Der Streit um das Verhältnis zum Judentum spaltete das Christentum im ersten Jahrhundert in zwei Konkurrenzunternehmen. Emmanuel Carrère erzählt diesen Konflikt wie einen Roman und macht so die Widersprüchlichkeiten im Neuen Testament verständlich.
Von Adrian Bruhns
Am Anfang waren Jesus und die Apostel und dann wurde Allerlei getan und gesagt und eine Reihe von Briefen und Evangelien geschrieben: Das Christentum schlüpft aus dem Ei. Als Heranwachsender wurde mir dieses Allerlei nahegelegt, die wesentlichen Inhalte des Christentums und die Geschichte von der Entstehung der Kirche, von den Aposteln und Frühchristen. Geschichten, die, um im Bild zu bleiben, nicht unbedingt auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Wenn ich heute nach Jahren ohne viele Gedanken daran zu verwenden auf das zurückblicke, was mir vermittelt wurde, stelle ich verwundert fest, wie anekdotisch und wenig systematisch mein Wissen über den Anfang des Christentums ist, obwohl man sich redlich Mühe gegeben hat, mir diese Dinge beizubringen. Das mag daran liegen, dass ich nicht richtig zugehört habe, oder daran, dass versucht wurde, diese Geschichten als kohärent darzustellen, wie es Religionsgemeinschaften nun gern mit ihren heiligen Texten tun, und eben diesen damit so viel Gewalt angetan wird, dass sich ein System unmöglich ausmachen lässt.
Damit hat man an meiner persönlichen Interessenlage vorbeigepredigt, denn für mich werden diese Erzählungen erst interessant, wenn man sie nicht aus falsch verstandener Gläubigkeit schönfärbt, sondern den in ihnen ganz wesentlich angelegten Konflikt herausarbeitet, der die Entstehung des Christentums mehr zum Politpoker als zur Heilsgeschichte macht. Mit klaren Worten und ohne Angst vor seinem Stoff tut dies Emmanuel Carrères Biographie-Tripple Das Reich Gottes, in dem er neben seinem eigenen Weg vom Agnostiker zum Katholiken und zurück die Lebens- und Wirkgeschichten der Bibelautoren Paulus und Lukas erzählt und dabei die Entstehung des Christentums im ersten Jahrhundert in seinem historischen Kontext zeigt.
Dieser Konflikt, den ich bei Carrère erstmals wirklich verstanden habe, ist der frühchristliche Streit um die Frage, ob man eine jüdische Reformationsbewegung sei oder aber eine neue Religion. Und vor allem: Wer dabei auf welcher Seite stand, warum eine Gruppe gewonnen hat und schließlich, wie diese konkurrierenden Ansichten die Evangelien und Briefe des Neuen Testaments färben. Carrère hängt dies an der Person Paulus auf, der die Seite der neuen Religion vertritt.
Um die Ausgangslage in Erinnerung zu rufen: Jesus hat hauptsächlich in den jüdischen Provinzen Roms gepredigt und dort eine Reihe von jüdischen Jüngern um sich versammelt. Nach seinem Tod bildeten diese Jünger reformierte jüdische Gemeinden in und um Jerusalem, verstanden sich selbst aber weiterhin als Juden, beteten im Tempel und hielten sich an die jüdischen Gesetze. Paulus schloss sich ihrem Glauben an die Auferstehung Jesu erst nach dessen Tod an. Er kannte Jesus also nicht persönlich, und die Judenchristen standen ihm extrem misstrauisch gegenüber, weil er vor seiner visionsinduzierten instantanen Bekehrung die Anhänger dieses neuen Glaubens verfolgt und umgebracht hatte. Man ging sich deshalb meist aus dem Weg und Paulus predigte vor allem in den griechischen Provinzen Roms zu den dortigen jüdischen Gemeinden aber auch zu den dort natürlich zahlreicheren Nichtjuden, die Jesus wenig interessiert haben, darunter der Goi Lukas, der in Form der »Apostelgeschichte« eine Biographie Paulus‘ schrieb, so zumindest nach Carrères Vorstellung. Ob Paulus‘ Freund und Kollege Lukas tatsächlich mit dem Evangelisten Lukas identisch ist, ist eine Frage, zu der Wikipedia sich nicht festlegt und die also nicht zu beantworten ist.
Und hier wird es aufregend, denn Paulus predigt den von ihm gegründeten Gemeinden etwas ganz anderes als die judenchristlichen Gemeinden in Jerusalem rund um Petrus, Johannes und Jesus´ Bruder Jakobus es tun, nämlich dass das jüdische Gesetz nicht mehr gelte, was sich exemplarisch, aber natürlich nicht ausschließlich, in der Beschneidung manifestiert.
Soweit ist das ganze kanonisch, doch bei Carrère geht es unorthodoxer weiter als es sich neutestamentarisch absichern lässt: Nach Lukas‘ Darstellung in der »Apostelgeschichte« treffen sich Paulus und die Vertreter der Jerusalemer Gemeinden, bestehend aus Jesus´ ursprünglichen Aposteln und Verwandten, in Jerusalem zum Konzil, wo sich Paulus im Wesentlichen durchsetzt: Mit der Beschneidung und fast dem ganzen jüdischen Gesetz ist es vorbei, womit der neue Glaube nicht mehr anschlussfähig ans Judentum ist und also in der Konsequenz eine neue Religion etabliert wird.
Doch Carrère glaubt nicht recht an diese Einigung und sieht hierin die völlig unterschiedlichen Entwürfe des Christentums begründet, die sich aus den verschiedenen Evangelien und den Briefen unterschiedlicher Absender ergeben: Auf der einen Seite das Jerusalemer Christentum, das große Ähnlichkeit zum Judentum hat und das um die historische Person Jesus von Nazareth kreist, die viele dort persönlich kannten. Und auf der anderen Seite das hellenisierte Christentum Paulus‘, der Jesus nicht kannte und von »seinem [d.i. Paulus] Evangelium« spricht, das er durch persönliche Offenbarung durch »Christus«, den Gesalbten, empfangen hat, und nicht von einem historischen »Jesus«. Hier liegt Carrères größter Erfolg: herauszustellen, was für radikal unterschiedliche Ausgangspunkte es sind, von einem abstrakten Christus, Logos und Sohn Gottes zu sprechen, dem man nie begegnet und der auferstanden ist, oder von einem ehemaligen Nachbarn, mit dem man drei Jahre durch die Welt gebummelt ist und dessen Mutter noch immer um die Ecke wohnt, den man nicht Christus, den Gesalbten, nennt, sondern Jesus, ein Name, der, wie Carrère trefflich betont, damals ungefähr »Horst oder Dieter« entsprach.
Emmanuel Carrère
Das Reich Gottes
Matthes & Seitz: Berlin 2016
524 Seiten, 24,90€
In Carrères Schilderung ist Lukas ein guter Parteisoldat, der in seinem Evangelium und in der »Apostelgeschichte« der Paulinischen Religion folgt und den Konflikt als weitgehend gelöst darstellt. Aber es sind eben nicht alle neutestamentarischen Texte von Paulinischen Christen, und so scheint der Konflikt in den restlichen Evangelien und Briefen nach Carrères Ansicht überall durch. Als Beispiel nennt er neben weniger kontroversen Fällen auch die Eröffnung der Offenbarung des Johannes. Dieser von einem judenchristlichen Autor geschriebene Text beginnt mit sieben Briefen an von Paulus gegründete Gemeinden, also an die Konkurrenz, in denen diese größtenteils scharf zurechtgewiesen werden.
Dieses Bild der Urchristen als in zwei Lager gespaltene Konkurrenzunternehmen möchte Carrère vermitteln und tut es hervorragend. Doch natürlich ließe sich das genauso einer Einführung ins Christentum entnehmen. Carrères Erzählung hat einer trocken-historischen Darstellung jedoch ihren belletristischen Charakter voraus. Sie empfiehlt sich durch ihre Sprache und Anschaulichkeit und Carrères mangelnde Zurückhaltung, aus religiöser Verbundenheit vor Erfindungen und Ausschmückungen zurückzuschrecken, die er zwar stets als solche kenntlich macht, aber ausschweifend verwendet, um eine runde Geschichte zu erzählen. Die neutestamentarischen Personen werden so vom generisch Pastoralen zum Konkreten befördert, ihre Positionen und Konflikte nachvollziehbar und insofern auch erst ihre Äußerungen verständlich, insbesondere dort, wo sie sich widersprechen.
Moderne Textwissenschaftler, seien es Historiker oder Literaturwissenschaftler, mit ihrer stets zentralen Frage »Wer spricht warum zu wem« stehen in einem Konflikt zum religiösen Leser des Neuen Testaments, der den Sprecher letztlich immer mit Gott und den Adressaten mit sich selbst identifizieren muss. Carrères historischer Blick auf die neutestamentarischen und die säkularen Quellen, insbesondere Flavius Josephus und Tacitus, hebt diesen Sonntagsschulschleier und ermöglicht so ein besseres Verständnis der Textsammlung Neues Testament. Als dieses Projekt ist es unbedingt der eingangs identifizierten Gruppe derjenigen zu empfehlen, die wie ich nur über religiös oder religionsfeindlich gefärbtes Halbwissen verfügen.
Aber Carrère möchte noch mehr als nur eine Geschichte der Urkirche erzählen, und hier finden sich die Schwächen des Textes. Seine Paulus- und Lukas-Biographien sind wundervoll, doch seine Exkurse zur eigenen Person sind so überflüssig wie zum Glück auch unterhaltsam. Carrère stellt heraus, wie sehr die neutestamentarischen Schriften von der Selbstdarstellung und der innerkirchlichen Positionierung ihrer Autoren geprägt sind. Mit den biographischen Exkursen zu seiner eigenen Person soll wohl in Parallelisierung verdeutlicht werden, aus welcher Position er selbst schreibt: Derjenigen eines Agnostikers, der nach einem Erweckungserlebnis für Jahre extrem katholisch war, um dann wieder zum Agnostiker zu werden und jetzt die biblischen Texte nicht mehr als Offenbarung nimmt, aber als Literatur und historische Dokumente liebt. Damit zeichnet er sich selbst als religiös, geschichtlich gebildet und ehrfürchtig vor den Texten aus, aber zugleich als Beobachter, dessen Blick nicht durch eigene Gläubigkeit getrübt ist. Und er lädt ein zum Vergleich seiner eigenen Person mit Lukas und Paulus, denen allen etwa gleich viel Text gewidmet wird. Das hätte nicht sein müssen, es tut dem Ganzen aber auch keinen großen Abbruch.