An der Grenze

Monika Rinck weiß mit der Öffentlichkeit etwas anzufangen. Am zweiten Abend ihrer Poetikvorlesung über ›Wirksame Fiktionen‹ kritisiert sie eine menschenfeindliche Politik der Grenzmauern und begründet das Gebot zur Lyrik in Zeiten des Kapitalismus.

Von Philip Flacke

Bild: ©Literarisches Zentrum Göttingen (bearbeitet: gespiegelt)

Licht wird ›entfacht‹, nicht ›angemacht‹, nicht ›angeknipst‹, Aufmerksamkeit ›gewährt‹ und nicht ›geschenkt‹: Dass Monika Rinck nach den richtigen Worten und Wörtern greift statt nach naheliegenden, wissen die Zuhörer*innen schon, die am Donnerstag, dem 31. Januar, abends zum zweiten Mal in die Aula am Wilhelmsplatz zur Poetikvorlesung gekommen sind. Viele sind es nicht, so wie es auch gestern nicht besonders viele waren – 150 vielleicht und 400 Plätze. Umso mehr könnte man sich an einen Gottesdienst erinnert fühlen in diesem dreischiffigen Saal mit Widerhall und unbequemen Stühlen. Aber Monika Rinck ist ja da.

Und dann? Rinck formuliert diese Frage später selber: Was anfangen mit der Öffentlichkeit, die man ihr an diesen beiden Tagen einräumt? Jedenfalls kein Herumscharwenzeln um das Format. Die Dichterin ist sich ihrer Rolle bewusst und sie will etwas damit machen: ästhetische Erziehung, Teilhabe an Kanonisierungsprozessen, Kritik an Außen- und Grenzpolitik, an Stadtentwicklung, Verlagsprogrammen und Lyrik-Diskursen, Kapitalismuskritik, Brechen mit schönen Geschichten. Diese zweite Hälfte der Poetikvorlesung ist politischer als die erste und wo gelacht wird, ist es diesmal oft ein resignierendes Lachen.

Grenzen und Fiktionen

Die Route, die Rinck von ihrer Leitfrage um Fiction/Non-Fiction aus einschlägt auf dem Weg zu Grenzmauern und Zollbeamt*innen, besteht aus Etappen der Assoziation. Dort, wo die Grenzen zwischen den Gattungen starr und undurchlässig seien, seien es oft auch die Grenzen zwischen Staaten, oder umgekehrt. Und, mit der Lyrikerin Wendy Trevino: »A border, like race, is a cruel fiction«, ›Eine Grenze ist wie eine Rasse eine grausame Fiktion‹ (aus »BRAZILIAN IS NOT A RACE«, Übersetzung Monika Rinck). Eine Fiktion, das sehe man schon beim Vergleich einer Afrikakarte von 1880 mit einer von 1914. Und grausam auch, eine wirksame Fiktion, die Menschen den Durchgang verwehrt, das Leben kostet. So wie in den Gedichten des syrisch-palästinensischen Lyrikers Ramy Al-Asheq. Ein Sterben, dessen Ende nicht abzusehen sei, »weil die offenen Grenzen dem Kapital und den Märkten vorbehalten sind«. Für diejenigen aber, auf deren Arbeitskraft das alles baue, gelte: »Reisefreiheit ist ein ungleich verteiltes Gut.« Nicht nur die EU-Außengrenzen werden immer dichter. »Trump verlegt das ganze Land an die Grenze« – »als gäbe es Gewalt nur als Import«. Und Dänemark baut zu Deutschland hin einen Zaun gegen die Afrikanische Schweinepest, ohne dass davon ein einziger Fall in Deutschland registriert worden wäre. Die Grenze gerate zum Fetisch, zur Bedingung.

Poetikvorlesung

Zum 18. Mal fand am 30. und 31. Januar 2019 in der Aula am Wilhelmsplatz die Lichtenberg-Poetikvorlesung statt. Sie wird ausgerichtet vom Literarischen Zentrum, gefördert von der Stiftung Niedersachsen und der AKB Stiftung und in Kooperation mit dem Wallstein Verlag und der Georg-August-Universität Göttingen organisiert und durchgeführt. Dieses Jahr wurde Monika Rinck mit der Dozentur geehrt.
Teil I unserer Berichterstattung ist hier nachzulesen.

Ist es ungerecht, die Metapher von Grenzen zwischen Begriffen so ernst zu nehmen; den Begriff Fiktion so weit zu machen, dass noch Staatsgrenzen darunterfallen? – Ist diese Frage angemessen? Droht sie Monika Rinck nachträglich die Berechtigung des Übertritts von Poetologie zu Politik abzuerkennen? Fiktionen sind doch harmlos, weitestgehend, sagen uns Theoretiker*innen wie Kendall Walton; eine Aufforderung vielleicht, uns etwas vorzustellen, ohne dass wir Gefahr laufen, es wirklich zu erleben. Staatsgrenzen hingegen, wenngleich nur eine kollektive Vorstellung, bedeuten handfeste Barrieren, ohne dass ein Notausgang so leicht zu erreichen wäre – ›Es ist ja nur ein Buch, ein Film‹. Das zu betonen, ist Rinck sogar wichtig: Ein Gedicht, es kann Gewalt ausüben, Wirkung zeigen, wirklich sein, aber zugleich bietet es immer einen Ausgang aus sich selbst. In zehn Tipps für gutes Drehbuchschreiben rät Billy Wilder: »Grab ’em by the throat and never let ’em go.« ›Pack sie an der Gurgel und lass sie nicht mehr los.‹ So eine Poetik der Übergriffigkeit will Monika Rinck nicht haben.

