Ausnahmsweise sind sich Maxim Biller und der deutsche Literaturbetrieb einig: Mit Sechs Koffer ist dem Autor ein großer Roman gelungen. Es geht um Familie, Wahrheit und Schuld. Aber vor allem um die Frage, wer den Großvater verraten hat.
Von Lena Karger
Bild: Lupe via pxhere / CC0
Zurzeit lässt sich eine besonders seltene Sternenkonstellation am Literaturhimmel beobachten: Maxim Biller, der deutsche Literaturbetrieb und die Kritik sind sich einig. Billers neuer Roman Sechs Koffer steht verdientermaßen auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2018. Dass das ein Qualitätsmerkmal sein muss, würde wohl niemand nachdrücklicher als Biller selbst bestreiten. Schließlich zeigte er bereits als Juror des Bachmannpreises und im Literarischen Quartett, dass er kein Freund von Konsens mit dem deutschen Literaturbetrieb ist. Doch die seltene Einigkeit hat diesen einfachen Grund: Biller ist sein bisher bester Roman geglückt.
Eine Familie, ein Verräter
Der Ich-Erzähler in Billers Roman will das große Familiengeheimnis lösen: Wer hat seinen Großvater an den KGB verraten und ihn somit zum Tode verurteilt? In Frage kommen seine drei Onkel, sein eigener Vater Sjoma und dessen ehemalige Geliebte Natalia. Sein Vater redet nicht darüber, die Versionen seiner Mutter sind von Eifersucht geblendet und so bleiben ihm nur ein Brief, eine alte StB-Akte und seine eigenen verschwommenen Erinnerungen.
Auf der Suche nach der Wahrheit wird die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven und Zeitepochen erzählt. Die vier Brüder emigrieren von Russland in die Tschechoslowakei, wo sie als Juden, Parteigegner und Schwarzhändler in ständiger Bedrohung unter dem kommunistischen Regime leben. Schließlich bleibt ihnen nur die Flucht Richtung Westen. Einer schafft es nach Brasilien, einer nach Westberlin und ein anderer später nach Hamburg. Nur Dima, der Zweitjüngste, wird am Flughafen festgenommen und eingesperrt. Kurz darauf beginnt die Familientragödie. Ihr Vater wird verhaftet und zum Tode verurteilt. Von nun an sind die Beziehungen der Brüder von Misstrauen und indirekten Anschuldigungen geprägt.
Jeder Absatz: Mehrere Fragezeichen
Billers Roman ist ein philosophischer Whodunit-Krimi, der die Leserin in eine Vielzahl von möglichen Realitäten verstrickt. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Ermordung des Großvaters, die durch verschiedene Indizien und Zeugenaussagen umkreist wird. Nur dass selbst die Zeugenaussagen lediglich aus den Erinnerungen und Schlussfolgerungen der Ermittlerrolle geschildert werden, die der namenlose Enkel des Ermordeten übernimmt. Somit schwimmt die Leserin in einem Gemisch aus widersprüchlichen Aussagen, oder wie der Erzähler an einer Stelle passend beschreibt, in »halben Wahrheiten und ganzen Lügen«.
Maxim Biller
Sechs Koffer
Kiepenheuer & Witsch: Köln 2018
208 Seiten, 19,00€
Die Fragen, die der Roman durch seine Ermittlungen aufwirft, sind vielfältig. Es geht um die Zuverlässigkeit der eigenen Erinnerung und die Universalität von Moralansprüchen. Die Austauschbarkeit von Personen und Verbrechen, die durch die Perspektivwechsel suggeriert werden, richtet zudem eine gezielte Frage an die Leserin: Wer könnten wir sein, wenn die Umstände anders wären? Oder: Wozu wären wir in der Lage? Diese unbequemen Fragen äußern sich auch durch die Figur des tschechischen Freundes Miroslav oder Jaroslav (der Erzähler erinnert sich nicht so genau). Der wirft dem Erzähler in einem Gedankenspiel an den Kopf: »Dein Vater. Vielleicht war’s ja dein Vater!«
So erzählt der Roman von dem Versuch, Glaube in Wissen zu verwandeln und dem unausweichlichen Scheitern daran. Jede Bemühung des Erzählers die Familiengeschichte zusammenzusetzen, misslingt wegen der sich stets wandelnden Formen der Mosaikstücke. Es entsteht nie ein großes Ganzes. Es bleiben Einzelstücke sich stetig wandelnder Figuren und Perspektiven. Wirkt die Tante des Erzählers im dritten Kapitel eitel und kalt, ist sie im nächsten plötzlich zart und zerbrechlich. Ständig muss man Urteile revidieren, um sie ein paar Seiten später zu erneuern.
Was den Roman neben seinen klugen Gedanken so lesenswert macht, ist die Erzählweise, die trotz ihrer Komplexität leichtfüßig bleibt und den Spannungsbogen hält. Die im Roman angelegten Themen sind groß gedacht, aber wirken nicht gezwungen. In erster Linie wird in klarer Sprache eine spannende Geschichte erzählt, die viele Formen des Weiterdenkens ermöglicht, aber nicht aufdrängt.
Die fiese Pointe
Wie weit man über den Roman hinausdenken kann, zeigt sich besonders im letzten Kapitel. Die große Schwester des Erzählers Jelena (Maxim Billers Schwester heißt Elena) reist zu einem Radiointerview nach Hamburg. Sie hat ein Buch über ihre Familie und den Tod ihres Großvaters geschrieben. Durch dieses Spiel der Metaebenen und der Autofiktion steht man – wie so oft nach Billers Texten – schließlich etwas hilflos vor der Geschichte. Wider besseren Wissens soll Wahrheit her und man erwischt sich beim Googeln der Schriftstellerfamilie. So findet sich die Leserin am Ende des Romans selbst in der Rolle des Erzählers, der nach Indizien von Wahrheit in der Familiengeschichte der Billers sucht. Eine ziemlich fiese aber auch ziemlich kluge Pointe. Vielleicht hätte sie sogar einen Preis verdient.