Aufklärung, But Make It Queer

Angela Steidele erzählt in Aufklärung. Ein Roman mit einem großen historischen Ensemble und immensem Recherche-Aufwand vom Leipzig des 18. Jahrhundert. Die zentrale, imaginierte Liebesgeschichte zwischen Luise Gottsched und Dorothea Bach sowie schlaue Meta-Witze machen den anspruchsvollen Roman zu einer geschmeidigen Lektüre.

Von Hanna Sellheim

Bild: Jean-Étienne Liotard, Public domain, via Wikimedia Commons, gemeinfrei

In Leipzig im Herbst 1734 treffen wir die Protagonistin von Angela Steideles Aufklärung. Ein Roman: Catharina Dorothea Bach, Tochter des heute weltberühmten Komponisten, die auch Erzählerin und fiktive Autorin des als Manuskript ausgezeichneten Textes ist. Dorothea erzählt auf den 600 Seiten des Romans von den Auf- und Umbrüchen der Aufklärung – und vor allem von ihrer Liebe zu Luise Gottsched, einer belesenen, gelehrten Autorin, deren Biographie sie nach Luises Tod als Antwort auf die von Luises Ehemann schreibt, die sie als beleidigend unzureichend empfindet. Luises Kommentare zum Geschriebenen stellt Dorothea sich dabei immer wieder vor.

Der Roman besteht aus zwei Zeitebenen, die zum Ende hin geschickt zusammenlaufen und immer von einer dritten überzogen sind, der heutigen, die als reflektive Folie dient, auf der sich Steideles Porträt der Aufklärung spiegelt. Aufklärung meistert dank Steideles immenser Recherche die Balance zwischen historischer Genauigkeit und cleverem Kommentar aus Sicht des 21. Jahrhunderts. So blitzt in den Debatten immer wieder Heutiges durch und führt vor Augen, welch lange Geschichte und revolutionäre Vorarbeit aktuelle Ideen haben, ob es um die Geschlechtergerechtigkeit der deutschen Sprache, das Verhältnis von trans und cis, die »Zwitscherblättchen« als Protoform von Twitter oder die Vision einer Figur mit dem sprechenden Namen Laurentius Gugl geht, Wissen für alle einfach zugänglich zu machen.

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Angela Steidele
Aufklärung. Ein Roman

Insel: Leipzig 2022
603 Seiten, 25,00€

Schrullige Figuren, elegante Musikbeschreibungen

In Aufklärung tritt ein Ensemble an historischen Figuren auf, die allesamt in schrulliger Liebenswürdigkeit gezeichnet sind. Während Steidele dabei besonders die intellektuelle, soziale und körperliche Arbeit von Frauen und allen voran die unbezahlte Luise Gottscheds für ihren Ehemann ins Licht rückt, kommen die Männer von Professor Gottsched über Lessing bis hin zu Friedrich II. nicht gut weg, sondern offenbaren sich als selbstverliebte, misogyne Arschlöcher, die den Idealen von Vernunft und Aufklärung mehr im Weg stehen, als dass sie sie vorantreiben. Dabei klagt Steidele immer auch den immensen Verlust an Wissen an, den die kargen Publikationsmöglichkeiten für Frauen bedeutet haben. So wird Leipzig in seiner teils drolligen Ausgestaltung zu einer Art Stars Hollow des 18. Jahrhunderts und die Erzählung lebt vor allem von den durch Dorothea Bach ironisch kommentierten Dialogen zwischen den Figuren, die seitenlang dahinplätschern und das intellektuell anspruchsvolle Buch zu einem wahren Page-Turner machen.

Steidele vermag es, die Musik Bachs so virtuos zu beschreiben, dass man versucht ist, sofort noch einmal hineinzuhören, nun mit besserem Verständnis für die Nuancen der Noten, das Zusammenspiel von Klang und Gesang, den pointierten Einsatz der Instrumente. So zum Beispiel das berühmte Weihnachtsoratorium:

Bevor der Evangelist von den Hirten auf dem Felde erzählt, beschreibt das Orchester schon das Geschehen: Vier Oboen (je zwei d’amore und zwei da caccia) symbolisieren die Hirten, die ein anrührend schlichtes, volkstümliches Thema spielen, eine Pastorale. Darüber erhebt sich in den Flöten und Violinen eine punktierte Engelsmelodie, daaa-ba-dab-diii-da-daa, sanft geschwungen, wie ein federnder Reigen. Engel im Himmel hohe Lage, Hirten hienieden tiefe Lage. Und dann geschieht das Wunder: Die anfangs getrennten musikalischen Sphären kommen sich näher, das irdische Thema der Oboen und das himmlische der Flöten und Violinen greifen ineinander, und zum Schluss beenden die irdischen Oboen das himmlische Thema der Engel: So erfahren die Gläubigen in der Christnacht die Menschwerdung Gottes.

Der Text für das Weihnachtsoratorium, dessen Autor:in bis heute unbekannt ist, stammt von Luise Gottsched, so erzählt es der Roman. Dass das rein zeitlich nicht unbedingt stimmen kann, weiß und kommentiert der Text selbst, aber es ist verlockend, sich einzulassen auf das Gedankenspiel, das auch eine Beziehung zwischen Luise und Dorothea, über die bis auf einen lausigen Halbsatz in den Aufzeichnungen ihres Vaters nichts überliefert ist, imaginiert.

