Armutsklasse

D Hunter gibt in seiner Autoethnografie intime Einblicke in sein von Gewalt geprägtes Leben. Biografische Aspekte werden mit einer intersektionalen Analyse der Verhältnisse, aus denen er stammt, verwoben. Es ist keine leichte Lektüre. Das Schöne: Der Autor zeigt alternative Umgangsformen abseits von staatlichen Eingriffen auf.

Contenthinweis: Dieser Text zitiert im Buch behandelte sexualisierte Gewalt und beschreibt körperliche Gewalt sowie Gewalt von staatlichen Strukturen.

Von Lisa M. Müller.

Bild: via Pixabay, CC0

Nur häppchenweise lässt sich Auf uns gestellt: Armutsklasse. Trauma und Solidarität lesen. Mit längeren Pausen ist es leichter zu ertragen. Nicht aufgrund des Schreibstils, der gewählten Struktur oder der Verständlichkeit. D Hunter schreibt schonungslos auf eine sehr direkte Art über sein Aufwachsen als Sohn einer Irish Traveller Familie in den 1980er Jahren. Im Jahr 2023 wurde sein Text von Isabelle Suremann, die sowohl das Autobiografische als auch die politischen Einordnungen leicht verständlich ins Deutsche übertragen hat, für die Nautilus Flugschriften übersetzt.

2018 erschien bereits Hunters erstes Buch, allerdings nur im Englischen: Chav Solidarity. Ein wütendes Buch. In Auf uns gestellt reflektiert Hunter seine Kindheit und das, was es heißt, in Armut aufzuwachsen. Dieses zweite Buch nun macht auf Rezeptionsseite wütend. Wahlweise auch sprachlos, traurig oder ohnmächtig. Deshalb: Pausen. Aber durchhalten lohnt sich.

Den vollständigen Namen des Autors oder sein Geburtsdatum wird man zu diesem Buch nicht finden. Sein Geburtsdatum weiß der Autor selbst nicht genau, seine Eltern konnten es nicht sicher rekonstruieren. Wahrscheinlich 1779 oder 1980. Während solche vermeintlich wichtigen biografischen Informationen nicht gegeben werden (können), gewährt der Autor einen intimen Einblick in seine von Armut geprägte Lebensgeschichte, eigene Gewalterfahrungen und reflektiert auch über selbst ausgeübte Gewalttaten wie etwa einen Einbruch und Körperverletzung. Nach einem Gefängnisaufenthalt hat er sich mit linkspolitischen Ansätzen und deren Perspektiven auf Armut und Gewalt beschäftigt, wurde Aktivist. Mittlerweile ist er in einer anderen, sichereren Lebenssituation mit unterstützendem Umfeld. Der Text ist laut Hunter dem Genre der Autoethnografie zuzuordnen. Neben dem Autobiografischen gibt er auch eine analytische Einordnung der staatlichen Strukturen wie Gefängnisse, Jugendämter und Heime, denen er ausgeliefert war.

Reihe Klasse?!

Was ist das, eine Klasse? Haben wir alle eine? Wie prägen Klassen und Ideen von Klassen unseren Gesellschaften und den Umgang miteinander? Wie stellt man sie dar? Und wie können wir uns dazu verhalten? In dieser Reihe machen sich die Autor:innen Gedanken über gegenwärtige Gesichter von Klasse und Klassismus. Sie entwickeln sie beispielsweise anhand von literarischen Texten oder Sachbüchern, im Theater, als Forschende und persönlich. Die Texte erscheinen in unregelmäßigem Abstand; sie sind hier zu finden.

Gewalt gegen eine Klasse?

