Auf 256 Seiten über das Meer

Die wunderschön illustrierte Bibliothek der Sieben Meere ist eine Liebeserklärung an die maritime Literatur, ohne dabei der in ihr so oft zu findenden Romantisierung des Lebens auf See zu verfallen. Alexander Pechmanns Reise durch die Literaturgeschichte macht Lust, Klassiker wie unbekannte Werke der Meeresliteratur (wieder) zu entdecken.

Von Sarah von Hagen

Bild: via Pixabay, CC0

Es ist schwer, einen guten Literaturüberblick zu schreiben. Welche Werke bezieht man ein? Welche lässt man außen vor? Folgt man einer chronologischen, räumlichen oder vielleicht doch systematischen Ordnung? Wie zieht man die Leser:innen in seinen Bann, wenn man selbst nur einen Überblick über Werke anderer Autor:innen bietet? Auf all diese und weitere Fragen gilt es, eine Antwort zu finden, um einen Text zu gestalten, der die richtige Balance aus Einordnung, Nacherzählung und Neugierig-Machen enthält. Alexander Pechmann gelingt all dies in seiner Bibliothek der sieben Meere meisterlich.

Das liegt vor allem auch an Pechmanns immer wieder hervorgehobener eigener Begeisterung für die (insbesondere englischsprachige) maritime Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, die den Kern seiner Zusammenstellung bildet und durch das umfangreiche Fachwissen Pechmanns, der selbst Übersetzer u. a. diverser Werke Hermann Melvilles, Mary Shelleys, Mark Twains und Jack Londons ist, ergänzt wird. Pechmann folgt mit seinem Überblick der allgemeinen Genredefinition der maritimen Literatur als Werke, die durch das Motiv des Meeres und / oder der Seefahrt geprägt sind. Seine Auswahl ist subjektiv – und lässt dabei doch nichts vermissen. Große bekannte Werke wie Herman Melvilles Moby Dick, Daniel Defoes Robinson Crusoe und Jane Austens Anne Elliot stehen gleichberechtigt neben unbekannteren und fast vergessenen Werken wie The High Seas von Elinor Mordaunt, in dem die britische Schriftstellerin im Jahr 1918 Geister- und Meeresgeschichten mit der biblischen Erzählung von Kain und Abel verknüpfte, oder The Story of the Rock von R. M. Ballantly, in der der britische Autor eine Geschichte des ältesten Leuchtturms Englands erzählt. Das Buch besticht aber nicht nur durch seinen Inhalt, sondern auch durch die den Kapiteln vorangestellten farbenfrohen Illustrationen von Orlando Hoetzel, die einen Platz als Kunstdruck an den Wänden einer physischen Bibliothek der sieben Weltmeere im Wohnzimmer verdient hätten.

Ein weitgereistes Buch

Urquell der (wie im Prolog zu lesen ist) seit Generationen im Hause Pechmann weitervererbten Liebe zur Meeresliteratur ist das Lieblingsbuch des Ururgroßvaters, das diesen in den 1870er Jahren bis in die Antarktis begleitete. Tom Cringle’s Log ist heute ein weitgehend vergessenes Werk und bildet in Pechmanns Darstellung doch den Schlüssel, der die Truhe zu den große Schätzen maritimer Literatur öffnet. Dabei, so der Autor im Prolog, sei gar nicht eindeutig, was Tom Cringle’s Log eigentlich für ein Werk sei: Autobiographie, Reisebericht oder pure Fiktion? Wie auf See selbst verschwimmen Genre- und Ländergrenzen sowie Grenzen zwischen Fakt und Fiktion in den maritimen Werken. Aus diesem Grund, argumentiert der Autor überzeugend, ist systematische Anordnung der Werke, sortiert nach großen Themen der Meeresliteratur, die einzig sinnvolle Ordnung eines Überblicks über die Meeresliteratur. Wie Wellen, die von einem Kieselstein erzeugt werden, breiten sich die Themenkreise »in alle Richtungen aus, überschneiden sich und verschwinden schließlich« und erzeugen dennoch ein »verführerisches« Bild, das »vielleicht den Anreiz bietet, den Kieseln hinterherzuspringen, um den ein oder anderen Schatz aus der Tiefe […] zurück ans Licht zu holen«.