Gute Freundinnen

Die Rezensionen im Feuilleton rühmen den Roman als Geschichte einer »Freundschaft« und räumen dem Thema der queeren Sexualität und Liebe allenfalls Motiv-Status ein. Doch dass da etwas mehr passiert zwischen Dorothea und Luise als rein freundschaftliches Miteinander, daran dürften Formulierungen wie »Ein Höhepunkt jagte den nächsten« (als Luise und Dorothea sich in Tradition der guten alten OnlyOne-Bed-Trope bei einer Reise nach Dresden ein Zimmer teilen müssen) oder »Wie immer zogen wir uns in meine Kammer zurück, um niemanden zu stören mit unseren Seufzern auf u und a, hoch und höher«, ein von Luise an Dorothea verfasstes Lied über heimliche Liebe, Dorotheas Eifersucht auf Luises Flirts mit anderen Frauen oder Anspielungen auf Sappho eigentlich keinen Zweifel lassen. Und auch sonst setzt sich das hier gezeichnete Bild der Aufklärung aus lauter kleinen, mal mehr, mal weniger subtilen Hinweisen auf ubiquitäre Queerness hin – seien es König Friedrichs Techtelmechtel mit Lakaien oder die innigen Dialogzeilen zwischen zwei männlichen Stimmen in Bachs Weihnachtsoratorium. Diese Fingerzeige zu überlesen, ist eigentlich nicht so leicht, werden sie doch durch Dorotheas kommentierende Wiederholungen jedes Mal hervorgehoben, wie etwa in einer Szene, in der zwei Frauen auf der Bühne eine Liebesszene spielen:

Die Steinbrecherin wachte als verwandelte Lene in einem herrschaftlich feinen Bett auf und wähnte sich süß naiv im Paradies. Und zwar nicht nur wegen der seidenen Bettwäsche, sondern auch wegen des zärtlichen Herrn von Liebreich, den die Kleefeldin sang. […] Ich wollte Luise verstohlen einen Blick zuwerfen, doch die unterhielt sich gerade flüsternd mit der Frau neben ihr. Bekam sie denn gar nicht mit, was da auf der Bühne soeben geschah?

Dass auch das Cover, das Porträt von Louise d‘Épinay, das sie mit einem eine Buchseite markierenden Finger zeigt, eine gewitzte Anspielung auf die auffallend ähnliche Darstellung im zur etwa gleichen Zeit spielenden Porträt einer jungen Frau in Flammen  –  einem der wohl schönsten und lesbischsten Liebesfilme aller Zeiten – ist, wäre geradezu zu hoffen.

Denn natürlich hat die im Leipzig des 18. Jahrhunderts sozialisierte »Jungfer Bachin« keine Begrifflichkeiten für ihre Gefühle, kann ihr Begehren nicht anders als in Doppelbödigkeiten beschreiben. Das bedingt auch die sehr sorgfältig konstruierte Schreibsituation: Es leuchtet ein, dass sie auch in der fiktiven Biographie nicht explizit werden kann, dass die Ausradierungsmechanismen für weibliche und queere Stimmen weiterhin aktiv sind und sie von Ehrlichkeit und Unverblümtheit abhalten.

Auftritt Goethe

Wer sich aber einlässt auf das Spiel mit den Subtilitäten, Augenzwinkern und Andeutungen, der:die findet eine zarte, langsam erzählte und zuweilen herzzerreißende Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen, deren Beschränkungen gar nicht so sehr in ihrer Zeit und vielmehr in den Fallstricken der Liebe selbst liegen.

Ironischerweise spiegelt sich die das alles ignorierende Rezeptionshaltung ausgerechnet in einem Kommentar Goethes, dem Dorothea in einem geschickten selbstreferenziellen Kniff ihr Manuskript zu lesen gibt: »Sonst war mir offen gestanden zu wenig Gefühl in Ihrer Erzählung. […] Haben Sie denn nie geliebt, Mme Bachin?« An anderer Stelle gibt es lustig anachronistische intertextuelle Verweise, etwa wenn ein Trommler in der Thomasschule Oskar Matzerath heißt und Dorothea später von ihrer Schwester darauf hingewiesen wird, dass das ja überhaupt nicht stimmen kann. Das Hinterfragen der eigenen Erzählposition, der Zuverlässigkeit von Erinnerungen ergibt in Kombination mit der unverkennbaren Färbung der Erzählfigur durch die Autorin selbst eine ungemein interessante Erzählstimme, die gerade in diesen Momenten der Überblendung von fiktionalen und realem Ich, von Damals und Heute brilliert, von denen man sich im Roman noch viel mehr wünscht.

Mit dem Ausbruch des Siebenjährigen Krieges kippt auch der Roman, erzählt fortan anstelle von wissenschaftlichen Durchbrüchen und literarischen Neuheiten von Grauen und Zerstörungswut, den Grausamkeiten der Soldaten, der Gier der Mächtigen. Auch das klingt beunruhigend aktuell an. Trotz dieser Düsterheiten schürt der Roman letztlich aber die Hoffnung darauf, dass große Ideen und wahrhafte, Geschlechtergrenzen transzendierende Zusammenarbeit und -halt die notorisch krisengeplagte Welt vielleicht doch manchmal zum Besseren wenden können. Vielleicht ist es also Zeit für eine zweite Aufklärung?

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