Der Kampf gegen das Spiegelbild

Am Abend des 24. Oktober begeistert die Inszenierung von Leonce und Lena das Publikum im Deutschen Theater mit einer kreativen und modernen Adaption des klassischen Stücks von Georg Büchner. Es ist die erste Vorstellung nach der Premiere am 19. Oktober. Die Interpretation bewahrt nicht nur die Essenz des Originals, sondern verleiht dem Text auch einen erfrischenden, zeitgemäßen Bezug zur gesellschaftlichen Realität.

Von Sofia Peslis

Bild: Thomas Müller (abgebildet: Nathalie Thiede, Tara Helena Weiß, Gabriel von Berlepsch, Roman Majewski)

Nur das Parkett ist offen für die Besuchenden und fast ausverkauft, was von Anfang an eine deutliche Nähe zwischen Publikum und Bühne schafft. Leonce und Lena erzählt die Geschichte des Prinzen Leonce (Roman Majewski) aus dem Königreich Popo, der sich vor einer durch seinen Vater arrangierten Ehe entziehen möchte. Zusammen mit dem Narren Valerio (Gabriel von Berlepsch) flieht er deshalb nach Italien. Dort begegnet er zufällig der Prinzessin Lena (Tara Helena Weiß), die ihn heiraten soll. Auch sie ist auf der Flucht vor der arrangierten Ehe. Leonce und Lena lernen sich kennen und ohne zu wissen, dass sie einander versprochen sind, verlieben sie sich. Doch was, wenn beide erkennen müssen, dass sie trotz aller Fluchtversuche ihrem Schicksal nicht entkommen können?

Schwimmen gegen die Normen

Noch bevor das eigentliche Stück beginnt, werden die Zuschauenden mit einer interaktiven Fragerunde ins Geschehen eingebunden. Die Schauspielenden betreten gemeinsam die Bühne und stellen dem Publikum lockere Fragen: »Wer ist heute mit einem Studierendenticket hier?«, gefolgt von »Wer hat schon mal etwas geerbt?« bis hin zur entscheidenden Frage: »Wer hat denn aus Liebe geheiratet?«. Die Fragerunde kommt bei den Zuschauenden äußerst gut an – das Publikum reagiert lebhaft, fast alle beteiligen sich, und die Fragen werden mit Humor und Interesse aufgenommen. Diese zuerst spielerische, dann doch persönliche Einbindung schafft sofort eine intime Atmosphäre, die das Publikum nicht nur aktiv einbezieht, sondern auch neugierig und aufgeschlossen stimmt. Diese Atmosphäre erlaubt, dass der Schauspieler Roman Majewski die Meta-Ebene ausreizt und spielt, dass er noch nicht in seine Rolle des Leonce schlüpfen möchte. Er weigert sich humorvoll, die Bühne zu verlassen, und stellt dramatische Fragen, bis er keine andere Wahl mehr hat, als seine Rolle anzunehmen und das Stück starten zu lassen. Dieser amüsante Auftakt führt die Zuschauer elegant in den inneren Konflikt von Leonce ein und setzte den Ton für den Abend.

Die Inszenierung beginnt mit einem Bühnenbild, das an einen Swimmingpool erinnert. Die Schauspielenden befinden sich hierbei im Becken und bewegen sich teils darin, teils steigen sie zum Rand über Poolleitern hinauf. Dieses Bühnenbild spiegelt gut das Gefühl der Enge und des Gefangenseins in gesellschaftlichen Erwartungen wider: Die beständigen Bewegungen innerhalb des Beckens, gefolgt vom Heraustreten, zeigen das Ringen der Figuren mit den Zwängen ihrer Welt. Als Leonce und Lena auf fliehen, wird die Begrenzung des Beckens durchbrochen und die Rückseite als neues Bühnenbild genutzt. Die schrittweise fallenden Fliesen während der Interaktionen können hierbei als Zeichen des langsamen Zerfalls gesellschaftlicher Normen gesehen werden, gegen die sich die Figuren auflehnen.

Gefangen im Selbstbild

»Ist denn die Tochter eines Königs weniger als eine Blume?« Dieser Satz ist ein Schlüssel zu Lenas Gefühlswelt, ihrer Suche nach Anerkennung und Freiheit. Als königliche Tochter scheint Lena auf ein Leben reduziert, das durch höfische Erwartungen und gesellschaftliche Zwänge bestimmt ist. Eine Blume wächst in der Natur frei und wird für ihre Schönheit bewundert; Lena dagegen wirkt wie eine Pflanze im Treibhaus der Monarchie, deren wahres Wesen nie zum Vorschein kommen darf. Mit diesem Zitat stellt sie ihre Existenz als bloßes Symbol infrage, wodurch ihre Sehnsucht nach echter Wertschätzung und Authentizität deutlich wird. Tara Helena Weiß spielt Lena in dieser inneren Zerrissenheit mit viel Sensibilität: Sie verleiht der Figur eine fragile Stärke, die Lenas Dilemma zwischen Pflicht und Freiheit spürbar macht. Leonce hingegen kämpft im Stück nicht nur gegen die äußeren Zwänge der Monarchie, sondern auch gegen eine innere Passivität und Einsamkeit, die ihn drohen zu erdrücken. Seine Unfähigkeit, sich selbst wahrzunehmen und wirklich zu verstehen, was ihn antreibt, führt zu einer tiefen Gefühlslosigkeit – sowohl sich selbst als auch seiner Umwelt gegenüber. In diesem Zustand der existenziellen Isolation sucht er unbewusst nach Widerstand, nach einem Gegenüber, das ihm die Reibung und den Konflikt bietet, die ihm einen Sinn oder zumindest das Gefühl von Lebendigkeit verleihen.

