Triggerwarnung: Erwähnung von Antisemitismus, Gewalt und Mord
Die am ThOP, die trauen sich was: Mit Gnadentod von Ingrid Storz schlägt die Regisseurin Orthey Stoll eins der grausigsten Kapitel der NS-Geschichte auf. Nach einer rundum gelungenen Inszenierung von Max Frischs Andorra vor kurzem ist nun das nächste Stück zur rechten Zeit fällig.
Von Stefan Walfort
Bild: © Dirk Opitz
Nikolausberger Weg, am Tag nach der Premiere: An einem Laternenmast hängt das Gnadentod-Plakat mit den Umrissen eines Kopfes und einer Waffe drauf, die auf ihn zielt. Am Wegrand präsentiert der Aufsteller eines Kiosks die Tagesschlagzeile der Bildzeitung. Zu einer unvorteilhaft geschossenen Nahaufnahme eines Mannes, abstoßend wirkend, verwahrlost, heißt es: »Der faulste Arbeitslose Deutschlands jubelt: ›Jetzt gibt᾽s Hartz IV auf dem Silbertablett!‹« Damit bezieht sich die Bild auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Arbeitsagenturen dürfen Menschen nun nicht länger ihr Existenzminimum kürzen.
Oben mahnt das Plakat des ThOP vor dem, was ab 1933 aus der Entrechtung als »unnütz« stigmatisierter Menschen folgte, unten praktiziert ein Teil der Presse längst wieder eine ähnliche Art von Aufwiegelei. Was der Pressekodex zu so etwas sagt? Ist scheinbar schnuppe – genau wie die Würde des Menschen, der das Grundgesetz eigentlich oberste Priorität einräumt und die die Vereinten Nationen, Dietmar von der Pfordten zufolge, 1948 als Konsequenz aus »den großen staatlichen Verbrechen vor und während des 2. Weltkriegs [als] im Kern unveränderliche, notwendige und allgemeine Eigenschaft« festgeschrieben haben, »die nicht erst erworben wird und die nicht verloren werden kann.«
Hauptsache die Kasse klingelt. Aber in Zeiten des Rechtsrucks mangelt es ja zum Glück nicht an geistig und gefühlsmäßig Verkümmerten, denen redlicher und diskriminierungsfreier Journalismus sonst wo vorbeigeht. Das Gnadentod-Stück kommt offenbar zur rechten Zeit auf die Bretter; hoffentlich werden viele es sehen und sich davon berühren lassen. Leider waren in der Premiere die Reihen noch spärlich besetzt.
Die Fratze des Fanatismus
Zu Beginn tritt als SA-Mann im Braunhemd Jonas Salm an eine Fachwerkkulisse. Fröhlich pfeifend schreibt er die Jahreszahl 1933 daran. Darauffolgende Szenen spielen bis 1940 hinein und werden für das Publikum gut sichtbar jeweils mit schwarzem Filzstift auf der Kulisse eingeordnet. Gegenüber gibt es ein rustikales Tischchen mit weißem Spitzendeckchen, an der Wand Bilder von gestickten Blümchen. Familie Bitter geht hier ein und aus – Eugen, die Hauptfigur, Veteran des Ersten Weltkriegs, schwer traumatisiert, vom Militär angewidert und inzwischen stolzer Sozialdemokrat, dessen Gattin Eugenie, Tochter Lena und Sohn Max. Letzteren wissen die Nazis neuerdings erfolgreich zu umgarnen, allen Warnungen des Vaters zum Trotz. Adolf Hitler, so ist Max sich sicher, »wird uns allen Arbeit geben«. Beim gemeinsamen Essen beschwört er regelmäßig Zoff herauf: »Die Kommunisten und du und deine Sozialdemokraten machen unser Land kaputt«, so herrscht er den Vater an und droht gar, ihn bei »meinen neuen Freunden« einer defätistischen Gesinnung wegen anzuschwärzen.
Kurz darauf tritt er voller Zuversicht in die Hitlerjugend ein. Zuhause treibt er mit ständigen Provokationen seine Familie zur Verzweiflung. Bei der Hochzeitsfeier seiner Schwester heißt es, er habe sich freiwillig zum Fronteinsatz gemeldet und werde bald schon einrücken. Mit glockenklarer Stimme und loderndem Feuer im Blick schleudert er seiner Mutter entgegen:
Hinter dem jugendlichen Gesichtchen lugt hier die hässliche Fratze des Fanatismus hervor – in Reinform, wie ihn die NS-Ideologie zum Ideal erhob. Matthias Hofmann ist in der Rolle zweifelsohne der Sprachgewaltigste des Abends, und es fällt später gar nicht leicht, aus dem Fiktionalitätsmodus herausgerissen zu begreifen, dass nicht dem Hitlerjungen, sondern Hofmann als Schauspieler der gewaltige Applaus gilt, der ihm zuteilwerden wird.
»›Du bist nichts, dein Volk ist alles‹, heißt eines ihrer Spruchbänder«, so schrieb der mit Berufsverbot belegte und verfolgte jüdische Philologe Victor Klemperer in seinem Standardwerk LTI über eines der wirkmächtigsten Dogmen der Nationalsozialisten. »Das bedeutet: du bist nie mit dir selbst, nie mit den Deinen allein, du stehst immer im Angesicht deines Volkes«. Mit Max ist inmitten der Bitters die Personifikation dieses Prinzips par excellence herangewachsen. Für Eugen hängt fortan das Damoklesschwert des Verrats über dem Haupt. Wohin er auch geht, er fühlt sich von Angehörigen der SS bedroht. Bei der Hochzeitsfeier seiner Tochter greift er sogar einen Freund der Familie, Michael Neumann (Justin Middecke), mit einem Stuhl an. Von Eugenie beschwichtigt, »Michael ist der letzte Mensch, der uns etwas antun könnte […] Das hat er doch genug bewiesen«, lässt Eugen schließlich ab und räumt ein, allem Anschein nach halluziniert zu haben.
In letzter Zeit klagt er vermehrt über Kopfschmerzen. Ein Arzt, den er nach Wochen des Leidens, auf gutes Zureden Eugenies hin endlich aufsucht, stellt fest, dass sich Eugen während seiner Soldatenzeit »wahrscheinlich einen Granatsplitter« zugezogen hat. Dringend gehöre er herausoperiert. Die Privilegien der Profiteure
Kaum eingewilligt, holen ihn zwei Pfleger in weißen Kitteln ab. Der Clou daran: es handelt sich um Jonas Salm und Clemens Ibrom, die das Publikum in vorherigen Szenen mal als SA-Männer, mal als Gestapo-Mitarbeiter kennengelernt hat – als diejenigen, denen Eugens Argwohn galt, als diejenigen, die nachts beim jüdischen Nachbarn Goldbaum (Johannes Uhlig) randaliert und ihn eines Tages auf Nimmerwiedersehen abgeholt hatten. Auch hatte der eine (Ibrom) vor dem anderen damit geprahlt »dem Juwelier in der Bergstraße die Fresse poliert« und Schmuck geklaut zu haben:
Deutlicher könnte er gar nicht verraten, worin für ihn wie für die allermeisten nichtjüdischen Deutschen das Verlockende an dem NS-System lag. Der Historiker Götz Aly charakterisierte es dementsprechend in Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus als eine »Gefälligkeitsdiktatur«. Im Kern machte sie aus, dass sie die Entrechtung der Opfer unmittelbar mit den Privilegien der Profiteure verkoppelte – zwei Seiten der gleichen Medaille oder mit den Worten Alys: »Das materiell üppige Sein, der indirekte, nicht persönlich verantwortete, doch gern genommene Vorteil aus den Großverbrechen bestimmte das Bewusstsein der meisten Deutschen von der Fürsorglichkeit ihres Regimes«.
Und nun, in weißen Kitteln, legen die beiden Typen auf der Bühne den gleichen Zynismus wie in ihren vorherigen Rollen an den Tag, durchwühlen die Wohnung, belästigen Eugenie mit anzüglichen Bemerkungen, schlagen Eugen und beschimpfen ihn als geisteskrank. Ob seine Angst nicht doch von Anfang an einer tatsächlichen Gefahr statt nur dem Splitter geschuldet war?
Weder Monster noch verhinderte Systemfeinde
Eugen verschwindet schließlich in Grafeneck, einem von »sechs Tötungszentren«, in denen die Nationalsozialisten als »lebensunwert« diffamierte Kranke ermordeten. »Insgesamt wurden im Rahmen der ›Euthanasie‹-Aktionen in ganz Europa etwa 200.000 bis 300.000 Menschen getötet, die nicht als rentabel oder nützlich für die Gesellschaft galten«, seit Hitler Anfang September 1939 den Chef seiner Reichskanzlei Philipp Bouhler und den Arzt Karl Brandt mit der Organisation der T4-Aktion genannten »Euthanasie«-Programme betraute. Den Originalwortlaut Hitlers hat die Gnadentod-Autorin Ingrid Storz ihrem Stück vorangestellt. Er sieht vor, dass »nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden« möge. War der Erlass ohnehin von vornherein euphemistisch gemeint, typisch für die NS-Rechtspraxis, so führt das ThOP-Ensemble im weiteren Verlauf vor, zu welcher Willkür er ermächtigte.
Den Angehörigen tischt man Fantasie-Todesursachen auf und bedroht sie, falls sie sich nicht zufriedenstellen lassen. Gemeinsam mit Eugen verschwinden weitere Opfer – als SS-Schergen treiben Salm und Ibrom sie mit ihrer üblichen Herablassung in das Hintere eines Viehwagens hinein. Ähnlich wie bei der »Judenschau« in Andorra, um deren Umsetzung sich Regiseur*innen ansonsten oft drücken, nicht so jedoch Barbara Korte am ThOP, fährt einem die Szene eisige Kälte durch die Knochen. Während der Gnadentod-Text an sich auch mit fragwürdigen Komponenten aufwartet, mit menschelnden NSDAPlern wie Neumann oder passagenweise mit der Insinuation, nichtjüdische deutsche Familien seien lauter Widerstandsnester gewesen, bringt das Team um Orthey Stoll es dennoch fertig, das im Stück gleichsam angelegte Potenzial zu einem sehr viel komplexeren, nah an geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichteten Gegennarrativ voll zu entfalten. NS-konform Handelnde erscheinen weder als sadistische Monster noch als durch Schicksal verhinderte Systemfeinde. Vielmehr wird sichtbar, wie sehr sie auf ihren Vorteil bedacht sind. Dementsprechend setzen sie sehr individuelle Prioritäten auf ihre ganz eigenen Agenden.
Ein versöhnlicheres Ende wäre so unangebracht gewesen wie jedes andere geschichtsklitternde Kolorit, das zum Greifen nahe gewesen wäre. Stattdessen hat das Ensemble Gnadentod großartig umgesetzt. Nur so und nicht anders sollte man mit der Shoah auf der Bühne umgehen.
ThOP
Das Theater im OP (ThOP) ist das Universitätstheater der Georg-August-Universität Göttingen. Gegründet wurde es 1984 von der dramaturgischen Abteilung des Seminars für Deutsche Philologie. Seine Aufgabe ist die Vermittlung theaterpraktischer Kompetenzen. Gespielt wird in einem ehemaligen Schauoperationssaal einer alten chirurgischen Klinik. Das Publikum sitzt zu zwei Seiten auf Tribünen, das Schauspiel findet vorwiegend in der Saalmitte statt. Mehr? Hier.