Das Comeback des Ich

Beim Literaturherbst liest Judith Hermann aus ihrem neuen Roman Daheim, in dem die Protagonistin nach Umbrüchen in ihrem Leben ihren Platz in der Welt sucht. Ein Abend über einen Roman, der mehr ist als ein Buch über eine frisch geschiedene Frau.

Von Lennart Speck

Bild: Dietrich Kühne

Die Feuchtigkeit des regnerischen Mittwochabends ist im Saal des Alten Rathauses in Göttingen nicht mehr zu spüren, die Regenschirme wurden auf der Treppe nach oben ausgeklopft. Plätze wurden gesucht, es wurde sich niedergelassen und Stuhl an Stuhl auf die Autorin gewartet. Kurze Zeit später geht rechts neben der Bühne eine Tür auf und heraus kommen die Autorin Judith Hermann und der Moderator Gerhard Kaiser. Bekannt ist dieser vielen Studierenden als Professor der Literaturwissenschaft am Seminar für Deutsche Philologie und vielen Gästen:innen als Moderator bei vergangenen Veranstaltungen des Literaturherbstes.

Der Moderator verzichtet auf eine lange Vorstellung von Judith Hermann, er baut hier auf die Popularität der Autorin, um eben nicht jeden Literaturpreis erwähnen zu müssen, den sie bereits erhalten hat. Im Mittelpunkt des Abends stehen der Schreibprozess und der Roman, der vor der Autorin auf dem Tisch liegt, eine Ausgabe, die sie schon lange bei sich trägt, abgenutzte weiße Griffränder am Schutzumschlag. Ihr Buch wie ihr Auftritt zeugen von Erfahrungen aus vielen Jahren Literaturlesungen, so lassen sich die Autorin und der Moderator nicht aus der Ruhe bringen. Das Gespräch gleicht einem Ping-Pong-Spiel, das für die Zuschauer:innen angenehm zu verfolgen ist. Gerhard Kaiser greift zum Ball und wirft ihn in die Luft, um ihn Hermann zuzuspielen, als er den Roman vorstellt und seine Interpretation des Buches den Zuschauer:innen und der Autorin selbst präsentiert.

Coming of Age mit 50

In gewisser Weise sei »Daheim« ein Coming of Age-Roman, nur eben nicht im Alter von 18 Jahren, sondern mit 50, so Kaiser. Doch jede:r, der oder die jetzt denkt, es handele sich hier um einen Roman der Generation der »Baby-Boomer«, zielt daneben. Denn darin tut eine Frau, die sich nach dem Auszug ihrer Tochter von ihrem Mann trennt, der ein notorischer Sammler und von Angst und Untergangsszenarien zermürbter Mensch ist, etwas, das es nicht zu unterschätzen gilt: Sie befreit sich und horcht in sich hinein. Sie spürt in sich hinein, ob dort nicht etwas ist wie eine Kompassnadel, die einen neuen eigenen Nordpol aufgetan hat.

Die erste Frage Kaisers beschäftigt sich mit der Kanonisierung der Autorin und ihrer Wahrnehmung ihres eigenen Werks. Ihr Roman Sommerhaus, später ist mittlerweile Schullektüre, neben Goethe und Kleist, wie sie schmunzelnd feststellt. Hermann erzählt dann von einem Gespräch mit Schüler:innen über Daheim. Unter anderem ging es darin um eine Textstelle, in der ein Zauberer in das Leben der Protagonistin tritt, der sich wünscht, dass sie für ihn »die zersägte Jungfrau« spielt. Sie solle sich im Zuhause des Zauberers in eine Kiste legen und sich von ihm zersägen lassen – nach langen Überlegen tut sie dies auch.

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Judith Hermann
Daheim

Fischer: Frankfurt am Main 2021
192 Seiten, 21,00€

Die Schüler:innen seien der Meinung gewesen, dass sie sich niemals bei dem Zauberer in die Kiste legen würden, dennoch würden sie das von ihm offerierte Angebot annehmen, mit ihm auf einem Kreuzschiff nach Singapur zu fahren und dort die Zaubershow mitzumachen. Dies lässt Hermann zu der Aussage verleiten, dass sie das nicht verstehe, denn das Leben solle mit einer bestimmten Risikobereitschaft angegangen werden, sie hätte auch einige Dinge gemacht, die nicht ungefährlich seien, aber funktioniert haben. Ob aber eine hohe Risikobereitschaft für das Leben erstrebenswert ist, das sei mal dahingestellt.

Die zweite, etwas angestaubte Frage betrifft den Schreibprozess der Autorin. Laut Hermann ist es ihr Aufgabe, den Text zu moderieren und zu modifizieren. Hermanns Lakonie ist bewusst gewählt und verfolgt einen poetologischen Kniff, denn durch die matte bisweilen traurig anmutende Sprache lässt sie Lesenden gerne einen Bereich für die eigene, individuelle Interpretation offen.

Das Ich und offene Fragen

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Literaturherbst 2021

Vom 23. Oktober bis 7. November fand der 30. Göttinger Literaturherbst statt. Als Nachklapp veröffentlicht Litlog in der Woche ab dem 8. November jeden Tag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms. Hier findet ihr unsere Berichterstattung im Überblick.

Der letzte Teil, den Judith Herman vorliest, zeigt die Struktur des Buches. Durch den Habitus Arilds, Bauer und Bruder einer Figur, beim Essen wird die Erzählerin an ihren Mann Otis erinnert. Dieses Erinnern ist eine der tragenden Säulen der Erzählung: Wie geht die Einzelne mit ihrer Vergangenheit um? Um wen geht es? Auf wen konzentriert sich jede:r? Diese Erinnerungen sind der Schlüssel zum eigenen Ich und eigenen Sein. Immer wieder geht den Zuschauer:innen ein Licht auf, die Fokussierung des Selbst auf die Beziehungen zu anderen zeigt sich, weil in diesem Buch nicht nur Individuen, sondern auch Kosmen aufeinandertreffen. Jede:r in diesem Buch, so die Autorin im Zwiegespräch mit Kaiser, sei wie ein Trabant, der eine Sonne habe, um die er kreise. Für die Erzählerin sei diese Sonne Otis und Ann, die Tochter und der Mann. Diese Fokussierung auf den eigenen Kosmos wird auch durch die Nichtverwendung der wörtlichen Rede deutlich, denn zwischen der Welt mit den anderen Figuren und der Erzählerin bleibt eine Wand. Die Erzählerin scheut sich, das Eigene zu verlassen und die Partizipation dadurch zuzulassen, dass sie aktiv und lebendig spricht. Judith Hermann macht deutlich, dass ihr Schaffen zusammenhängt, denn »die Erzählerin ist ein und dieselbe Person wie in Sommerhaus, später«.

Die Veranstaltung endet mit der Aussage Kaisers, dass doch so viel noch besprochen werden könnte. Das stimmt, denn es fehlt etwas, das Potenzial des Buches geht tiefer, als der Abend gezeigt hat: In der Erzählung taucht immer wieder die Natur als Referenzpunkt auf, immer wieder tritt das Individuelle so deutlich hervor, dass man sich fragt: Warum? Darin angedeutete spannende Themen der Gegenwartsliteratur aber bleiben unerwähnt: Eine Frau, die sich scheiden lässt und den eigenen Kosmos entdeckt, Männerfiguren, die zaghafte Schatten bleiben, und Töchter und andere junge Frauen, die mehr Rätsel als Antworten auf den Weg geben. Aber zu guter Letzt ist der Sand durch das Stundenglas gelaufen und wie immer schon geht der Vorhang zu und alle Fragen bleiben offen.

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