Hier tritt der Narr Valerio auf als eine Figur, die ihm den notwendigen Widerpart bietet. Berlepschs Darstellung verleiht der Rolle eine starke Präsenz und lässt die Zuschauenden Valerios rebellischen Geist unmittelbar spüren. Während Leonce die Grenzen seiner Rolle als Thronfolger spürt und vergeblich versucht, sich von diesen zu befreien, ist es der Narr, der ihm auf subtile Weise einen Spiegel vorhält. Valerio, der in seiner Freiheit und seiner anarchistischen Einstellung das Gegenteil von Leonce darstellt, fordert diesen ständig heraus – nicht nur durch direkte Kritik, sondern durch seine bloße Existenz als Figur, die sich über gesellschaftliche Regeln hinwegsetzt. Als Begleiter und zugleich Gegenspieler von Leonce bietet er mit seinem Verhalten eine Art übersteigerte Freiheit, die letztlich auch die Frage aufwirft, was geschieht, wenn man sich völlig den gesellschaftlichen Regeln entzieht. Als Moderator und teilweise auch Mediator aller Figuren spielt Valerio mit den Grenzen der Freiheit.

Die Freiheit in Ketten

So führt Valerio Leonce unweigerlich in die Rolle des »Automaten«, in der Leonce zum Schluss landet. Die »Automaten« stehen für Figuren, die mechanisch und ohne Eigenbestimmung den gesellschaftlichen Erwartungen folgen. In der Inszenierung wird dies durch kleine Bildschirme vor den Gesichtern der Charaktere visualisiert, die fremde Gesichter anzeigen – ein Symbol für den Verlust der eigenen Identität zugunsten äußerer Zwänge.

Die Erkenntnis, dass der Widerstand gegen das System Teil seines eigenen Selbstverständnisses ist, lässt Leonce noch tiefer in seine Empathielosigkeit sinken. Dieser Widerstand wird zur Selbstdarstellung, wodurch er sich nicht nur weiter von seiner Umwelt, sondern auch von sich selbst entfremdet. Dies zeigt eine paradoxe Dynamik, in der Rebellion und Passivität einander bedingen und zu einer Spirale der Entfremdung führen. Ohne die Reibung an der Monarchie und am Narren als Gegenspieler verliert er den Halt, der ihm zumindest einen Anschein von Bedeutung verlieh. Diese Verwandlung von Leonce und Lena in »Automaten« auf dem Weg zurück zum Palast zeigt eindrücklich, wie die beiden Charaktere in die ihnen zugewiesenen Rollen gepresst werden und letztlich erkennen, dass das Schicksal, dem sie entkommen wollten, sie dennoch eingeholt hat.

Die mechanischen Bewegungen auf der Bühne und die Entfremdung von sich selbst werfen die Frage auf, wie sehr das Individuum in starren gesellschaftlichen Strukturen automatisch funktionieren muss und wie wenig Raum für echte, menschliche Emotionen bleibt. Die Charaktere brechen immer wieder aus ihren Rollen aus, unterhalten sich untereinander und sprechen sich mit ihren echten Namen an, als diskutieren sie das Vorgehen in den Szenen. Diese Metaebene verstärkte den Eindruck, dass die Figuren nicht nur mit ihrer fiktiven Realität, sondern auch mit der Inszenierung selbst kämpfen, was wiederum den ironischen und philosophischen Charakter des Stücks unterstreicht.

Erwartungen? Erfüllt!

Die »Automaten« symbolisieren einen eindrucksvollen Wendepunkt der Handlung, der die Kämpfe der beiden Hauptfiguren in scharfer Zynismus zusammenfasst. Nachdem Leonce und Lena sich zuvor gegen die vorgegebene Ordnung aufgelehnt haben und voller Hoffnung einer selbstbestimmten Zukunft entgegengesehen, werden sie schließlich doch in das System gezwungen, dem sie entkommen wollten. Ihr fremdgesteuertes Verhalten verdeutlicht, wie sie zu bloßen Zahnrädern einer vorbestimmten Ordnung werden. Trotz ihres anfänglichen Widerstands landen sie in den Fußstapfen der Generationen vor ihnen und erfüllen unbewusst die Erwartungen und das Schicksal, das von ihnen verlangt wird. Die Szene offenbart nicht nur die Macht gesellschaftlicher Strukturen, sondern auch die Schwierigkeit, sich dauerhaft dem Einfluss der Traditionen und der Erwartungen der Vergangenheit zu entziehen.

Unter Regie von Tanju Girişken zeigt die Inszenierung von Leonce und Lena auf humorvolle Weise die zeitlose Relevanz des Werkes. Zwischen hinterfragten Identitäten und der satirischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Erwartungen führt die Aufführung das Publikum nicht nur in die Absurdität der Monarchie, sondern auch zu der Frage: Sind wir nicht alle manchmal wie Automaten, gefangen in Rollen, die wir nie gewählt haben? Ein Theaterabend, der zum Lachen, Nachdenken und Erkennen einlädt – und das Publikum davon überzeugt, wie aktuell Büchner ist.

Leonce und Lena wird noch heute (27.11.), am 06.11., 09.12., 20.12., 15.01., 29.01., 11.02. und am 20.02. je um 19:45 Uhr im Deutschen Theater gespielt. Mit dem Kulturticket haben Studierende freien Eintritt.

Geschrieben von
Mehr von Sofia Peslis
»Man sollte sich nicht allzu sehr in den eigenen Text verlieben«
Neben dem Beruf ein Buch schreiben? Dozent und Journalist Sven Grünewald erzählt...
Mehr lesen
Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert