Der Kissenmann – in China!

Die Produktion von Martin McDonaghs Der Kissenmann im ThOP ist vorüber. Das Stück gibt den Menschen mehr Fragen und Gefühle auf den Weg, als sie überhaupt tragen können. Ein rührendes wie verstörendes Schauspiel über den Tod, über Gewalt und Leid.

Von Frederik Eicks

Bild: by Ulf Janitschke via ThOP, CC-BY-ND, cropped

Man kann als Zuschauer*in mit den preisgekrönten, aber auch von schwärzestem Humor und Gewaltexzessen geprägten Werken Martin McDonaghs, wie zum Beispiel Brügge sehen… und sterben? (Original: In Bruges, 2008), vertraut sein und sich deshalb auf etwas Ähnliches einstellen; man kann sich sogar von Menschen, welche das Stück bereits gesehen haben, vorwarnen lassen: Das sei schon ziemlich heftig. Und dennoch wird man von der Wucht, mit der das im ThOP unter René Anders᾽ Regie aufgeführte Stück Der Kissenmann (Original: The Pillowman, 2003) daherkommt, überrascht und hinabgerissen in einen Strudel von Polizeiverhör, Märchenstunde, Horror- und Psychospielchen, gewalttätigen Polizisten, Eltern, Brüdern.

Dass solch ein wilder und bisweilen äußerst verstörender Mix die Menschen nicht reihenweise von ihren Sitzbänken und aus dem Theater treibt, liegt nicht nur an den überragenden Dialogen, sondern auch an der gelungenen Inszenierung. Neben der überzeugenden Besetzung sind zu nennen: ein Kontrast beider Bühnenhälften, die eine schlecht mit Stühlen, Tisch, Regal eingerichtet, die andere gänzlich mit Buchseiten ausgekleidet und mit Drehscheibe versehen, ein auf dem Balkon mit viel Liebe zum Detail geschaffenes Bühnenbild aus Laken, Kissen, Wattebäuschen, Büchern, Teddybär, Matratze usw. – welches überhaupt nicht bespielt wird. Vor dem Balkon hängt eine aus Kissen gemachte Leinwand, an die Illustrationen der im Stück vorkommenden Märchen geworfen werden. Dazu dringt leise Schauermusik aus den Lautsprechern. Alles zusammen erzeugt eine packende, unheimlich aufgeladene Atmosphäre.

Hand in Hand – Gelächter und Gewalt

Dabei wirkt das Stück in den ersten Minuten durch bestechende Komik sogar harmlos. Der Schriftsteller Katurian (Jakob Jockers) wird von zwei Polizisten verhört. Sie klären die üblichen Formalia: Vor- und Nachname seien beide jeweils Katurian. »Ihr Name ist Katurian Katurian?« Wofür stünde dann das ›K.‹ dazwischen? Ebenfalls Katurian.

Ihr Name ist Katurian Katurian Katurian?

Auch die ersten Anzeichen, dann Ausbrüche von Gewalt können das mitunter laute Gelächter des Publikums nicht vollständig verstummen lassen. Selbst nach zahlreichen verstörenden Szenen erreicht das komische Element stets sein Ziel, wenn beispielsweise Inspektor Tupolski (Theo Ockert) den Titel seiner eigenen Geschichte vorstellt:

Die Geschichte des tauben, kleinen Jungen auf der großen, langen Eisenbahnstrecke – in China!

Ist jedoch eine der bestürzend ernsten wie drastischen Szenen an der Reihe, in denen beispielsweise die Kindheit der Brüder Katurian und Michal geschildert und der kleine Michal von seinen Eltern unter markerschütternden Schreien gequält wird, zeichnet sich in den Gesichtern der Zuschauer*innen unverkennbar ein körperliches Unwohlsein ab.

Die Wahrung der Balance von Tragik und Komik, Brutalität und Zärtlichkeit, absurden wie existenzialistischen Dialogen ist zentral für Der Kissenmann. Erfolgreich wie hier nicht nur auf einem, sondern all diesen schmalen Graten zu wandern, zeugt von großer Kunst und tiefem Verständnis für das Stück. Einzig Clemens Ibrom scheint sich zu Beginn in seiner Rolle als Polizist Ariel nicht zurechtzufinden. Gegen die Geschmeidigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der Jockers und Ockert sich bewegen und sprechen, wirken Ibroms Bewegungen zunächst steif, seine Worte ungelenk. Erst viel später, nachdem die Hintergründe und Handlungsstränge sich entfaltet haben, zeigt sich, dass diese Steifheit nicht als mangelnde Schauspielkunst, sondern als Ausdruck tief im Charakter Ariels liegender Erfahrungen und Überzeugungen verstanden werden kann – als Kind wurde Ariel von seinem Vater vergewaltigt.

