Nach 16 Jahren Kanzlerschaft endete ihre Ära. Nun veröffentlicht Angela Merkel ihre Memoiren – Freiheit. Angebrachter Titel hinsichtlich ihrer Lebenshälfte in der DDR. Jedoch scheint eine professionelle Zurückhaltung ihre Ausdrucksfreiheit einzuschränken.
Von Jonas Darboven
Der Einband bestellt die Wirkung: »Das Buch, über das die Welt spricht«, bewirbt es sich selbst. »Das wichtigste Buch des Jahres«, folgt darauf und bittet förmlich darum, mit einem Ausrufezeichen abgeschlossen zu werden. Zu keinem Zeitpunkt ist dies wahrer als kurz nach dem Zusammenbruch der Ampelkoalition und der Wiederwahl Donald Trumps. Ein wenig Retrospektion kann dieser Tage wohltuend sein, aber zur Einordnung moderner Herausforderungen hilft sie leider nur bedingt.
Alternativ zum Titel Freiheit hätte sich ein Merkelzitat aus ihrem TV-Duell mit Peer Steinbrück aus 2013 angeboten: »Sie kennen mich.« Denn wer mit der Bundeskanzlerin und ihrer Politik auch nur am Rande vertraut war, findet hier wenig Neues. Vergessen werden dabei wie üblich die Jüngeren, die nach 16 Jahren Merkel nicht mal wussten, dass ›Bundeskanzler()‹auch eine Schreibweise ist. Für diese Gruppe und ihre Nachfolgenden lesen sich die ersten 120 Seiten wie ein Teebesuch bei der Bundes-(Groß)-Mutti, die von früher erzählt.
Angela, die illegale Hausbesetzerin
Denn in ihren frühen Geschichten ist Frau Merkel am nahbarsten und wird zu Angela. Hier erzählt sie davon, wie sie und ihre Freundinnen sich in rebellischer Manier die FDJ-Röcke kürzen. Solche Mädchen hätten keinen Anstand und wären eine Schande, klagen die Babuschki (Großmütter) über die künftige Bundeskanzlerin. Das macht nahbar. Wir alle sind unperfekt, selbst die Erfolgreichsten.
Studierende schmunzeln, wenn sie lesen, wie Angela hochkant aus der Marxismus-Leninismus-Vorlesung fliegt. Weniger aus Ungehorsam als aus Übereifer, weil sie lieber Physikhausaufgaben macht, als der politischen Doktrin zuzuhören. Heute lacht sie, damals ist die junge Angela in Sorge. Aber von der Unbekümmertheit abzulassen, ist keine Option. Im Gegenteil! Anstatt zu resignieren, wird sie tougher.
Das beweist sie, als sie nach ihrer Promotion selbst in die Lage einer illegalen Hausbesetzerin rutscht. Not macht erfinderisch – und dreist. Wer in eine leere Wohnung einbricht und das Schloss auswechselt, ist auch irgendwie eingezogen. Fleißig Miete zahlen und die Sperrmüllmöbel dürfen stehen bleiben. Dann noch ein lockerer Spruch zum Polizeibeamten: »Aus Templin in die Templiner Straße. Was für ein Wink des Schicksals!« Ein Lacher, ein Stempel und schon hat sich die unzulässig Eingezogene auf dem Papier legalisiert.
In der Politik wird’s ernst – sie auch
Mit Einstieg in die Politik wird aus der nahbaren Angela die professionelle Frau Merkel. Das ist löblich – liest sich aber langweilig. Wie ein nüchterner Bericht, den auch ein informierter Ghostwriter hätte verfassen können. Geschrieben hat sie das Buch nach eigener Aussage selbst, am liebsten allein, aber in Überarbeitung mit ihrer Beraterin Beate Baumann. Sie will aus heutiger Perspektive einordnen und bewerten, hält den Ball aber flach. Diese Qualität hebt sie auch im Umgang mit Donald Trump hervor. Trump rede auf der emotionalen Ebene, sie auf der sachlichen. Für ihre Politik ist das ideal, für dieses Buch zäh.
Das Nähkästchen bleibt verschlossen. Dabei wäre es so interessant, zu erfahren, was für heimliche Briefchen sie dort versteckt hält. Einerseits will sie »nicht zur Kanzlerin geboren« sein, bezeichnet ihre Familie jedoch als »hochpolitisch«. Ihr Bruder tritt dem Bündnis 90 bei, ihre Schwester der Sozialdemokratischen Partei in der DDR, kurz SDP. Ihre Mutter wird sogar Kreistagspräsidentin Templins. Zur Kanzlerin geboren wird niemand. Der nötige Spirit wurde den Geschwistern Kasner, so Merkels Familienname, aber ausreichend in die Wiege gelegt. Am Ende wurde sie die erste deutsche Bundeskanzlerin.
»Erste. Das war ich.«
Erste. Das heißt nicht Beste, aber auch nicht Schlechteste. Erste ist eine Vorbildfunktion und ein Motivator. Die Erste geht neue Wege. Als sie sich als frisch ernannte Bundesministerin für Frauen und Jugend das Bein bricht, sieht sie ihr öffentliches Auftreten gefährdet und wechselt vom Rock in den Hosenanzug, um den Gips zu kaschieren. Damals ein Affront! Heute Standard. Darüber hinaus lernt sie, dass Stimmlage und Körpergröße in der Politik einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung von Frauen haben. Sich dagegen durchzusetzen, wird auch in Zukunft eine der wichtigsten Qualitäten Merkels bleiben.
