Bis 04. August ist Sabine Wewers Ausstellung im Kunstraum Walshausen zu sehen. Ein Ausflug dorthin ist ein Ausflug in die Ästhetik und Denkweise der Künstlerin; zwischen Realismus und Abstraktion entsteht eine parallele, eine träumende Welt. Wie lässt sich sowas nachzeichnen?
Ein Portrait von Olya Vityuk
Fährt man zu der Ausstellung mit dem Zug, muss man den letzten Teil der Strecke zum Kunstraum Walshausen zu Fuß laufen. Kommt man dabei gerade aus einer Stadt, so findet man sich zwischen scheinbar endlosen Weiten und leuchtend gelben Rapsfeldern in einer Parallelwelt wieder, noch bevor man die Galerie betreten hat.
Dort kann man die aktuelle Ausstellung von Sabine Wewer sehen, Blasse Braut. Durch Zeichnungen und Gemälde verbindet Wewer dort verschiedene Zeiten, Orte und Kulturen, sowie Wahrnehmungen und Geschichten miteinander.
Weltenreisende
Man kann keine parallelen Welten malen, ohne in solchen zu leben. Ihr Auto voller buntem Schmuck, der zwischen Kunstbüchern liegt; die Reisen, mitsamt der Filme, die auf diesen entstehen und natürlich die vielen träumenden Gemälde und Zeichnungen. Aus dem allen entsteht ein Gesamtkunstwerk, das viel weiter reicht als die Wände einer Galerie.
Ihre Arbeit beschreibt Wewer als eine besondere Art von Dokumentation der Welt. Zum einen, weil ein Teil ihrer Kunst von Nischen der Gesellschaft handelt, zu denen man normalerweise keinen Zugang hat. Zum anderen, weil sie flüchtige Verschiebungen und Vermischungen von Wahrnehmungen mit Gedanken in Bildern ausdrücken möchte. In der menschlichen Empfindung sind die Grenzen zwischen der Wirklichkeit, Geschichten und Träumen oft verschwommen und dieses Gefühl spiegelt sie in ihrer Arbeit wider.
Sabine Wewer studierte Malerei in Hannover und mit einem Fulbright Stipendium in New York. Nach ihrem ersten Studio in Manhattan führte ihre Arbeit sie in verschiedene Städte und Länder, unter anderem Rumänien, die Tschechische Republik und Mexiko. Im Moment liegt ihr Atelier im Künstlerhaus Bremen. Sie arbeitet hauptsächlich in den Bereichen Malerei, Zeichnung und Film. Nicht nur die Filme, sondern auch viele der Gemälde entstehen auf Reisen oder haben in diesen ihren Ursprung.
Zwischen Lichteinfall und Jugendlichen, die ihre Geschichte erzählen
Zum Teil präzise ausgearbeitet verankern sich die auf den Gemälden dargestellten Motive in der Realität, während sie an anderen Stellen flüchtig und abstrakt in einen Traum überleiten. Die Spannung zwischen Gegenständlichkeit und Fläche lässt ein Bild zugleich flach und räumlich wirken. Als Betrachter*in steht man auf der Schwelle, kann durch eine neue Fokussierung wählen, ob man sich nach drinnen oder draußen lehnt.
Das größte Gemälde der Ausstellung trägt den Namen Bulgarian Opera. Es ist in Grautönen gestaltet und steht anders als die anderen Werke überlebensgroß auf dem Boden, man hat beinahe das Gefühl, in die abgebildete Halle eintreten zu können. Auch bei diesem kippt die Wahrnehmung zwischen räumlich und flach. Das Bild basiert auf einem früheren Parteizentrum, welches überdimensional in Bulgarien auf dem Land steht und beinhaltet einen weiteren Gegensatz: die brutalistischen Mauern in der unteren Hälfte des Bildes und die zarte, an Bambus erinnernde Decke. Ein Graffiti hat Wewer von dem Gebäude übernommen, das an ihm hängende Hammer-und-Sichel-Zeichen hingegen nicht. Vielleicht, weil die große Geschichte sonst mehr erzählt wird, als die kleinen es werden. Kennt man diese Vorgeschichte nicht, so könnte das Bauwerk in der Vorstellung jegliche Größe annehmen, absichtlich liefert die Künstlerin keine Anhaltspunkte.
Als Betrachter*in wird man mit der Frage zurückgelassen, wo der Zufall und wo die Steuerung liegt, wo das im Gemälde durch die Decke brechende Licht Teil eines abstrakten Hintergrundes sein könnte. Zudem lässt Bulgarian Opera an alte Fotografien denken, bei denen die Abbildungen ebenfalls von Flecken, die durch Licht oder Alter entstanden sind, durchbrochen werden. Einige der frühesten künstlerischen Inspirationen Sabine Wewers sind die Silberfotografien, die ihr Großvater, der auf einem Schiff gearbeitet hat, mitgebracht hatte. Auf manchen ihrer Arbeiten sieht man als Andenken daran silberne Schlieren.