Der mythologische Kieselstein

Auch wenn Pechmann keiner chronologischen Ordnung folgt, kann ein Überblick über die Literatur des Meeres wohl kaum mit einem anderen Werk beginnen als mit dem metaphorischen Kiesel der Odyssee. Homers Epos gilt als Ursprung der Meeresdichtung und »Ahnherr unzähliger Figuren der Meeresliteratur«. Pechmann bleibt jedoch nicht in der abendländisch-westlichen Literatur stehen, sondern bespricht mit den sieben Reisen von Sindbad auch eine der zentralen maritimen Erzählungen der fernöstlichen Literatur. Ein ebenfalls zentraler Kieselstein für die Themenkreise der maritimen Literatur ist die Geschichte des Fliegenden Holländers, deren Entstehung und Verbreitung in Balladen, Romanen und nicht zuletzt der Oper von Richard Wagner Pechmann gekonnt nachzeichnet. Gespickt mit persönlichen, oft humorvollen Kommentaren und persönlichen Verbindungen zu den behandelten Werken weiß Pechmann Editionsgeschichte mit der Kulturgeschichte des antiken Schiffbaus, den Biografien von Autor:innen, Herausgeber:innen und Übersetzer:innen, einer von ihm oft zurecht kritisch kommentierten Geschichte der europäischen Expansion sowie britischer Politik- und Kulturgeschichte zu verbinden. So kritisiert Pechmann zurecht das Motiv des »Wilden«, verkörpert durch die Figur des Freitag in Robinson Crueso, das – wie Pechmann scherzhaft hervorhebt – in der modernen filmischen Adaption Cast Away aus dem Jahr 2000 mit Tom Hanks »politisch korrekt durch einen angeschwemmten Basketball« ersetzt wird.

Die Sieben Literarischen Meere

Pechmann reist in seiner Darstellung auf dem »Meer des Unbekannten« mühelos von der Südsee in die Polarmeere, folgt Christopher Columbus ebenso wie dem chinesischen Admiral Zheng He auf Entdeckungsreisen, begleitet britische Offiziere in die Schlachten der Napoleonischen Kriege sowie Pirat:innen und Schatzsuchenden auf dem »Meer der Abenteuer« auf ihren oft brutalen Reisen. Dabei thematisiert er auch das harsche Leben an Bord der Schiffe, indem er den Blick nicht nur auf glorifizierende Werke vermeintlich großer Seehelden (sie sind in der Literatur eigentlich immer männlich) richtet, sondern auf dem »Meer der Arbeit« auch mit einfachen Seeleuten der Handels- und Kriegsmarine oder mit Walfängern segelt. Auf – oder vielmehr in – dem »Meer des Unheils« spürt er dem Schicksal von Schiffbrüchigen sowie Meuterern und Gemeuterten nach, bevor er auf dem »Meer der Angst« Geister, Geisterschiffe und Seemonster jagt, um daran zu erinnern, auf keinen Fall schlafende Kraken zu wecken. Auf dem »Meer der Leidenschaft« widmet er sich schließlich den Sehnsüchten nach Liebenden und dem Meer selbst; und rückt dabei Autorinnen und Heldinnen in einem vor allem durch männliche Autoren und männliche Helden geprägten Genre in den Mittelpunkt. Bemerkenswert ist, dass Pechmann trotz seiner tiefen Begeisterung für seinen Gegenstand, die er selbst im Epilog nochmal reflektiert, zu keiner Zeit einer Romantisierung des Meeres und seiner Literatur verfällt. Er versteht es, stets einen kritischen, humorvollen Blick zu behalten, ohne jedoch dem Meer seine Mystik und Geheimnishaftigkeit zunehmen.

Alexander Pechmann
Die Bibliothek der sieben Meere. Mit Odysseus, Robinson Crusoe und Jane Austens Kapitänen unterwegs auf dem Ozean der Literatur.

Mit Illustrationen von Orlando Hoetzel
mareverlag: Hamburg 2023
256 Seiten, 34,00 €

Pechmann schließt seinen Epilog mit dem Appell, dem Meer mit lustvoller Fantasie als dem geheimnisvollen Ort zu begegnen, den er wie viele andere mit Kinderaugen gesehen hat. Sein gelungener Literaturüberblick, der zum Schmökern einlädt, kann genau dabei helfen. In und mit ihm lassen sich alte Klassiker und neue Werke der maritimen Literatur (wieder) entdecken und (neu) lesen und die seit Jahrhunderten anhaltende, manchmal eskapistische Faszination für das Meer darf dabei wieder aufleben.

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