Didier Eribons neues Buch Eine Arbeiterin beschäftigt sich mit dem Leben (und Sterben) seiner Mutter. Ausgehend von ihrem Einzug ins Pflegeheim rekonstruiert er Herausforderungen, die sie bewältigen musste, Träume, die sie aufgeben musste und die Rolle, die sie für seine Identitätsbildung spielt.
Von Angelina Strauch
Wie fühlt es sich an, nicht nur die Kontrolle über den eigenen Körper, sondern auch über das eigene Leben zu verlieren? Didier Eribons Mutter war eine Frau der Arbeiterklasse, deren Schulbildung mit 14 Jahren endete, die sich seitdem als Dienstmädchen und Putzfrau durchschlagen musste, eine unglückliche Ehe durchlebte und fünf Kinder großzog. Als sich ihr körperlicher Zustand im Alter radikal verschlechtert, sind ihre Kinder darauf angewiesen, sie in ein Pflegeheim einzuweisen. Aus der Perspektive einer ihrer Söhne, dem französischen Soziologen und Schriftsteller Didier Eribon, wird auf 272 Seiten der persönliche und gesellschaftliche Umgang mit dem Alter reflektiert. Die Mischung aus Essay, Biografie und Autobiografie ist von Sonja Finck ins Deutsche übertragen worden.
Zwischen Erfahrung und Reflexion
Eribon stellt in seinem Buch Erzählung und Essay nebeneinander. In den Erzählteilen zeichnet der Autor Szenen aus seinem Leben, dem seiner Mutter oder Erlebnisse von beiden miteinander nach. Die Schilderungen sind meist stark emotional geprägt. Er führt beispielsweise aus, wie seine Mutter allmählich die Kontrolle über ihren Körper verliert, bis sie nicht mehr allein aufstehen kann. Er beschreibt, wie sie nicht in ein Heim ziehen will, aber muss und wie durch das überlastete Gesundheitssystem Grenzverletzungen und menschenunwürdige Maßnahmen passieren. Trotz der emotional belastenden und persönlichen Themen drückt Eribon alles, was er fühlt, denkt oder erlebt sachlich und pointiert aus. Dies führt zu einem hohen Kontrast zwischen der Thematik und der Art der Darstellung, der die emotionale Tiefe des Buches verstärkt.
Es werden Situationen geschildert, in denen Eribon und seine Brüder in kurzer Zeit Entscheidungen von enormer Tragweite treffen müssen: Soll unsere Mutter in ein Pflegeheim, wenn sich ihr Zustand weiter verschlechtert? Wie gehen wir damit um, wenn sie das nicht will? Was tun wir, wenn es ihr dort nicht gut geht? Eribon erzielt eine emotionale Wirkung allein durch die schonungslose Aneinanderreihung all dieser Momente in rascher Abfolge. Seine Darstellung entspricht dem, wie es sich in Wirklichkeit anfühlt, wenn man sich in einer Notsituation befindet – es bleiben nicht die Zeit oder die Mittel, zu hinterfragen, wie ethisch korrekt das eigene Handeln ist; und oft ergibt sich kurz danach ein schlechtes Gewissen, sobald sich mehr Zeit zur Reflexion auftut. Eribon spricht aus der Perspektive von jemandem, der in einer Sackgasse sitzt, dessen Taten bereits geschehen sind. Sein Umgang mit dem schlechten Gewissen und den nicht mehr rückgängig machbaren Entscheidungen besteht darin, alles zu reflektieren, was er bereut. Dazu gehören nicht eingelöste Vorsätze, die Mutter öfter zu besuchen, seine Tatenlosigkeit, als seine Mutter leidet, bis hin zu der »Vernunft«, mit der er seine Hilflosigkeit kaschiert hat.