Nicht nur aufgrund der Größe ist es unmöglich, Bulgarian Opera auf einmal zu erfassen. Jede Sichtweise verflüchtigt sich durch eine Veränderung des Blickwinkels. Etwas, das viele von Wewers Werken gemeinsam haben. Die Bilder haben nicht den Anspruch darauf, die Realität darzustellen. Sie haben den Anspruch auf ein wenig mehr – nämlich Gefühle, Wahrnehmungen und erlebte, gelesene, erträumte Geschichten miteinander zu einer Zwischenwelt zu verweben. Diese bleibt aber nicht fest greifbar, sondern zerfällt während des Betrachtens in viele weitere.
Innerhalb von Wewers Gemälden bewegen sich die Gegenstände im Raum, die logische Fortsetzung dessen ist für sie eine Installation, in der sich ein Bild auch außerhalb seiner Grenzen bewegen kann. Eine solche Installation ist die Blasse Braut, welche ihren Namen der gesamten Ausstellung leiht. Sie besteht aus fünf Gemälden, wobei eines etwas weiter abseits hängt. Dadurch, sowie durch die Anordnung als Kreuz, ist die Installation noch in sich geöffnet und kann in Zukunft fortgeführt werden. Zusammengestellt sind die Motive nach dem Prinzip des assoziativen Erzählens. Von Sabine Wewer als »Initiationsbilder« bezeichnet, sollen sie in eine neue Welt einführen. Die Gemälde greifen ihre Elemente gegenseitig auf, die verschiedenen Erzählstränge verbinden sich zu einem einzelnen Narrativ mit offenem Ende.
Auch hier spielt der Wechsel eine wichtige Rolle. Auf die Frage, warum die Braut blass ist, antwortete Wewer, dass sie im Augenblick des Erschreckens über ihre Entscheidung blass werde. Die Inspiration und der Titel stammen aus spanischen Geistergeschichten, der Fakt, dass Sabine Wewer selbst vor kurzem geheiratet hat, fügt eine weitere Nuance hinzu. Sei sie selber wie die Braut erschrocken? Das ausgerufene »Ja!« war zwar ironisch, doch fügte sie hinzu, dass eine Heirat für sie auch nach einer zwanzigjährigen Beziehung ein viel größerer Wechsel sei, als sie es vermutet hätte. In der Blassen Braut malt Wewer nicht über sich selbst, sie initiiert eine Märchenwelt – doch auf gewisse Weise ist auch sie ein Teil von dieser.
In der Blassen Braut spielt der Zufall nicht nur bei den abstrakten Hintergründen eine Rolle, sondern auch bei dem Format mancher Gemälde. Lang und schmal – daher sich dazu anbietend zu einem Kreuz geformt zu werden – wurden zwei der Bilder, da sie auf einer Reise entstanden sind und so in einen Koffer gerollt werden konnten.
Wie die Motive sind auch die Titel von Wewers Werken fast immer ambivalent, schaffen eine neue Ebene, eine neue Sichtweise, vor allem, wenn sie eine Weile lang nicht einleuchtend scheinen. Für die Blasse Braut war der Titel ursprünglich spanisch – die Sprache eines Titels wählt Wewer danach, wie es klingt oder was damit anklingt. In der Ausstellung aber hängen die Werke ohne Titel. Vielleicht ist es auch ganz gut, nicht allen Welten auf einmal gegenüberzustehen.
Nicht gemalte Welten
Sabine Wewers Filme sind in ihrem Aufbau ihren Gemälden sehr ähnlich. Auch hier werden Geschichten durcheinander miteinander verwoben, erst zum Ende bekommt man einen Eindruck des Geschehens. Bislang filmte sie in Roma Communities in Rumänien und in Communities in Mexiko. Rituale und Geheimcodes gehen verloren, Teile von Gesellschaften werden immer weiter in eine Nische gedrängt. In diese gewähren sie Außenstehenden normalerweise keinen Zutritt, um nicht zu einer Touristenattraktion zu werden. Wewer filmt nur, nachdem sie das Vertrauen einer Community gewonnen hat. Meist lebt sie währenddessen bei einer Familie, wird von dieser in das dortige Leben eingeführt und den anderen vorstellt. Für Wewer ist es wichtig, dass die Menschen, die in ihren Filmen auftreten, damit einverstanden sind, wie sie repräsentiert werden. Sie möchte keine schlimme politische und soziale Situation ansprechen, sondern die Menschen für sich sprechen lassen. Sabine Wewer könne die Dinge nicht bewahren, sagte sie, aber vielleicht etwas dazu beitragen, dass man ihren Wert sieht.
Auf einer kleinen Zeichnung in der Ausstellung stehen die Worte »who moved along the others as they walked, look« über einem mit einem Pinsel gezeichneten bestickten Mantel. Was Sabine Wewer damit gemeint hat, kann ich zwar nicht sagen, für mich aber ist es ein Aufruf dazu, sich in der eigenen Wahrnehmung des Alltags, der Welt um sich herum, weniger Grenzen zu setzen, sich mehr zu wundern, mehr Geschichten in den Dingen und Geschehnissen um sich herum zu hinterfragen.
Das meinte Sabine Wewer lachend während des Gesprächs. Vielleicht lässt sich so zusammenfassen, wie Kunstschaffende diese Merkwürdigkeit empfinden, die andere als Talent bezeichnen.