch. Es ging mir darum, Vergänglichkeit deutlich zu machen«, sagt die Autorin.
Mit Vergänglichkeit und der Fragilität von Erinnerung wurde Mahlke auch in ihrem Privatleben konfrontiert. Ihre Großmutter erkrankte an Demenz und die Autorin zog zu ihr nach Teneriffa, um sie zu pflegen. In dieser Zeit und an dem Ort, wo sie bereits viele Sommer ihrer Kindheit verbracht hatte, entstand die Idee für den Roman. Die Autorin ist in Lübeck geboren, doch ihre Verwandtschaft mütterlicherseits stammt von der Insel. Die Liebe zu Teneriffa sei es dann auch gewesen, die sie so genau habe recherchieren lassen, so Mahlke. Sie wollte ihrem Stoff gerecht werden.
Was sie da recherchiert hat, ist zudem sehr interessant. Mahlke erzählt von den privatisierten Süßwasservorräten der Insel, an denen Anleger Aktienanteile erwerben können. Sie taucht in die lange Korruptionsgeschichte Teneriffas ein und in die Rolle der Insel für den Aufstieg General Francos. Mit vielen Themen des Buches dürfte sich die Autorin auf der Insel also nicht nur Freunde machen, denn eine Übersetzung von Archipel ins Spanische ist bereits im Gespräch.
Der Schreibprozess als Zeitblase
Die »Zeitblasen« ihrer Figurengenerationen passen zu dem von Mahlke beschriebenen Schreibprozess. Hier geht sie ähnlich versatzstückartig vor wie in ihrem Plot: »Ich lese erstmal, bis dann Sätze kommen, aus denen Szenen entstehen.« Aus einem einzelnen Gedanken puzzele sie sich langsam zu immer größeren Geschichten, beschreibt die Autorin. Eines ihrer Rituale ist es, sich für jeden neuen Roman einen Block in einem 99 Cent-Laden zu kaufen. Dann sucht sie sich passendes Papier, in das sie den Block einschlägt. Als Umschlag für Archipel diente ihr die Tüte aus einem Tourismusshop auf Teneriffa.
Alles in Inselgruppen
Inger-Maria Mahlke
Archipel
Rowohlt: Reinbek 2018
432 Seiten, 20,00 €
Das Ergebnis ihrer Blocknotizen trägt Mahlke einem Poetry Slam ähnlich vor. Die Betonungen der Worte folgen einem Rhythmus, zu dem die Finger ihrer rechten Hand im Takt nach vorne schnellen. Vor jedem Absatz schnappt die Autorin kurz nach Luft und ihr Kopf wiegt sich in den Worten, als wolle er sich an sie schmiegen. Auch ihre Beschreibungen malen in den Köpfen der ZuhörerInnen sinnliche Bilder. Mahlke zeichnet über mehrere Sätze die Bahn eines am Körper herabrinnenden Wassertropfens nach und dann eilige Schritte, die »rechts, links, rechts, links« über Kopfsteinpflaster huschen. Die Genauigkeit der Beschreibungen solle den Leserinnen und Lesern Halt in ihrer komplexen Geschichte geben, wie die Autorin zu Beginn der Veranstaltung bemerkte.
Die viel gelobten detailreichen Schilderungen des Romans kommen also auch an diesem Abend zum Tragen. Den gewünschten Effekt, den sich die Autorin von ihrer detaillierten Schreibweise verspricht, also den der Orientierung in einer sehr komplexen Geschichte, erfüllt sie jedoch nicht ganz. Natürlich lässt sich ein Roman nicht aus den einzelnen Leseproben eines Abends erschließen. Doch Mahlke zoomt in den einzelnen Stellen so sehr in den Moment hinein, dass der Plot ungreifbarer erscheint als zu Beginn der Veranstaltung. Es wird deutlich, dass die Autorin beim Schreiben versuchte, den Augenblick einzufangen. In diesem verliert sie sich bei ihrer Lesung jedoch ein wenig, so dass es als Zuhörerin schwer fällt zu folgen. Wer kann, sollte den Roman also lieber ganz lesen, bevor er oder sie zu einer Lesung geht. Davon wird Inger-Maria Mahlke in nächster Zeit nämlich noch einige halten.