Der cineastische Herbst

Zum Abschluss des Literaturherbstes 2019 stellte Regisseur Andreas Dresen seinen Film Gundermann vor. Im Rahmen der Reihe »30 Jahre Mauerfall« berichtete er vom widersprüchlichen Leben des Protagonisten sowie vom eignen Werdegang als Filmemacher in der DDR und nach der Wende.

Von Fabio Kühnemuth

Bild: Von MabelAmber via Pixabay, Pixabay Licence

Der Grund, aus dem der Göttinger Literaturherbst bei der diesjährigen Ausgabe ausnahmsweise elf statt zehn Tage umspannte, hört auf den Namen Andreas Dresen. Anlass war der Themenschwerpunkt »30 Jahre Mauerfall«, der Dresen geradezu als Gesprächsgast prädestinierte. Der gebürtige Thüringer, seines Zeichens einer der angesehensten Filmschaffenden Deutschlands, setzt sich in seinen Filmen immer wieder differenziert mit dem Leben in der ehemaligen DDR bzw. dem in den neuen Bundesländern nach der Wende auseinander. So auch in seinem jüngsten Spielfilm, dem vielfach ausgezeichneten Biopic Gundermann aus dem Jahr 2018, der im Anschluss an das Gespräch in Kooperation mit dem Unikino Göttingen gezeigt wurde. Das sehr muntere und humorvoll geführte Gespräch zwischen Dresen und Helge Schweckendiek vom Programmkino Lumière war jedoch bewusst nicht auf Gundermann beschränkt, sondern sollte anhand ausgewählter Filme ein Schlaglicht auf das gesamte Werk Dresens werfen. Zur entspannten Atmosphöre des Abends trug Dresen wesentlich bei, indem er immer wieder mit (selbst-)ironischen Kommentaren (»Früher gab es noch Sendeschluss; heute laufen da meine Filme.«) und Anekdoten glänzte.

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Reihe

Vom 18.-28. Oktober fand der 28. Göttinger Literaturherbst statt. Als Nachklapp veröffentlicht Litlog ab jetzt bis 15. November jeden Werktag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms.
Hier findet ihr die Berichte im Überblick.

Der Filmamateur

Dresen wurde 1963 geboren und wuchs als Sohn einer Schauspielerin und eines Theaterregisseurs in Schwerin auf. Trotz dieser alltäglichen »Warnung vor künstlerischen Berufen«, erkannte Dresen früh das subversive Potenzial des Theaters in der damaligen DDR. Deutlich mehr als im Film habe es an (regionalen) Theatern gewisse Freiheiten und folglich die Möglichkeit gegeben, politische Botschaften im dramatischen Gewand unterzubringen. Seine ersten filmischen Gehversuche machte Dresen dann ironischerweise mithilfe des Amateurfilmstudios eines volkseigenen Betriebs in Schwerin, der Arbeiter*innen ermutigen sollte, nach der Schicht noch kreativ tätig zu werden. »Die hatten Filmmaterial aber keine Ideen. Ich hatte jede Menge Ideen aber kein Filmmaterial«, so Dresen über diese glückliche Fügung. Das ist kein untypischer Start einer Regiekarriere: Ein ähnliches Szenario nutzte der polnische Regisseur Krzysztof Kieślowski 1979 mit Der Filmamateur für einen (freilich verklausulierten) Kommentar zur staatlichen Filmzensur.

Nach extrem zähen Zulassungsprozeduren konnte Dresen 1986 schließlich sein Studium an der renommierten Filmuniversität Babelsberg aufnehmen, an der er bis 1991 blieb und also die Wendezeit verbrachte (obgleich Dresen die Nacht des Mauerfalls in seinem Bett im Wohnheim verschlief, wie er zugab). Besondere Worte des Dankes und der Hochachtung hatte Dresen für den damaligen Direktor der Hochschule (und späteren Vorsitzenden der Partei Die Linke), Lothar Bisky, übrig. Der Reformer stellte sich stets hinter die Studierenden, gewährte ihnen viele Freiheiten und ermöglichte ihnen so, aufrecht und kritisch durch das (staatliche) Studium zu gehen.

Ich habe Kunst immer als Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen verstanden – also als politisch.

Das Große im Kleinen

Die Umbruchszeit der Wiedervereinigung brachte für Dresen in erster Linie einen Perspektivwechsel mit sich. Er habe aufgehört, auf Autoritäten zu hören und erkannt, dass die Dinge veränderbar seien. Um Veränderung geht es auch in seinem ersten Langspielfilm Stilles Land (1992). Darin fungiert ein winziges Theater und dessen Besetzung in der allertiefsten DDR-Provinz im Jahr 1989 als Spiegel der Befindlichkeiten eines ganzen Landes. Im Kleinen das Große zu spiegeln, das sei überhaupt Dresens Anliegen beim Filmemachen.

Deshalb sei das Setting auch ganz bewusst weit weg von den Massenprotesten in Leipzig und anderen Großstädten angesiedelt. So komme er nicht in Verlegenheit, historische Szenen nachstellen zu müssen und infolgedessen »auf Pseudorealismus reinzufallen.« Ohne Pseudorealimsus tragikomische Geschichten von »einfachen Leuten« zu erzählen, das ist die zentrale Prämisse und die große Stärke von Dresens Schaffen, das auch seinen anderen Filmen ihre dokumentarisch anmutende Unmittelbarkeit und ihre Kraft verleiht. Das gilt beispielsweise für die »Tatort«-Antithese Die Polizistin (2000) oder das intensive Familiendrama Halt auf freier Strecke (2011) aber auch für die großen Publikumshits Halbe Treppe (2002) und Sommer vorm Balkon (2004).