Brüche sichtbar machen

Aber um Trennschärfe ist Rinck heute Abend nicht mehr so bemüht. Gestern hatte sie noch definiert und expliziert, eingegrenzt und ausgeführt. Gestern war sie noch mit einem Kanon der Kultur- und Literaturwissenschaft einer philosophischen Frage auf den Leib gerückt und hatte dem Uni-nahen Publikum damit Anschlussmöglichkeiten geboten. Heute zitiert sie fast nur Lyriker*innen und Essayist*innen – und auch noch häufig unbekannte –, lässt die Gedichte für sich selbst sprechen. Und sie sagen: Wir reden über Welt. Wir sind nicht stumm. Wir sind nicht eindeutig. Rinck präsentiert Lyrik als Alternative zur ›schönen Geschichte‹; da gibt es Brüche und Unebenheiten und Ambivalenz. Wer Lyrik liest, lässt sich darauf ein. Da müsse man selber Wege bahnen, Netze knüpfen, Möglichkeiten ausloten, Entscheidungen treffen, sich selbst verorten. Auch darum gehörten diese Texte ins Sachbuchregal.

Wer jetzt zeitgenössische Lyrik lesen will und nicht gleich einen Weg ins Gedicht findet, für den hat Rinck zwei Lektürestrategien parat. Erstens, man nehme sich das vor, was man nicht versteht – unbekannte Referenzen, Namen, Fremdwörter, Zitate. So knüpfe sich die Lyrikleserin, wie sie berichtet, nachschlagend und fortdenkend ihr eigenes neues Netz, ein reelles, persönliches Netz, das zugleich auch mit einem konkreten Ort verknüpft sei. Zweitens, man versuche sich an einer Übersetzung in eine andere, vielleicht die eigene Sprache. Wie dabei Sinn und Unsinn der Wörter und Worte erforscht, Probleme und Möglichkeiten greifbar werden, führt Rinck selbst wieder und wieder vor. Denn ein großer Teil ihrer reichen Textauswahl ist in englischer Sprache und ihr eigenständiges Übersetzen dient auch dazu, ein wenig Vertrautheit herzustellen zwischen uns und dem Gedicht.

Lektüren fortsetzen

Das ist auch eine Art, die Öffentlichkeit einer Poetikvorlesung zu nutzen: Monika Rinck regt zum Lyriklesen an und sie hat ganz konkrete Empfehlungen, die sie zitiert und lobt und hinterher auslegt, sodass neben dem Büchertisch ein Stöbertisch ohne Kaufoption entsteht. Auch für die Vermittelnden von Literatur hat Rinck eine Empfehlung: Dass es keine vollständige Gesamtausgabe von Elke Erb gibt, »ist ein Skandal«. Elke Erb veröffentlicht seit den 70er Jahren Gedichtbände und Prosa. 2017 widmeten ihr u.a. die Berliner Lyriker*innen Steffen Popp, Ann Cotten und Daniel Falb eine Ausgabe der Zeitschrift Text+Kritik.

Gegen Ende spricht Rinck noch einmal über Obdachlosigkeit, wie gestern, über die Relevanz der Bibliotheken und die Unfähigkeit des Kapitalismus, lebenswerte Städte zu errichten. Und umgehend stellt sie die skrupulöse Frage, ob sie als Autorin nicht das Elend verwende, ohne dem Elend etwas abzugeben. Lyrik verkauft sich schlecht, sagen die Ökonom*innen. Monika Rinck macht daraus fast eine positive Selbstaneignung. Na, sie spielt eben nicht mit beim Kapitalismus, die Lyrik. Gedichte werden hergestellt, nicht produziert, sagt Rinck.

Die Vorlesung dauert etwa eine Stunde. Fragen aus dem Publikum gibt es keine, aber das hatte auch nur ganz kurz Gelegenheit dazu. Rinck hat an diesem Abend etwas mit ihrer Öffentlichkeit angefangen. Für eines aber hat sie sie nicht benutzt. Noch Ende dieses Monats erscheint im Berliner kookbooks-Verlag ihr neuer Lyrik-Band mit dem Titel Alle Türen. In Rincks Handout mit Gedichten für die Vorlesung findet sich ein Auszug daraus. Sie hat ihn übergangen. Auch dass die Poetikvorlesung im Herbstprogramm des Wallstein-Verlags erscheinen soll, sagt nicht sie, sondern Anja Johannsen vom Literarischen Zentrum. Werbung gemacht hat Monika Rinck an diesen zwei Abenden nur für die Anderen:

• Ramy Al-Asheq: Gedächtnishunde, sujet verlag (erscheint im März 2019),
• Anne Boyer: A Handbook of Disappointed Fate, Ugly Duckling Presse 2018 (englisch),
• Julian Talamantez Brolaski: gowanus atropolis, Ugly Duckling Presse 2011 (englisch),
• Julian Talamantez Brolaski: Of Mongrelitude, Wave Book 2017 (englisch),
• Elke Erb: Gedichtverdacht, Urs Engeler (erscheint 2019),
• Diana Hamilton: God Was Right, Ugly Duckling Presse 2018 (englisch),
• Marwa Helal: Invasive Species, Nightboat Books 2019 (englisch),
• Wendy Trevino: Cruel Fiction, Commune Editions 2018 (englisch),
• Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt, Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus, Matthes & Seitz 2018,
• und viele mehr.

Geschrieben von
Mehr von Philip Flacke
Das schreibende Ich behaupten
Maria Anna Sagers Arbeit an den Grenzen von Gattungs- und Geschlechterkonventionen des...
Mehr lesen
Hinterlasse einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert