Ferdinand von Schirach steht rauchend auf der Bühne der Göttinger Lokhalle und philosophiert über das Leben: So präsentiert der Autor seinen Theatermonolog Regen im Rahmen des Literaturherbsts. Trotz der Mängel von Text und Performance überzeugt von Schirach.
Von Marie Bruschek
Bild: Ferdinand von Schirach bei der Premiere von »Regen« in der Berliner Philharmonie im Oktober. © André Kowalski
Der Saal ist ausverkauft, der Altersdurchschnitt im Publikum bei mindestens 45, die Stimmung gespannt – und dann ertönt Jubel aus allen Ecken. Ferdinand von Schirach tritt auf die minimalistisch eingerichtete Bühne. Ein schwarzer Vorhang bildet den Hintergrund, ein Tisch und ein Stuhl stehen links, sonst herrscht Leere. Das ist das Setting, vor dem Schirach die nächsten anderthalb Stunden auf und ab tigert, zwischendurch sitzt, Eiswasser trinkt und Zigaretten raucht. Es ist offensichtlich: Das hier ist keine klassische Lesung, sondern ein Schauspiel. Der Bestsellerautor performt seinen Theatermonolog Regen – Eine Liebeserklärung, der dieses Jahr beim Luchterhand Literaturverlag erschien. Von der Kritik eher gemischt aufgenommen, hat Schirach live doch eine andere Wirkung.
Schirach spielt sich selbst
»Mögen Sie Regen?« Diese Frage eröffnet den Abend. Gelächter aus dem Publikum, trocken und sachlich steigt der Debütschauspieler ein. Schirach verkörpert einen namenlosen Mann, der gerade durchnässt in eine Bar kommt – wobei die Zuschauer:innen tatsächlich nass sind, es regnete zuvor in Göttingen. Inhaltlich ist die Aufführung deckungsgleich mit dem schon veröffentlichten Text: Die rund 60 Seiten Monolog kommen locker gesprochen von Schirach, es wirkt nicht wie auswendig gelernter Text, sondern authentisch. Haben bereits einige Kritiker:innen nach der Lektüre des Buches angemerkt, wie ähnlich der Sprecher des Monologs seinem Autor sei, so wird das auf der Bühne besonders deutlich. Schirach scheint an vielen Stellen sich selbst zu spielen; wer Interviews mit ihm kennt, wird Zeuge einer Performance, die sich nie weit von den Haltungen und der Ausdrucksweise der realen Person bewegt.
Er spielt hier einen Schriftsteller, der zum Schöffen berufen wurde: Dieser muss also als Laienrichter über einen Mord richten. Der Monolog spielt in einer Bar am Abend des ersten Verhandlungstages, der ihn mit einer ganz konkreten Aufgabe konfrontiert hat. Da er aufgrund von Befangenheit abgelehnt wurde, muss der Mann jetzt eine sogenannte dienstliche Erklärung schreiben und dazu Stellung nehmen. Dies wirft Probleme auf, denn seit 17 Jahren leidet der Autor unter einer Schreibblockade, seit vor 17 Jahren seine damalige Partnerin starb – sein sogenannter »Lebensmensch«. Seither herrscht eine kreative Flaute, nur einen Gedichtband hat er bis dato verfasst, den nur sie las. Das ist das Grundgerüst, ein Absprungbrett zu etlichen Exkursen über den modernen Menschen, Kunst, Natur, Wissenschaft oder Hemingways Kommentar zu Fitzgeralds Penis.
Dabei ist die Lokhalle meistens still, alle lauschen den Gedanken des Sprechers. Zitate, die schon im Text hervorstechen, werden hier mit beinahe angehaltenem Atem verfolgt:
»Sehen Sie, wir können jedem vergeben. Unseren Eltern, unseren Kindern, unseren Freunden und selbst unseren Feinden. Nur uns selbst können wir nicht vergeben, das ist nicht möglich. Niemand kann sich selbst seine Schuld erlassen, das kann nur der Gläubiger tun. Ihre eigene Schuld verjährt nicht. Damit müssen Sie leben. Oder eben auch nicht.«
Wissen Sie, ob man hier rauchen darf?
Was in Textform der Fantasie der Leser:innen überlassen wird, spielt Schirach jetzt aus. »Wissen Sie, ob man hier rauchen darf?«, fragt er. »Ah ja, danke.«
Und dann klickt das Feuerzeug, Rauch durchzieht das Scheinwerferlicht. Hat er sich etwas aufgeschrieben, zieht er ein kleines Notizbuch aus dem Jackett und setzt die Brille auf, redet er von seinem Eiswasser, nimmt er einen Schluck und so weiter. Das sind nur kleine Details, doch was geschrieben teilweise unglaubwürdig erscheint, trägt hier zur Authentizität bei.
Auch stimmlich verleiht der Auftritt dem Text Tiefe. Mit angenehmem, ruhigem Ton arbeitet Schirach. An manchen Stellen wird er lauter, bevor er sich selbst zur Beruhigung ermahnt. So vernetzen sich die unzähligen Anekdoten auf andere Weise. Zwar hat das Ganze immer noch einen Beigeschmack von Pseudo-Intellekt und prätentiösem Gejammer, doch wird aus der missmutigen Traurigkeit an vielen Stellen Komik. Die an sein Gegenüber in der Bar gerichteten Fragen, die im Buch in der Luft hängen bleiben, sorgen hier für eine direkte Interaktion.
So lacht das Publikum bei seiner naturpessimistischen Analyse des Badeurlaubs auf, die Aussage »Das Praktische und das Funktionelle und das Natürliche führen direkt in die Hölle« sorgt für Jubel, da klatscht der weiße Ü50-Intellektuelle. Auch dass die Griechen das Pantheon gebaut haben, wir heute aber nur den Berliner Flughafen hinbekommen, ist Grund zur Begeisterung. Es ist klar: Dieser Text lebt von Ferdinand von Schirach, nur mit seiner Stimme und seiner Person wird aus dem schwer zu ertragenden monologisierenden Protagonisten ein an Stellen feingeistiger Witzereißer. Das macht das Ganze unterhaltsam, kann aber die Schwächen des Textes nicht vollständig ausgleichen. Erscheint der Hass gegen den Rucksack als Zeichen des Untergangs schon geschrieben albern, so wirkt dieser auch laut ausgesprochen weiterhin weltfremd. Zudem betont der Auftritt die Redundanz des Skripts: Ist in der ersten Hälfte noch alles neu, wiederholen sich danach (bis auf das Ende) viele Gedanken und Gefühle in andere Exkurse und Anekdoten verpackt.
Ein Huschen von der Bühne
Ferdinand von Schirach kann performen, das ist klar. Von Nervosität ist keine Spur zu sehen, seelenruhig liefert er seinen Bestseller Regen ab. Am Ende ausuferndes Klatschen, zu Recht: Schirach live zu sehen lohnt sich. Das wertet den Monolog inhaltlich auf, ändert die grundsätzliche Kritik daran jedoch nicht. Die 20 Euro für den dünnen Band (gestreckt mit einem Interview aus der Süddeutschen Zeitung) kann man sich sparen, das Bühnendebüt ist trotz seiner Mängel unterhaltsam – noch bis nächstes Jahr ist er in ganz Deutschland zu sehen. Sympathiepunkte sammelt Schirach zum Schluss: Nach einer Verbeugung verschwindet er von der Bühne, kommt aber noch ein zweites Mal hervor, da das Klatschen anhält. Der Jubel geht weiter, doch Schirach wird das zu viel, jetzt huscht er endgültig davon.