Das Puzzle einer Person

Catherine Lacey schreibt in ihrem Roman Biography of X über eine verstorbene Berühmtheit X, die nicht einmal deren Frau zu Lebzeiten durchschauen konnte. Das Ganze spielt in einer dystopischen Version der USA. Lesende folgen einem Pfad aus Fakten und Gerüchten und puzzeln selbst am Bild der mysteriösen X.

Von Jana Diekmann

Bild: via Pixabay, CC0

In Catherine Laceys metafiktionalem Roman Biography of X (Granta Books 2023) geht es um die Witwe C. M Lucca, die eine falsche Biografie ihrer verstorbenen Frau X zu berichtigen versucht, die kurz nach deren Tod über sie geschrieben wurde. Laceys Roman spielt mit der Fiktion einer von Lucca 2005 in London veröffentlichten Biografie. Schon früh wird erkennbar, dass die auch als Erzählerin in dieser Biografie fungierende Lucca bisher so gut wie gar nichts über ihre Frau wusste. X ist ein Mysterium. Eine Frau mit vielen Namen, eine Berühmtheit in der Kunstszene mit Kontakten zu Stars wie beispielsweise David Bowie. Über ihre Vergangenheit scheint nichts gewiss zu sein, doch Lucca hat es sich zum Ziel gesetzt, sie zu entschlüsseln. Auch, um ihr eigenes Gewissen zu beruhigen

Das Mysterium X

Die Biografie, die Lucca erzählt, ist ein Recherchebericht, mit Hilfe dessen die Lesenden die Erzählerin auf der Suche nach der Wahrheit über ihre Frau begleiten. Man erfährt viel über Lucca selbst, ihre Beziehung und ihr Leben mit X. Die Geschichte spielt in einem alternativen Amerika, welches vor 1996 noch in verschiedene Territorien unterteilt war, das Südliche Territorium, der Östliche Block und der Norden. Diese Territorien hatten ihre eigenen Gesetze, rechtlich wie auch kulturell, und da die Wiedervereinigung in der Erzählung noch nicht allzu lange her ist, spiegeln sich die Eigenschaften der Territorien auch in den Charakteren. Informationen über dieses Amerika werden von Lacey so beiläufig in Nebensätzen eingestreut, dass diese alternative Realität für Lesende selbstverständlich und natürlich erscheint.

Catherine Lacey
Biography of X

Granta Books: London 2023
416 Seiten, £18.99

Mittendrin wirkt Lucca, die selbst Reporterin ist, oft ein wenig naiv und verloren. Die Lesenden folgen ihr auf ihrer Reise durch X’ Vergangenheit, hinein in das Südliche Territorium, berüchtigt für seine strengen Gesetze und die herrschende Zensur, und zu den Personen, die die Frau hinter der Maske zu kennen glaubten. Allerdings scheinen die verschiedenen Charaktere – beispielsweise X’ Ex-Mann Paul Vine, welcher mittlerweile in einem Altenheim lebt, ihr Sohn Zebulon, der seine Mutter nie wirklich kannte, und selbst ihre Eltern – nur eine, und teilweise unterschiedliche, Version von X zu kennen und teilweise auch nur aus Erzählungen. X selbst wird immer undurchsichtiger, je weiter man liest. Zwar erhält man mehr und mehr Informationen über ihr Leben und ihre Hintergründe, doch alles, was man aufdeckt, scheint so verrückt, dass X selbst als Person beinahe unglaubwürdig erscheint. Bewusst hat X zu Lebzeiten das Spiel der Vervielfältigung ihrer Identität selbst betrieben und gelenkt: Für verschiedene Projekte nutzte sie unterschiedliche Namen, engagierte zwei Schauspieler, die ihre Eltern sein sollten und verriet nie, welche Fakten über sie stimmten. Auf eine Art schien sie dieses Spiel der Täuschung genossen zu haben.

Im weiteren Handlungsverlauf entdeckt Lucca bei ihrer Recherche die Abgründe eines erst kürzlich wiedervereinigten Landes und bringt sich teilweise selbst in Gefahr. Denn die Leute im Südlichen Territorium mögen es gar nicht, dass sie so viele Fragen über totgeschwiegene Ereignisse stellt. Gerade wenn diese in Zusammenhang mit der streng überwachenden Regierung stehen. Im Grunde genommen zeigt sich Luccas Recherchebericht hierhingehend tatsächlich mehr als ein Mystery-Abenteuer, denn als eine Biografie, und die Lesenden befinden sich mittendrin.

Lesende als Detektive in Biography of X

Biography of X ist wie ein Puzzle für die Leser:innen. In Luccas Berichten finden sich Lücken, teils ihrer persönlichen Einschätzung geschuldet, die nicht immer den Tatsachen entspricht. Catherine Lacey lädt hier dazu ein sich selbst ein Bild über die Geschichte zu machen und mit eigenen Gedanken die Lücken zu füllen. Vielleicht war X gar nicht so eine perfekte Frau, wie Lucca sie gerne darstellt. Vielleicht ist X nicht die Protagonistin dieses Buches, auch wenn es um sie geht. Je mehr man in das Buch eintaucht, desto mehr hinterfragt man. Was Biography of X so besonders macht, ist, dass die Geschichte aus Luccas subjektiver Perspektive erzählt wird. So versucht Lucca scheinbar ihr Möglichstes, um X so neutral und realitätsgetreu zu beschreiben, wie möglich, gibt aber gleichzeitig auch gerne ihre eigenen Gefühle zu ihren Erkenntnissen preis. Durch die objektiven Informationen, die Fakten aus Luccas Recherche und die Aussagen ihrer Gesprächspartner:innen erhalten die Lesenden wiederum die Chance, selbst zu interpretieren und dennoch zu hinterfragen, ob sie nun richtig liegen. Wie X mehrere Gesichter hatte, hat auch ihre Geschichte mehrere Facetten. Die Informationen werden nur stückchenweise freigegeben, oft fehlen genauere Erklärungen, aber gerade das macht den Reiz des Buchs aus. Man liest nicht nur, sondern wird selbst aktiv.

Zwischen Fiktion und Realität

Catherine Lacey gelingt es, ein Spiel zwischen Realität und Fiktion zu eröffnen und die Lesenden sind ihre Mitspieler:innen. Die vielen Plot-Twists, beispielsweise X’ Kindheit im Süden oder auch ein überraschender Informant, sorgen dafür, dass man den Handlungsverlauf immer wieder hinterfragt, doch das Gesamtbild wird erst aufgedeckt, wenn man die Geschichte durchgelesen hat und bei Laceys Notizen, beim letzten Puzzleteil, ankommt. Biography of X ist ein Buch für Menschen, die sich beim Lesen nicht nur berieseln lassen wollen. Es ist eine Challenge für Kombinier-Freund:innen und eine sehr lesenswerte Geschichte für jede:n Rätsler:in und auch für Liebhaber:innen von dystopischen Atmosphären, Spionageabenteuern und von Biografien.

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