Hunter beschreibt seine Kindheit als geprägt von Zwang, in der Sexarbeit tätig zu sein (wenn seine Mutter es aus gesundheitlichen Gründen nicht konnte), Abhängigkeiten und Gewalt. Auch kriminelle Strukturen waren ihm früh bekannt und gehörten zu seinem Alltag. Er war sehr früh Versorger seiner Schwestern, Missbrauchsopfer, immer wieder wohnungslos und Fußballfan. Und oft war er alles gleichzeitig, wie sich in den essayistisch gestalteten Kapiteln mit verschiedenen Schwerpunkten zeigt. Ein Kapitel trägt den Titel »Fußballmannschaften runterrattern«. Während sich das erstmal harmlos liest, wird im Verlauf klar, dass dahinter eine Form von Ablenkung während der Taten seines Großvaters steckt: »Ich weiß nicht, wann er anfing, meine Mutter zu vergewaltigen, und auch nicht, wie viele andere Kinder und Enkelkinder er über die Jahre hinweg sexuell missbrauchte. Ich weiß, dass er mich zwei Jahre hinweg sexuell missbrauchte. Ich weiß, dass er mich zwei Jahre lang sexuell vergewaltigte und andere Männer nach Hause brachte, damit auch sie mit mir machen konnten, was sie wollten.« Zwischen solchen Inhalten funken immer wieder Namen von Fußballern des FC Arsenal (1989/1990) dazwischen: »Kevin Richardson, Paul Davis, Paul Merson, Alan Smith, Niall Quinn.« Auf die Art wird sehr gut vorstellbar, wie das Namen Runterrattern als Ablenkung Hunters Mechanismus war, um seine Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Auch beim Lesen lenken die Namen der Fußballspieler den Fokus vom Schrecklichen zwischenzeitlich immer wieder auf was anderes. Die Unterbrechungen machen das Geschriebene erträglicher, dessen Schrecken aber auch noch deutlicher: Die dissoziativen Aufzählungen lassen auf Rezeptionsseite erahnen, wie überlebenswichtig es in diesen Momenten war, sich an die Namen der Fußballspieler zu erinnern und die Gedanken von der Gegenwart wegzulenken.

In Hunters Erzählungen gibt es zwei Ebenen von Gewalt: Erstens die innerhalb seiner Klasse und zweitens die (staatlich-bürokratische) Gewalt der Behörden, Polizei und anderer Staatsapparate. Zu der zweiten Ebene gehören auch wiederholte Drohungen, die Familie auseinander zu reißen, Gefängnisaufenthalte etc. Dagegen halfen in der Regel nur bürokratische Hilfsmittel: Formulare, Anträge, Rechtshilfe und Informationen zu bestimmten Berechtigungen staatlichen Eingriffs. Hunter sagt an einer Stelle: »Ich verstand die Käfige, aber die Bürokratie war undurchsichtig und beängstigend«. In diesem Zitat wird die Verzahnung von ökonomischen Verhältnissen mit Bildung deutlich: Staatliche Institutionen auf bürokratischer Ebene zu verstehen fällt schon vielen studierten, erwachsenen Menschen schwer. Kindern und Jugendlichen ohne viel (Schul-)bildung fällt es entsprechend schwerer. Gerade der Aspekt des Nicht-Fassbaren im Dokumentendschungel macht die sehr fassbaren Konsequenzen wie das Herausnehmen von Kindern aus der Familie oder das Wegfallen staatlicher Unterstützung angsteinflößend.  

Alternative Konzepte statt Ohnmacht

Hunter kritisiert die Institutionen Gefängnis und Polizei, aus linkspolitischer Sicht nicht unüblich und durch seine Erfahrungen und Berührungspunkte leicht herleitbar. Im hinteren Teil des Buches kritisiert er aber auch Soziale Arbeit als Konzept: Sie sei zu systemkonform und doktere nur an Symptomen herum, anstatt die Ursachen zu verändern. Deshalb glaubt er an radikale Schritte, die eine Veränderung herbeiführen könnten: Er vertritt die Auffassung, dass eine Abschaffung von Strafen und Gefängnissen für das Wohlergehen der Menschen besser wäre. Der häufig ablaufende Kreislauf aus Armut, Sucht, ggf. Gewaltdelikten, Gefängnisaufenthalt und wieder von vorn könnte sich so durch andere, bessere Maßnahmen erübrigen. Hunter stellt gesellschaftlich alternative Umgangsformen mit zwischenmenschlicher Gewalt vor, die in den unterschiedlichen Kapiteln teils als Zitate, teils als Gedanken und Analysen seinerseits einen Platz finden. Für ihn hängen staatliche Gewalt und Gewalt zwischenmenschlicher Art zusammen: Das eine führt immer wieder zum anderen, ein Teufelskreis der Kriminalität (auch »Knastkarriere« genannt) wird geschaffen.

D Hunter
Auf uns gestellt. Armutsklasse, Trauma und Solidarität.

Aus dem Englischen übersetzt von Isabelle Suremann.
Nautilus Flugschrift: Hamburg 2023
256 Seiten, 20,00 €

Transformative Gerechtigkeit und Community Arbeit sind zwei Konzepte, in denen er Potenzial im Vergleich zu Sozialer Arbeit oder Strafen sieht. Dabei liegt der Fokus auf einer Veränderung, die durch Arbeit in der Community und mit Täter:innen erfolgt. Eine kollektive Verantwortungsübernahme könnte so anstelle von schnellen Gerichtsprozessen stehen. Abolitionistische Konzepte, also Konzepte, die das geltende Verständnis von Kriminalität hinterfragen und Gefängnisse abschaffen wollen, werden nicht einfach aneinander geklatscht und als Lösungen vorgestellt.  Verschiedene Autor*innen werden dazu ausführlich zitiert mit dem Ziel, Möglichkeiten eines alternativen Umgangs mit Straftäter:innen (transformative Prozesse) aufzuzeigen. Auch im Literaturverzeichnis wird man fündig, interessiert man sich für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Themen wie Abolitionismus und mögliche Alternativen eines gesellschaftlichen Umgangs mit Gewalt.

Seine (Klassen-)Identität reflektiert der Autor anhand verschiedener Episoden, Freundschaften und Erlebnisse in seinem Umfeld. Das komplexe Zusammenspiel von Identität nimmt er immer wieder auseinander und betont an manchen Stellen, dass er gewisse Dinge tun konnte, weil er weiß war im Gegensatz zu Schwarzen Freunden. Dafür hat er ein Bewusstsein ebenso wie für seine jetzige, privilegiertere Position, aus der heraus er schreiben und veröffentlichen kann. Kurz gesagt: Sein soziales Umfeld hat ihn aus Sucht und Retraumatisierung gerettet. Er hat jetzt eine Wohnung, einen Job und kann traumatische Erfahrungen aufarbeiten. In dem Kapitel »Du bist nur ein weißer Junge« geht es um sein Weißsein und sein Freund MD, der von Rassismus betroffen und im Gefängnis ist, kommt auch zu Wort. Die beiden sind unter ähnlichen Umständen aufgewachsen und haben viele übereinstimmende, aber auch unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Die Unterschiede zwischen sich und MD beschreibt Hunter unter anderem so: »Es erinnert mich daran, dass es viele Grenzen zwischen uns gibt, und die bedeutendsten davon sind die Tatsache, dass er Schwarz ist und ich weiß bin, und die Tatsache, dass er eingesperrt ist und ich nicht. Und beides hängt miteinander zusammen.« Dieser intersektionale Blick ist wichtig für das Buch und wird an den richtigen Stellen immer wieder explizit gemacht.

Armut als Ausgangspunkt

Während seiner Kindheit und Jugend beschäftigte sich Hunter gedanklich vorrangig mit Überleben und Schuldfragen. Jetzt geht es ihm mehr um die Wurzel von Armut, die Zwänge, denen man in Armut unterworfen ist und die sehr eingeschränkten Möglichkeiten, die er selbst früher hatte. Er erzählt verschiedene Bruchstücke seiner Geschichte, Passagen über seinen gewaltausübenden Vater, Erlebnisse mit seiner drogenabhängigen Mutter und den Entscheidungen, die er und sie getroffen haben. Dabei will er sich nicht dem Narrativ von »schlechten, individuell getroffenen Entscheidungen« beugen. Stattdessen hat er einen versöhnlichen Blick auf sich und viele aus seinem früheren Umfeld und versucht statt der Schuldfrage nun die Strukturen zu ergründen, die zu der Gewalt geführt haben.

Auf uns gestellt gibt einen intimen Einblick in ein von Armut geprägtes Leben. Es ist nicht voyeuristisch, sondern benennt die Auswirkungen schlechter ökonomischer Ausgangsbedingungen sowie das Versagen verschiedener staatlicher Institutionen auf das Leben von Menschen: Hunger ebenso wie Vergewaltigungen, körperliche Gewalt und traumatische Erfahrungen.  Gleichzeitig schlägt Hunter mit dem Buch Alternativen eines gesellschaftlichen Umgangs mit Gewalt, die im Zusammenhang mit Armut steht, vor. Der Text passt somit hervorragend in die Reihe Nautilus Flugschriften: Dort werden aktuelle gesellschaftliche Themen mit essayistischen Texten kluger Autor:innen verlegt. Flugschriften sind eine längere Textform als z. B. das Flugblatt, dennoch will die Gattung Einfluss auf aktuelle Debatten nehmen und sich schnell verbreiten. Das ist dem Text zu wünschen.

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