Bittere Brunnen versüßen

Den Preis der Leipziger Buchmesse gewann dieses Jahr Regina Scheer mit ihrem Sachbuch Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution. Die Geschichte zeigt, wie eine Frau ein ganzes Jahrhundert lang trotz diverser Enttäuschungen nie die Hoffnung aufgab.

Von Malin Friese

Bild: via Pixabay, CC0

Der Titel des Sachbuchs Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution von Regina Scheer bezieht sich auf eine Geschichte aus dem biblischen Buch Exodus. Darin irrt das Volk Israels verdurstend durch die Wüste und findet schließlich einen Brunnen, dessen Wasser jedoch bitter ist. Nur durch verdorrtes Holz von Wüstenbäumen kann es wieder genießbar gemacht werden. So versucht auch die jüdische Revolutionärin Hertha Gordon-Walcher ihr Leben lang, trotz bitterer Lebensumstände und Enttäuschungen für eine bessere Zukunft zu kämpfen. 

»Tante Hertha«, wie sie von Regina Scheer liebevoll genannt wird, ist eine starke Frau, die in ihrem Leben viele Entbehrungen, Leid und Niederlagen ertragen muss. Schon als Kind entwickelt Hertha Gordon-Walcher den Wunsch nach einer Revolution, durch die eine Welt ohne Armut, Ausbeutung und Krieg geschaffen werden soll. Aus diesem Grund schließt Gordon-Walcher sich in den 1910er Jahren den Sozialisten an und erlebt in den darauffolgenden, unruhigen Jahrzehnten Auseinandersetzungen unter Gleichgesinnten in der Weimarer Republik, Widerstand, Flucht und Exil. Doch immer bleibt die Hoffnung auf eine bessere Zukunft als Antriebskraft für ihr Handeln. 

Geheimnisvolle Zeiten

Das Buch umfasst das gesamte Leben von Hertha Gordon, später Walcher, von 1894 bis 1990, ein ganzes Jahrhundert voller Unruhen, Umbrüche und enttäuschter Hoffnungen. Die Kapitel sind chronologisch nach Jahren geordnet und tragen Überschriften wie »Die kleine Jüdin will den Kaiser stürzen«. Diese Überschrift verdeutlicht, dass bereits Gordon-Walchers Kindheit von ihrem Wunsch nach einer Revolution geprägt ist. Bevor allerdings die eigentliche Geschichte von Hertha Gordon-Walcher erzählt wird, wird in einer Art Vorwort »Tante Hertha« eingeführt, indem Regina Scheer erzählt, wie sie Gordon-Walcher persönlich kennengelernt hat. 

Aus der Sicht eines Kindes, nämlich der Ich-Erzählerin Regina Scheer, werden Hertha und ihr Mann Jacob als freundliche und warmherzige Menschen beschrieben. Das Ehepaar ist eines der wenigen unter den Freunden von Reginas Eltern, die sich für sie als Kind interessieren und sie oft zu sich nach Hause einladen. Neben den unzähligen Büchern in ihrem Haus erzählen Tante Hertha und Onkel Jacob viele aufregende Geschichten, die wie aus einer anderen, geheimnisvollen Zeit zu stammen scheinen. 

Nach Jacobs Tod besucht Regina Scheer regelmäßig Hertha Gordon-Walcher und erfährt dabei, dass sie viele berühmte Persönlichkeiten persönlich getroffen hat, die heute in Schulbüchern stehen, darunter Lenin und Stalin, Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Wilhelm Pieck, Bertolt Brecht und Willy Brandt. Außerdem war Gordon-Walcher Spezialistin in der Herstellung von Geheimtinte, weshalb sie bedingt durch ihre Arbeit und später während ihres Exils viele große Städte wie Moskau, Paris und New York bereist.  

Persönliche Einblicke

Durch detaillierte, einfühlsame Beschreibungen sorgt Scheer dafür, dass man bereits zu Beginn Gordon-Walcher persönlich kennenlernt und direkt in ihre Geschichte gesogen wird. Stück für Stück erfährt man mehr über Hertha Gordon-Walcher und ihr wechselvolles Leben, das von geschichtsträchtigen Ereignissen durchzogen ist. Dabei geht es nicht nur darum, ihren Charakter und ihre Geschichte kennenzulernen, sondern vielmehr darum, sie verstehen zu lernen – zu verstehen, wie sie es geschafft hat, über all die Jahre ihres Lebens hinweg nie aufzugeben. 

»Vielleicht wollte sie doch nicht, dass das alles, dass ihr Leben vergessen wird?« Diese Frage stellt sich Regina Scheer, als sie Gordon-Walchers Geschichten zuhört und sich danach auf der Rückfahrt im Taxi Notizen dazu macht, da Gordon-Walcher ihr eigentlich verboten hatte, ihre Erzählungen aufzuschreiben. Es ist nicht das erste Mal, dass die Autorin Regina Scheer über die deutsch-jüdische Geschichte schreibt, denn Scheer wurde durch ihre ersten beiden Romane Machandel (2014) und Gott wohnt im Wedding (2019) bekannt, die die deutsch-jüdische Vergangenheit behandeln. Allerdings ist die Geschichte von Hertha Gordon-Walcher wesentlich persönlicher. 

Ein Vorbild für die Zukunft

Es wird deutlich, wie eng Scheers Beziehung zu Hertha Gordon-Walcher war, was auch als einer der Gründe dafür genannt wird, warum sie ihre Geschichte aufgeschrieben hat. »Ich habe mich auf die Suche nach ihren Spuren gemacht, bevor die Zeit sie ganz zudeckt, bevor hinter den vergilbten Papieren nur noch Vorgänge und keine Menschen mehr zu erkennen sind.« Es gibt bereits eine politische Biografie über ihren Mann, Jacob Walcher. Scheer betont, wie wichtig es sei, dass auch Gordon-Walchers Stimme gehört wird. Denn sie spielte in der Geschichte als Revolutionärin eine viel größere Rolle, als bloß Jacobs Ehefrau zu sein.

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Regina Scheer
Bittere Brunnen. Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution

Penguin Verlag: München 2023
704 Seiten, 30,00 €

Hertha Gordon-Walcher ist für Scheer ein Vorbild dafür, Niederlagen zu ertragen und trotzdem nie die Hoffnung aufzugeben. »Doch hinter ihrem Sarkasmus war eine Trauer zu spüren, hinter ihrer offenkundigen Verachtung der Politik spürte ich eine nie versiegende und immer wieder enttäuschte Hoffnung.« Dieses Vorbild kann sie auch für die Leser:innen sein, denn die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist gegenwärtig so wichtig wie in Vergangenheit und Zukunft.

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