In den Essay-Sektionen bedient sich Eribon einer noch stärkeren Außenperspektive. Der Autor betrachtet seine Mutter als Produkt des Einflusses von Klasse, Gesellschaft, Geschlecht, Kultur und Sexualität. Dabei bezieht er sich auf Philosoph:innen wie Simone de Beauvoir oder Jean-Paul Sartre und diskutiert ihr Leben sowie seine Entscheidungen auf wissenschaftlicher Ebene. Die Essay-Teile erinnern durch ihre Form und Struktur – beispielsweise dadurch, dass Fußnoten mit Literaturangaben auftauchen – an Forschungsarbeiten, auch wenn sich ihre Länge und der Grad an Theoriebezogenheit individuell unterscheidet. Seine Vorgehensweise im Erzählen verläuft immer nach dem gleichen Muster: Eribon erzählt von einem Erlebnis, das in einer Weise mit seiner Mutter, ihm oder ihnen beiden zu tun hat und formuliert ausgehend davon eine theoretische Abhandlung. Es ist nicht vorhersehbar, wie lang ein Kapitel sein wird. Oft wird eine große Aufmerksamkeitsspanne benötigt, um mit allen Ausführungen Eribons mitzuhalten. Vorwissen ist keines nötig.
Ein Kampf gegen das unabwendbare Schicksal?
Eribon versteht sein Buch als einen Anschluss an Simone de Beauvoirs Das Alter und Norbert Elias’ Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Er schreibt, dass ihn die Lektüre dieser Werke, durch die er sich inmitten von Unsicherheit, Verwirrung und Traurigkeit einen klaren Kopf zu schaffen versucht hat, auf die Idee gebracht haben, selbst daran anzuschließen. In diesem Sinne legt Eribon klar dar, an welchen Stellen er vorhandener Lektüre über das Altern zustimmt und wo ihm bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Lücken in der Forschung aufgefallen sind. Eribon erhebt nicht von vornherein den Anspruch, neue Erkenntnisse zu diesem Thema beizutragen. Vielmehr scheint er eine Balance zwischen der Bewältigung seiner Gefühle und einer theoretischen Auseinandersetzung anzustreben, wie bereits seine Sprache und die Struktur seines Buches suggerieren. Als sein Ziel kann vielleicht angeführt werden, dass er bei seinen Leser:innen ein Bewusstsein dafür schaffen möchte, dass wir alle in ein multifaktorielles Netz eingesponnen sind, das für uns manche Dinge möglich macht, andere unmöglich. Darauf weist auch der Titel des Buches – Eine Arbeiterin – hin.
Kein Einzelschicksal
Das Schicksal von Eribons Mutter ist nie ein Einzelschicksal gewesen. Es ist keine von Gesellschaft losgelöste Tatsache, dass sie einsam in einem Pflegeheim kaum besucht wurde und sterben musste. Ebenso betrifft es nicht nur sie, dass sie zwar ihr Leben lang gearbeitet hat, sich aber dennoch keine ihrer Träume erfüllen konnte. Eribons Werk birgt die Erkenntnis, dass man die externen Faktoren, denen man im Leben machtlos unterliegt, rationalisieren und besser verstehen kann. Dazu ist lediglich eine Auseinandersetzung mit soziologischen, philosophischen und politischen Theorien nötig. Dafür wiederum kann Eribons Werk einen Einstieg bieten. Die einzige Voraussetzung ist, sich auf die etwas unkonventionelle Mischung aus Essay, Biografie und Autobiografie einzulassen. Eine Empfehlung zur Rezeption: Das Buch nicht zu lange aus der Hand legen und eine offene Einstellung dafür, welchen theoretischen Hafen Eribon als Nächstes ansteuert.
Didier Eribons Eine Arbeiterin. Leben – Altern – Sterben beinhaltet ein Nebeneinander von tiefgründigen, präzisen und sorgfältig aufgebauten Analysen, introspektiver Reflexion und persönlicher Erzählung. Auf den ersten Blick wirkt es etwas skrupellos, eine solches Vorgehen für die Auseinandersetzung mit dem Tod der eigenen Mutter anzusetzen. Tatsächlich erhält das Buch aber gerade durch diesen Kontrast seine menschliche Färbung, da es etwas zu schaffen versucht, woran viele Menschen in Eribons Situation scheitern – Klarheit und Verständnis herzustellen. Insgesamt handelt es sich um eine tiefgründige und zum Nachdenken anregende Auseinandersetzung mit Emotionen und Reflexionen von Handlungen. Aufgrund der klaren Ausdrucksweise und Ausführlichkeit lassen sich Eribons Gedanken gut verstehen, aber eine längere Konzentrationsfähigkeit und thematische Offenheit sind Voraussetzung für das Verständnis.