Marschlande, der neueste Roman von Jarka Kubsova, dreht sich um den Kampf für weibliche Emanzipation und Gerechtigkeit. Um zwei Frauen, deren Leben fast 500 Jahre auseinanderliegen und die dennoch verflochten sind. Ein aufwühlendes und bedeutsames Werk. Ein tiefer Eindruck, der bleibt.
Von Sidney Lazerus
Schon der erste Satz eröffnet ein finsteres, grausames Kapitel der frühneuzeitlichen Geschichte: »Den Scheiterhaufen zu errichten, dauerte länger als gewöhnlich«. Ein heftiger, aber fesselnder Einstieg in Marschlande, dem 2023 erschienenen Roman von Jarka Kubsova. Die Autorin erschafft mit ihrem Werk eine fiktionale Geschichte, die auf realen Ereignissen basiert. Eine Geschichte, die innig ergreift und nicht ohne starkes Mitgefühl und Wut gelesen werden kann.
Die Realitäten zweier Frauen
Der Roman hat zwei Protagonistinnen: eine Frau aus dem 16. Jahrhundert und eine Frau des 21. Jahrhunderts. Erstere, Abelke Bleken, gab es wirklich. Sie wurde als vermeintliche Hexe verleumdet und am 18. März 1583 in Hamburg hingerichtet. Dem Ende ihrer Geschichte wird mit dem Prolog schon vorweggegriffen, es schwingt beim Lesen von Beginn an unheilvoll im Hintergrund mit. Die Autorin erinnert auf eine unmittelbare Weise an diese historische Frauenfigur, da sie ihr gewissermaßen eine eigene Stimme gibt, welche die Leser:innen an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben und ihr nah sein lässt.
Abelke Bleken, eine sogenannte Hufnerin, die allein und erfolgreich einen großen Hof führt, ist ihren Nachbar:innen ein Dorn im Auge, obwohl sie eine gutgesinnte Frau ist. Sie hat jedoch ihren eigenen Willen, weigert sich unerbittlich, einen Mann zu heiraten, will selbstständig bleiben. Dies ist wohl der Grund, aus dem die Menschen eine Gefahr in ihr sehen, der Grund, weshalb sie anfangen, Gerüchte über sie zu verbreiten. Der:die Leser:in begleitet sie auf ihrem harten Lebensweg, der von mühevollster Arbeit und vielen Rückschlägen geprägt ist. Kubsova schafft es, die Geschichte von Abelke Bleken einschneidend ins Bewusstsein zu bringen, sie und ihren Mut wieder lebendig werden zu lassen. Aufrüttelnd wird das Sujet der Hexenverfolgung mit dem Thema Femizid in Verbindung gebracht, der Zusammenhang erschreckt und elektrisiert zugleich, zeichnet sich als ungemein gewichtig ab.
Die andere Frau, Britta Stoever, lebt in der Gegenwart. Sie zieht mit ihrem Mann und ihren Kindern nach Ochsenwerder, ein Ort direkt an der Elbe in der Landschaft der Vier- und Marschlande Hamburgs. Sie erscheint zunächst passiv, dem:der Leser:in erschließt sich erst sukzessive, warum sie unglücklich ist. Dann wird es deutlich: eine konservative Beziehungsstruktur. Die Frau gibt ihre Karriere für die Familie auf, der Mann geht arbeiten und empfindet sich als Oberhaupt der Familie, das durch das verdiente Geld alles zusammenhält. Britta merkt: So will sie nicht weiterleben. Auf ihrem Weg zu einem freieren Leben stößt sie auf den Namen: Abelke Bleken. Intuitiv spürt sie den Wunsch, mehr über das Leben dieser anderen Frau herauszufinden, die auf genau diesem Land lebte, diese Luft atmete, auf genau derselben Erde stand, wie sie selbst. Dabei lernt sie auch Wertvolles über ihr eigenes Leben.
Ein ewiger Kreislauf?
Durch die von Kapitel zu Kapitel wechselnden Perspektiven zwischen den beiden Protagonistinnen gelingt es der Autorin überzeugend, Parallelen zwischen den zwei völlig unterschiedlichen Frauen und ihrem Kampf um Selbstbestimmung in ihrer jeweiligen Zeit aufzuzeigen. Sie durchleben ganz ähnliche intensive Emotionen durch erfahrenes Unrecht: Schmerz, Trauer, Angst, Verzweiflung, Ohnmacht, Wut. Diese werden häufig explizit genannt: »Taub vor Wut und Ohnmacht lief sie los, nur um irgendwas zu tun, nur um der Versuchung zu widerstehen, sich einfach hinzusetzen und zu warten, bis das Zittern nachließ und die Mattigkeit kam, alle Gefühle wichen und dann das Leben. Bis auch sie erfroren war.« Die Message, dass Frauen von anderen Frauen aus der Vergangenheit lernen, sich mit ihnen und ihren Anstrengungen seelisch verbunden fühlen können, berührt.
