Nell Zinks Roman Nikotin erzählt von Penny, welche mit dem Tod ihres Vaters zur Hausbesitzerin wird. Als Penny sich die Immobilie anschaut und auf die fünf Bewohner ihres Hauses trifft, ist sie fassungslos. Doch dann verknallt sie sich in mindestens einen der Hausbesetzer*innen.
Von Emilia Kröger
Willkommen im Nicotine! Hier wohnen Rob, Sorry, Jazz, Anka und Tony. Das verfallene Haus in Jersey City haben sie selbst renoviert und besetzt, es wird von der Community Housing Action verwaltet, die das bei verschiedenen Immobilien für politische Aktivist*innen macht. Die Wohngemeinschaft im Nicotine beruht auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner: Alle fünf sind Tabakkonsumenten*innen und werden deswegen von anderen Aktivist*innen ausgegrenzt, oder wie Sorry es formuliert:
Ansonsten sind die Bewohner*innen des Nicotines, die Nell Zink in ihrem Roman Nikotin entwirft, recht verschieden: Rob ist ein asexueller, aber unglaublich attraktiver junger Mann, der kaputte Fahrräder sammelt und repariert. Sorry trägt am liebsten alberne, schrill-bunte Outfits und hat sich ihren Lebensunterhalt als Medikamententesterin verdient, bis sie davon manisch wurde. Anka ist die einzige Berufstätige im Haus, sie hat einen Job bei einer Hilfestelle für Aids-Kranke, der sie psychisch sehr belastet. Wenn sie nicht arbeitet, malt sie durchschnittlich gute Porträts ihrer Freunde. Über Tony lässt sich nicht allzu viel sagen, er ist der älteste Bewohner und keiner der anderen versteht, was in ihm vorgeht. Auch Jazz ist eine eher mysteriöse Figur, sie baut ihren eigenen Tabak an, pflegt einen offenen Umgang mit Sexualität und schreibt Gedichte.
Pennys Besuch im Nicotine
Obwohl die Bewohner*innen ungewöhnlicher nicht sein könnten, leben sie ein alltägliches Leben im Nicotine: Gemeinsames Kochen, Ausflüge, Spieleabende – alles läuft in gewohnten Bahnen. Bis eines Tages Penny vor der Tür steht. Nach ihrem Studienabschluss stirbt ihr Vater Norm unerwartet. Da Pennys Mietvertrag über ihren nun verstorbenen Vater läuft, wird ihr daraufhin auch noch die Wohnung gekündigt. Als Erbe hinterlässt Norm Penny jedoch nicht nur eine zerrüttete Familie und die Obdachlosigkeit, sondern ein paar Immobilien, zu denen auch das besetzte Haus in Jersey City gehört. Pennys Großeltern haben hier gelebt, bis sie bei einem Brand in dem Haus starben. Seitdem stand das Gebäude leer – dachte Penny jedenfalls, bis sie zu dem Haus fährt und auf Rob trifft. Er zeigt ihr das Nicotine in der Annahme sie sei eine politische Aktivistin auf Wohnungssuche, denn sie erzählt nichts von ihrem familiären Hintergrund.
Da Penny sich nach dem ersten Gespräch relativ schnell in Rob verknallt und sich ausreichend gut mit den anderen Bewohnern des Hauses versteht, beschließt sie dort einzuziehen. Das Problem: Alle Zimmer sind schon belegt. Also schlagen ihr die Bewohner des Hauses vor sich im Tranquility vorzustellen, einem besetzten Haus um die Ecke. Zwar findet Penny deren Bewohner unsympathischer (»unglückselige Spinner«), aber das ist ihr egal, da sie sowieso nur Robs Nähe suchen wird. Der Aktivismus und die Wohnungsnot sind ihr Alibi.
Die Kontroverse um Identitätspolitik
In den vielen Gesprächen die Penny mit den Bewohnern des Nicotine und anderen besetzen Häusern führt, werden scheinbar beiläufig komplexe Themen, wie der Wert von Arbeit oder der Umgang mit Privilegien verhandelt. In ihrem Aufnahmegespräch im Tranquility stößt Penny die Bewohner vor den Kopf, mit ihrer inkompatiblen Meinung über den Schutz indigener Völker:
In fast allen von diesen Gesprächen problematisiert Nell Zink die Identitätspolitik, um welche es in Amerika spätestens seit Trumps Präsidentschaft eine hitzige Debatte gibt. Auch der moderne Feminismus gerät dabei in Pennys Kritik: Bei einem »Freitags-Potluck« (Picknick) im besetzten feministischen Haus Stayfree zieht die Protagonistin, nachdem sie Bewohner*innen beobachtet hat das Fazit: »Alles scheint doch sehr geschlechtsspezifisch zu sein.«
Wie Schatten und Rauch
Dass Penny in Bezug auf Identitätspolitik eine andere Meinung vertritt als die Aktivist*innen mit denen sie zusammen wohnt, liegt auch an ihrer eigenen hybriden Identität. Pennys Vater Norm hat lange Zeit als Schamane gearbeitet, Pennys Mutter ist eine Kogi aus Kolumbien – doch das ist nicht alles. Die Ausmaße von Pennys verstrickten familiären Verhältnissen werden erst im Laufe des Romans offengelegt. Norm nahm Pennys Mutter Amalia als kleines Mädchen bei sich auf und kümmerte sich um sie. Als aus dem Kind eine junge Frau wurde und die erste Frau Norms Katie die Familie verließ, heirateten Amalia und Norm. Pennys Halbbrüder sind beide älter als ihre Stiefmutter Amalia. Zwischen Matt, dem älteren der beiden Brüder und Amalia gibt es gelegentlich unbedeutende Flirts. Noch komplizierter wird es, als Pennys masochistischer Halbbruder Matt eine Affäre mit Jazz anfängt und Pennys einsame Mutter Amalia sich auf eine Beziehung mit Tony einlässt.
Dieses verworrene Beziehungsgeflecht durchdringt auch Penny erst im Laufe des Romans. Dabei ist dem*der Leser*in nicht immer ganz klar, ob sie wahrheitsgetreu erzählt. Pennys Aussagen werden als unzuverlässig gekennzeichnet, indem sie von einer unbekannten Erzählinstanz beurteilt werden. Als Penny interessiert einen ihrer Mitbewohner mustert und abwägt, ob sie mit ihm ein Verhältnis beginnen möchte, lautet so das Urteil: »Sie empfindet nichts für ihn (jedenfalls nichts Spezielles, wenn er in der Nähe ist), aber sie kennt den Unterschied zwischen oberflächlich und tief nicht mehr. Sind spontane Gefühle etwas Natürliches oder trivial? Sind Gefühle nicht wertvoller, wenn Sie Zeit zum Wachsen brauchen?« Dabei ist Penny sich durchaus bewusst, dass ihr Verhältnis zur Realität etwas losgelöster ist. Ihre familiären Verhältnisse beschreibt sie als »eine Wirklichkeit, so wandelbar wie Schatten und Rauch.«
Nell Zink
Nikotin
Rowohlt: Hamburg 2019
400 Seiten, 12,00€
Es kommt, wie es kommen muss und das Chaos aus Beziehungen, Verlangen, Liebe, Hass und Wut lädt sich solange auf, bis es zu einem Gefühlsausbruch kommt, inklusive eines Schusswechsels und einer Verfolgungsjagd. So kann die Handlung, die Zink entwirft auch in Sachen Spannung punkten. Im Gegensatz dazu hält sich der Ausdruck im Roman konstant unaufgeregt, witzig und sarkastisch. Die Sonne scheint nicht erbarmungslos sondern »knallt atombombengrell«, Menschen sind »stellvertretend verknallt« und Penny hat manchmal ein »Gefühl extremer Seltsamkeit«.
Die chaotischen Strukturen in Nikotin sind anspruchsvoll aber unterhaltsam, vor allen Dingen in Kombination mit Zinks Witz und ihren kreativen Formulierungen. Die Gespräche der detailliert gezeichneten Figuren fallen interessant aus, gerade in Bezug auf die politische Dimension, die in der Kritik an Identitätspolitik steckt. Nell Zink hat einen beiläufig klingenden Roman geschaffen, der auch in dem*der Leser*in oft das Gefühl extremer Seltsamkeit auslösen kann.