Märchen werden wahr… oder?

Info

Das Theater im OP (ThOP) ist das Universitätstheater der Georg-August-Universität Göttingen. Gegründet wurde es 1984 von der dramaturgischen Abteilung des Seminars für Deutsche Philologie. Seine Aufgabe ist die Vermittlung theaterpraktischer Kompetenzen. Gespielt wird in einem ehemaligen Schauoperationssaal einer alten chirurgischen Klinik. Das Publikum sitzt zu zwei Seiten auf Tribünen, das Schauspiel findet vorwiegend in der Saalmitte statt. Mehr? Hier.

Damit manifestiert sich auch in Ariels Hintergrund ein wichtiges Motiv des Stücks: Kindesmisshandlung. Sie tritt in nahezu jeder von Katurians Märchengeschichten auf und aus diesem Grund wird er auch verhört. Nicht wegen der Geschichten an sich, sondern weil bizarrerweise zwei echte Kinder exakt auf die von Katurian beschriebene Weise umgebracht worden sind. Katurian glaubt, mit den Morden nichts zu tun zu haben, muss jedoch im Gespräch mit seinem ebenfalls inhaftierten, geistig und emotional stark unterentwickelten Bruder Michal (Nils Finck) erfahren, dass eben jener für die Todesfälle verantwortlich ist – er habe doch nur die Geschichten nachspielen wollen. Daraufhin erstickt Katurian, nach langer Diskussion und letztendlicher Versöhnung, seinen Bruder mit einem Kissen und wird für diesen Mord am Schluss selbst exekutiert. Trotz glaubhafter Darbietungen beider Schauspieler, die dem Publikum sogar ein hollywoodartiges ›Aww‹ entlocken können, wird diese ausgesprochen lange Szene gegen Ende ein wenig zäh.

Durch die vom Plot vorgegebene Verhörsituation liegt ein großer Fokus des Stücks auf dem Dialog. Das gesprochene Wort wird zwar immer wieder geschickt von Gewalt und Komik durchbrochen. Bei einem gut zweieinhalbstündigen Stück fällt es dennoch zu stark ins Gewicht. Wenigstens stellenweise hätte man es nicht derart in die Länge ziehen müssen. Das Märchen von der Stadt am Fluss, Der Schriftsteller und sein Bruder, Der Kissenmann, Das kleine grüne Schwein, Der kleine Jesus und Tupolskis Geschichte vom tauben Jungen in China sind allesamt Titel von Geschichten, welche meist monologisierend erzählt werden. Obwohl sie zunehmend deutlich mit der Haupthandlung verknüpft werden – bloß die titelgebende Geschichte bemerkenswerterweise nicht –, sorgen sie im Moment des Vortrags bisweilen für eine spürbare Schwerfälligkeit.

Interessant sind die Binnenerzählungen dennoch. Sie begünstigen das Spielen mit der Wahrheit oder besser: mit dem, was das Stück als Wahrheit konstruiert. Immer wieder wird das, was eben noch als wahr gegolten hat, verworfen, bis auf dem Höhepunkt dieses Spiels sogar die verschwörungstheoretische Erklärung plausibel scheint, dass alles, was man bis jetzt erfahren hat, gelogen und von einem totalitären Staat fingiert ist, in dem Zeitung und Polizei zu einer Instanz verschmelzen. Viele Wirrungen lösen sich auf, mindestens eine Frage aber bleibt: Warum hat Michal seinem Bruder gesagt, er hätte mit dem Nachspielen von Der kleine Jesus ein drittes Kind umgebracht, obwohl sich das im späteren Verlauf als Lüge herausstellt?

Eine Antwort ließe sich vielleicht bei einem erneuten Besuch dieses lohnenden Stücks finden. Insofern ist es umso bedauerlicher, dass die Vorstellung vom 15. Juni bereits die Dernière war. Hält man es mit Katurian, spielt es allerdings keine Rolle, ob das Stück noch aufgeführt wird: »Es geht nicht um Tod oder nicht. Es geht um das, was man hinterlässt.« Der Kissenmann hinterlässt viel: Trauer, Ekel, Verwirrung, Rührung.

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