An das entsetzliche Schicksal Abelkes kann nur noch erinnert werden, die Entwicklung von Brittas zukünftigem Leben und ihren Wünschen dagegen bleibt offen, hoffnungsvoll. Brittas Leben zeigt, wie viel für die Gleichberechtigung der Geschlechter noch immer zu tun ist, welche grundlegenden Vorurteile, Denkmuster und Machtmechanismen noch immer vorherrschen.
Das Symbolhafte
Die Kulisse, die Marschlande mit ihren weiten Feldern, Deichen und kleinen Katen, wird durch die bildhafte Sprache leicht vorstellbar, die Beschreibung der Natur ist eindrücklich, fast poetisch. Die Natur spiegelt häufig die inneren Verfassungen der Figuren wider, so z. B. die eingangs nebelhafte Natur. Britta befindet sich noch auf der Suche, will ihre eigene Stimme finden, genauso wie die Geschichte Abelkes erst nach und nach Konturen annimmt. Das Atmosphärische kann an Storms Schimmelreiter erinnern.
Die Stille in der Erzählgegenwart ist gleichsam ein Symbol der Ruhe vor dem Sturm. Mit dem Aufdecken der Vergangenheit Abelkes fühlt Britta plötzlich einen inneren Aufruhr, auch der Himmel draußen verdüstert sich, während Britta aus dem Fenster schaut, ihn aus ihrem sicheren Haus betrachtet. Ihr eigener drohender Sturm, ihre Ehekrise, kündigt sich hier zeitgleich schon an. Auch zurück in der Vergangenheit zur gleichen Zeit im Jahr nähert sich ein Unglück: die Allerheiligenflut im Jahr 1570. Die Struktur des Romans ist somit kunstvoll gestaltet. Oft sind bei den wechselnden Zeitebenen aufeinander verweisende Elemente zu erkennen, sodass eine raffinierte Verflechtung der Geschichten beider Frauen über den zeitlichen Abstand hinweg gelingt.
Kein Einzelfall
Im Nachwort gibt die Autorin dem:der Leser:in aufschlussreiches historisches Wissen mit, das hilft, das Gelesene noch besser einzuordnen. So kam es in Hamburg vor allem in Folge der Reformation vermehrt zu Wellen der Hexenverbrennung. Hexerei bzw. Schadenszauberei hatte den »Processus Extraordinarius« – ein besonders strenges Sonderverfahren, in dem selbst anonyme Zeugenaussagen als Beweismittel akzeptiert waren – zur Folge. Abelkes Los war kein Einzelfall, es gab mit dem Hexereivorwurf ein probates Mittel, eigensinnige, d. h. ›unbequeme‹ Frauen zu beseitigen und sich zugleich etwa lukratives Land anzueignen. Kubsova versenkt sich tief in die Historie, forschte für ihren Roman in Archiven. Sie revidiert den schlechten Ruf Abelke Blekens als teuflische Einzelgängerin, der ihr nach einer Hamburger Sage zukommt, legt eine viel wahrscheinlichere Sicht der Dinge frei.
Ein faktischer Hinweis der Autorin bewegt besonders: Abelke Bleken, unter unmenschlicher Folter zu Geständnissen für Taten, die sie nie begangen hat, und so zum sogenannten Urgicht (die Wiederholung eines erst unter Folter vorgebrachten Geständnisses) gezwungen, sollte auch eine Nachbarin von sich als Mittäterin nennen. Trotz peinlicher, also folternder Befragung weigerte sie sich, einen Namen zu nennen. Ein starkes Zeichen für Frauensolidarität und menschlichen Zusammenhalt. Dass gerade erstere infolge der Hexenprozesse und im Kontext eines allseitig um sich greifenden Misstrauens massiv nachließ, beschreibt Kubsova im Nachwort pointiert. Auch die Ungleichbehandlung der Geschlechter, etwa hinsichtlich haus- und hofwirtschaftlicher Arbeit, findet ihren Ursprung wesentlich in dieser Zeit. So wurde die Arbeit, die Haus und Hof organisierte, ursprünglich nicht abgewertet, sondern vor der Entwicklung neuer kapitalistischer Bedingungen als lebenswichtig begriffen. Britta als Frau der Gegenwart hingegen leidet unter der gesellschaftlichen Abwertung, will sich aus der Hausfrauenrolle befreien.
Kubsova deckt gleichermaßen fiktive wie reale, im Nebel verborgene Zusammenhänge zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit auf, sodass Marschlande aktuell wie historisch erhellend ist. Der Roman führt in erschreckender Weise vor, welche verheerenden Auswirkungen Gerüchte, Missgunst und Neid haben können. Marschlande – Ein kraftvolles literarisches Kunstwerk, das erschüttert; zwei Frauen, die tief beeindrucken.