22 Bahnen – der Debütroman der gerade einmal 29-jährigen Caroline Wahl ist in aller Munde. Der im DuMont Verlag erschienene Roman ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, unter anderem gewann er 2023 die Wahl zum »Lieblingsbuch der Unabhängigen« und das mit recht.
Von Lina Frerichs
22 Bahnen. So viel schwimmt Tilda nahezu täglich. Es sind für sie 22 Bahnen, um ihren Problemen, der Realität und vor allem ihrer Mutter zu entkommen. Tilda studiert Mathematik und arbeitet in einem Supermarkt, um ihre Mutter, sich und ihre jüngere Schwester Ida versorgen zu können. Die Mutter ist alkoholkrank, als »ein weintrinkendes Kleinkind« wird sie einmal von Tilda bezeichnet. Ansonsten wird sie nur das Monster genannt. Sie hat regelmäßig Wutausbrüche und schreit ihre Töchter an, versucht sich durch miserables Kochen zu entschuldigen und gerät wieder in den Teufelskreis aus Alkoholkonsum, aggressivem Verhalten und Reue. Das geht seit Jahren so. Ida und Tilda haben gelernt, sich nicht auf sie zu verlassen.
Dann trifft Tilda im Freibad bei ihren täglichen 22 Bahnen auf Viktor. Er ist der Bruder eines verstorbenen Freundes von ihr, war weggezogen und scheint nun wieder da zu sein. Die Stimmung zwischen ihnen ist seltsam, sie erkennen sich, aber reden nicht miteinander. Sie begegnen sich nahezu täglich im Freibad, sehen sich an und verschwinden dann beide wieder. Tilda geht nachts alleine über die Landstraße und Viktor fährt an ihr vorbei. Nahezu kommentarlos fährt er sie nachhause, da er sie nachts nicht alleine irgendwo langlaufen lassen möchte. Solche Begegnungen häufen sich und sie fangen an, sich vorsichtig kennenzulernen. Dabei achten beide darauf, dass sie nicht zu viel über sich preisgeben und bleiben sehr bedacht. Sie beschränken sich nur auf das Nötigste: Name, Alter, Beruf. Dennoch fasziniert sie die jeweils andere Person auf eine unbestimmte Art. Viktor scheint seit Langem die erste Person zu sein, die sich um Tilda kümmert. Als Tilda starkes Fieber bekommt, sucht Ida Viktor auf, um den beiden zu helfen. Ida schafft es mit der Hilfe von Viktor, Tilda wieder gesund zu pflegen. Viktor kocht für Tilda, kontrolliert ihre Temperatur, wechselt ihre Kleidung und gibt vor allem Ida Halt. In dieser Zeit werden sie zu einer kleinen Familie auf ihre ganz eigene Art. Sie können sich kaum voreinander öffnen, scheinen aber begriffen zu haben, dass sie sich brauchen. Viktor und Tilda entscheiden sich, unausgesprochen, dass sie sich vertrauen können. Tilda wird unerwartet eine Promotionsstelle in Berlin angeboten und sie muss sich entscheiden, ob sie ihren eigenen Weg gehen möchte und Ida verlassen kann. Doch dafür muss sie Ida helfen, alleine klarzukommen.
Starke Charaktere, die ins Herz gehen
Wahls Buch berührt durch Ehrlichkeit, beeindruckende Figuren und Tiefe. Zum einen ist dort die fesselnde und rührend enge Bindung von Tilda und Ida. Die beiden Schwestern sind über die Jahre hinweg zu einem starken Team geworden, welches gelernt hat, mit den Ausschreitungen der Mutter umzugehen. Sie kennen die Ängste der anderen und versuchen – oftmals spielerisch – sich zu unterstützen. Wenn die beiden unterwegs sind, erzählen sie sich gegenseitig Geschichten, die die andere weitererzählen soll. Dabei balancieren sie auf der Bordsteinkante und versuchen, sich gegenseitig beim Erzählen zu überholen. Ihr Ritual geht solange, bis sie ihr Ziel erreicht haben: »Wir haben es geschafft. Wir stehen nebeneinander vor ihrer Schule, und Ida schaut zu mir auf. Ich weiß, was dieses Zunicken bedeutet, und nicke zurück.«
Ida weiß genau, was Tilda für sie macht und vergleicht sie bei einem gemeinsamen Filmabend mit Katness Everdeen aus Tribute von Panem. Die geschwisterliche Bindung ist sowohl im Film als auch im Roman eine besondere, sowohl was die Aufopferungsbereitschaft als auch was das Verständnis füreinander angeht. Tilda ist Idas großes Vorbild und Tilda würde metaphorisch gesehen – genau wie Katness Everdeen – in den Kampf ziehen für Ida bzw. tut sie es jeden Tag schon. Sie versucht, ihre Mutter, ihre Schwester und ihre beste Freundin gemeinsam zu verkörpern und tritt selbst dafür zurück. Nebenbei arbeitet sie im Supermarkt, studiert Mathematik und kümmert sich alleine um den Haushalt. Was ihr bleibt sind die 22 Bahnen und dann Viktor. Viktor und Tilda akzeptieren sich gegenseitig mit ihren Päckchen, die sie zu tragen haben und lernen, auf ihre eigene Art darüber zu kommunizieren. Manchmal brauchen sie keine Worte und dafür manchmal umso mehr.
22 Bahnen berührt mit besonderen Dialogen
Wahl begeistert mit ihrem Schreibstil. Die Figuren sprechen selten über ihre Gefühle. Alles bleibt im Inneren der Figuren. Jedoch schafft Wahl es, dass jedes kleine Wort einen Einblick in die innere Gefühlswelt bietet. Ida und Tilda sind schonungslos ehrlich zueinander und wissen, was die andere fühlt, ohne, dass es ausgesprochen werden muss. So fragt Tilda Ida, ob sie die Promotionsstelle annehmen soll und kriegt eine ehrliche, eindeutige Antwort.