Das heißt nicht, dass sie in allem die Erste ist. In der Debatte zur Ehe für alle positioniert sie sich als CDU-Bundeskanzlerin konservativ und stimmt dagegen. Damit soll ihr jahrelanger Kampf für dieses Thema vergessen worden sein. Sowas passiert, wenn trotz guter Vorarbeit ein gegenläufiges Schlusswort stehen bleibt. Ähnlich ergeht es ihrer Parteikollegin Annegret Kramp-Karrenbauer, die offen als Merkels Nachfolgerin aufgebaut wurde, in diesem Buch aber nur als beiläufige Randnotiz erwähnt wird.
An Stellen wie diesen bleibt das Versprechen einer klaren Einordnung durch eine selbstkritische Ex-Regierungschefin unerfüllt. Mit nur einem Satz wird etwa erwähnt, dass die Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 unter Strafe gestellt wurde. Dass ihr Parteikollege Friedrich Merz, amtierender Bundesvorsitzender der CDU und Kanzlerkandidat, damals noch dagegen gestimmt hat, wird mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen beschreibt sie ihn als »machtbewusst« und nennt ihn einen »brillanten Redner«. Sie bleibt in kollegialer Manier fair, und lässt die Frage nach ihrer Gedankenwelt unbeantwortet.
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Freiheit: Erinnerungen 1954-2021
Kiepenheuer & Witsch: 2024
736 Seiten, 42 €
Als Physikerin kennt sie jedes Atom beim Namen
Im späteren Amt der Bundesministerin für Umwelt, Natur und Reaktorsicherheit kommt ihr das Physikstudium zugute. Hier fühlt sie sich in ihrem Element, verpasst es aber, die Lesenden an ihrer Expertise teilhaben zu lassen. Die hitzige Debatte zur Atomenergie kürzt sie ab: »Als Physikerin schätzte ich das mit ihr verbundene Risiko als vertretbar ein.« Tschernobyl sei nur auf Schlampereien der Sowjets zurückzuführen. Auch ein Besuch des Unglücksortes ändert an ihrem Vertrauen nichts. Das viel realere Problem um die Endlagerung der radioaktiven Abfälle wird von der Doktorin leider nicht ausgeführt.
Merkel sollte hier Ahnung haben, lässt aber auf eine Erklärung warten. Stattdessen rudert sie später zurück und sagt: »Ich kann Deutschland auch für die Zukunft nicht empfehlen, wieder in die Nutzung der Kernenergie einzusteigen.« Wie es zu diesem Meinungswechsel kommt? Ungewiss. Ob dies ein Seitenhieb auf die moderne Ausrichtung der CDU ist, die eine Rückkehr zur Kernenergie plant? Unwahrscheinlich. »Mein Amt als Umweltministerin forderte und erfüllte mich – weit über das hinaus, wofür in diesem Buch Raum ist.« Trotzdem wäre ein wenig mehr Detail hier willkommen gewesen. Es muss ja nicht gleich eine zweite Doktorarbeit sein.
Eine Rückschau, keine Prognose
Putin prophezeit ihr sein Comeback bereits im Frühjahr 2006. »Du bist auch nicht ewig Präsident«, antwortet die Frau, die 16 Jahre Bundeskanzlerin sein sollte. Die Verfassungsänderung, die ihm ab 2024 eine dritte Amtszeit in Folge (und fünfte insgesamt) als Präsident erlaubt, wird nicht thematisiert. »Dies ist kein Buch über Russland und die Ukraine. Das wäre ein anderes Buch«, schreibt Merkel in ihrem Vorwort, ehe sie dem Konflikt im Folgenden dann doch mehrere hundert Seiten einräumt. Schließlich ist die Annexion der Krim bereits während ihrer Amtszeit geschehen, wobei der historische Konflikt noch weiter zurückreicht.
Daran angeschlossen sind tausend Fragen, wie etwa die der Abhängigkeit vom russischen Gas. Merkel merkt an, dass die Alternativen jeweils Vor- und Nachteile mit sich bringen, weicht aber der Frage nach der Eigenverantwortung aus. Die Ampel-Regierung wird gelobt, unter Hochdruck eine Lösung gefunden zu haben, wo sie keinen Handlungsbedarf sah. Wer hätte auch einen russischen Angriffskrieg vorhersehen können? Dieser »eklatante Bruch des Völkerrechts« wird rückblickend verurteilt. Eine Empfehlung, wie in Zukunft damit umzugehen sei, wird nicht gegeben.
»Es gibt ihn, den Fortschritt, auch wenn er eine Schnecke ist.«
Merkel lernt eine wichtige Lektion darüber, »dass die öffentliche Meinung danach giert, Verlierer und Gewinner bestimmen zu können.« In der aktuellen politischen Lage ist dieser Punkt so bedenklich wie sonst nie. Auf Merkels Konto steht: Sie kam immer ohne Vertrauensfrage aus. »Das wichtigste Buch des Jahres« hat sie nicht geschrieben, aber ein Wichtiges unbedingt! Gerne jedoch wäre die Stimme der frühen Angela häufiger zu hören gewesen. Weniger politischer Tatsachenbericht und mehr bürgerliches Teekränzchen mit der Bundesmutti. Wenn sie im nächsten Leben mit derselben Hingabe Schriftstellerin wird, könnte sie wahrlich weltbewegende Bücher schreiben. In diesem Leben aber ist ihr Handwerk die Politik.