Diese Karriere verdankt sich ganz entscheidend Dresens erstem großen Achtungserfolg, dem Episodenfilm Nachtgestalten (1999), wie der Filmemacher in einer seiner zahlreichen anekdotischen Einschübe erzählt: Dresen und sein Produzent Peter Rommel, der in der Folge zu einem langjährigen Mitstreiter Dresens werden sollte, waren nach den chaotischen Dreharbeiten zu Nachtgestalten »komplett pleite« und reichten den Film auf gut Glück bei der damals unter deutschen Filmschaffenden verpönten Berlinale ein, um so einen Verleih zu finden. Um den Film zu promoten, plakatierten die beiden die halbe Hauptstadt wild mit ihren Postern zu. Mit Erfolg: Die Vorstellungen waren ausverkauft und der Film wurde von Publikum und Kritik gefeiert. Auf der feuchtfröhlichen Premierenparty klingelte dann Rommels klobiges Mobiltelefon: Unter Androhung einer drakonisch hohen Strafe wurden der Regisseur und Produzent aufgefordert, die Plakate umgehend zu entfernen – womit sie dann die gesamte Premierennacht zubrachten.

Die Filme der Anderen

Die Filmbiografie Gundermann überzeugt in erster Linie dadurch, dass Dresen bewusst die ausgetretenen Pfade der herkömmlichen filmischen DDR-Darstellung bundesdeutscher (Mainstream-)Filme meidet. Die Auseinandersetzungen mit dem Leben in der ehemaligen DDR streben für gewöhnlich einem von zwei ähnlich unterkomplexen Polen zu: Entweder beharren diese Filme ästhetisch auf der monochromen Tristesse des Ostens und treffen eindeutige moralische Wertungen (Widerstand vs. Regimetreue) – das Paradebeispiel hierfür ist Florian Henckel von Donnersmarcks didaktisches Sittenbild Das Leben der Anderen (2006) – oder aber sie schwelgen in verklärter »Ostalgie« à la Good Bye, Lenin! (2003) von Wolfgang Becker.

Interessanterweise stammen diese Filme – wie aktuell z.B. auch Michael Herbigs pathetischer Ballon (2018) – in ihrer überwältigenden Mehrheit von westdeutschen Regisseur*innen. Dresen hingegen hat laut eigener Aussage kein Problem damit, als vermeintlicher Ost-Regisseur abgestempelt zu werden, sondern ist im Gegenteil »stolz darauf, Filme zu machen, wo man sich auskennt.« Das gilt auch für die Dramaturgin und Drehbuchautorin Laila Stieler, die bereits gemeinsam mit Dresen das Drehbuch für Stilles Land verfasste und für Gundermann jahrelang recherchierte sowie zahllose Interviews führte. Sie war es auch, die die Erzählstruktur des Films auf zwei Zeitebenen, eine in den 1970er- und eine in den 1990er-Jahren, verteilte.

Prinzipielle Eigenwilligkeit

Vermittels der zwei Zeitebenen erzählt der Film (in Ausschnitten und mit fiktionalen Details versehen) aus der widersprüchlichen Biografie des Baggerfahrers und Liedermachers Gerhard Gundermann (1955-1998). Der Titelheld – außergewöhnlich überzeugend dargestellt von Alexander Scheer – war Idealist und überzeugter Kommunist, dabei jedoch vollkommen undogmatisch und unangepasst, weshalb er 1984 mit der schönen Begründung »wegen prinzipieller Eigenwilligkeit« aus der SED ausgeschlossen wurde. Im Hauptberuf arbeitete Gundermann im Braunkohleabbau; eine Anstellung, die er trotz sehr erfolgreicher Musikkarriere nicht aufgab, um finanziell unabhängig von der Unterhaltungsindustrie (und der staatlichen Zensur) zu bleiben.

Andreas Dresen im ZHG 011 (©Literaturherbst, Fotograf: Dietrich Kühne)

»Die Stiefel im Schlamm der Braunkohle und den Kopf in den Wolken«, wie Dresen es im Hörsaal ZHG 011 poetisch ausdrückte. Seine bodenständige, aber bildreiche Lyrik und seine vermeintliche Geradlinigkeit machten ihn, der selbst entschieden jeden Personenkult ablehnte, paradoxerweise zum Star und zum Prototypen des proletarischen Musikers. Gleichzeitig wurde Gundermann sein naiver Wunsch der Weltverbesserung gewissermaßen zum Verhängnis: Er ließ sich von der Staatssicherheit instrumentalisieren und war von 1976 bis 1984 Inoffizieller Mitarbeiter (IM).

Widersprüche zulassen

Der Mensch Gundermann war eine widersprüchliche Person. Der Film Gundermann lässt diese Widersprüche zu und schöpft daraus seine Glaubwürdigkeit. Das wurde letztes Jahr vom Kinopublikum und dieses Jahr nicht zuletzt mit dem Deutschen Filmpreis in gleich sechs Kategorien (darunter bester Film, beste Regie und bester Hauptdarsteller) entsprechend honoriert. Gerhard Gundermann ging, nach langem Ringen mit sich selbst, mit seiner Vergangenheit als Stasi-Informant an die Öffentlichkeit, allerdings ohne sich zu entschuldigen. Einige seiner letzten (gesprochenen) Worte im Film lauten: »Ich hab’ eingesteckt und ich hab’ auch ausgeteilt. Ich hab’ gelernt. […] Ich werd’ nicht um Verzeihung bitten, aber mir selbst kann ich das nicht verzeihen.« Andreas Dresens Film entschuldigt nichts, klagt nicht an, fällt kein moralisches Urteil. Darauf wies auch Dresen selbst am Ende des kurzweiligen Gesprächs noch einmal hin, bevor er unter lautem Applaus von der Bühne ging und seinen Film für sich sprechen ließ.

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