Wahl schmückt die wörtliche Rede nicht aus, was mehr Raum für eigene Vorstellungen bietet und die Figuren persönlicher wirken lässt. Sie reagieren nicht künstlich fröhlich oder traurig auf Gesagtes. Das zeichnet vor allem die beiden Schwestern in ihrer Art auch aus. Sie müssen sich nicht ständig umarmen oder miteinander weinen. Sie klagen sich nicht dauerhaft gegenseitig ihr Leid. Tilda und Ida bestreiten ihren Alltag zusammen, gehen schwimmen und spielen auf dem Weg in die Schule ihr Spiel. Durch ihre tiefe Bindung wissen sie, was die andere fühlt und können sich gegenseitig helfen. Manchmal muss man nach einem kurzen Dialog als Leser:in kurz innehalten, da solche tiefen und entscheidenden Gespräche wie über Tildas Doktorandenstelle kaum weiter aufgegriffen werden bzw. beide nur kurz und fast schon nach außen gleichgültig wirkend darüber reden. Wahl lässt die Rezipient:innen zwischen den Zeilen tief in die Gefühlswelten der Figuren blicken, sodass Beschreibungen vom nonverbalen Verhalten während der Gespräche nicht nötig sind. Zwar beschreibt Tilda, die Ich-Erzählerin des Romans, ihre Gefühle selbst, formuliert diese aber sehr überlegt aus, sodass ihr nachdenklicher und umsorgender Charakter wieder deutlich wird. Ida gegenüber würde sie diese Gedanken niemals äußern. Die beiden wirken so eingespielt und liebevoll miteinander, sodass man sich schnell selbst mit ihnen verbunden fühlt und richtige Wut über die Mutter empfindet, die ihr Leben durch ihre Alkoholsucht so schwer macht. Dieser Aspekt, dass man die Figuren innig kennenlernt und Wahl den Leser:innen dennoch viel Platz für die eigene Vorstellung bietet, macht den Roman äußerst fesselnd und regt zum schnellen Weiterlesen an.
Mehr als ein Coming-of-Age Roman
22 Bahnen lässt sich als Coming-of-Age Roman einordnen, bietet aber auch noch mehr. Der Coming-of-Age Aspekt scheint hingegen primär bei Ida durch. Sie steht vor der Entscheidung, erwachsen zu werden und ihren eigenen Weg zu gehen oder weiterhin bei Tilda zu bleiben. Wahl gelingt es, neben dem Verloren-Sein in den 20-ern insbesondere den familiären Zusammenhalt in den Vordergrund zu rücken. Im Endeffekt geht es um zwei starke junge Frauen, die sich entschieden haben, ihre eigene kleine Familie zu sein und sich gegenseitig zu unterstützen. Trotz der schweren Thematik der unbehüteten Kindheit und der viel zu großen Verantwortung Tildas, lässt Wahl einen schmunzeln. Die Märchengeschichten, die die beiden zusammen erfinden und die gemeinsamen Ausflüge erinnern dann doch an eine schöne Kindheit. Man merkt als Leser:in, dass hinter den Geschichten nicht nur Kindermärchenvorstellungen stecken, sondern tiefe Träume im Inneren der Mädchen. Es geht um Träume, die zu unnahbar wirken, um sie überhaupt auszusprechen. Viktor kümmert sich trotz seiner eigenen Probleme um Tilda und Ida und versucht, alles ein wenig erträglicher zu machen.
Caroline Wahls Roman ist vor allem ein Roman über Zusammenhalt und menschliche Stärke. Er schwebt zwischen der nicht auflösbaren und einengend erscheinenden Verantwortung und dem Gefühl der Unabhängigkeit und des Loslassens. 22 Bahnen zeigt den Mut, den es braucht, um loszulassen und auf sich selbst zu achten. Man kann sowohl Ida beim Über-sich-hinauswachsen als auch Tilda beim Loslassen zusehen. So entschließt sich Ida dazu, für sich und Tilda selbst zu kochen und traut sich, einkaufen zu gehen. Außerdem lernt sie in der Schule eine Freundin kennen. Tilda schafft es, sich auch auf sich selbst zu konzentrieren und ihre Entscheidung, nach Berlin zu gehen, rückt immer mehr in den Vordergrund. Beide Figurentwicklungen sind unglaublich spannend und schön und traurig zugleich mitanzusehen.
Wahls Roman zeigt klar die Diskrepanz Heranwachsender auf, sich von dem Elternhaus zu lösen und den eigenen Weg zu bestreiten. Dies gelingt ihr auf eine auf eine drastische und dramatische Weise. Manche Gespräche wirken wie Geschäftsgespräche. Dabei versuchen die Hauptfiguren über Gefühle zu sprechen und verpacken es wie ein Geschäftstermin. Gleichzeitig ist das Erzählen von Tilda und Idas Geschichte charmant und nachhaltig. Nach dem Lesen erinnert man sich gerne an Tilda und Ida zurück, will wissen wie es weitergeht mit den Figuren und hat Lust, sich mit ihnen gemeinsam ein Märchen auszudenken. 22 Bahnen schafft es, eine:n eintauchen zu lassen in die Romanwelt, gemeinsam mit den beiden Hauptfiguren zu schwimmen und langsam und sanft wieder aufzutauchen. Das macht Lust auf den kürzlich erschienenen zweiten Roman Wahls: Windstärke 17, in dem die Figuren Tilda und Ida wieder aufgenommen werden.