Die dominante gesellschaftliche Logik des Westens hat sich gewandelt: von dem Primat des Allgemeinen hin zum Paradigma des Besonderen. Das Durchschnittliche, vermeintlich Normale ist in Verruf gekommen. Andreas Reckwitz bringt das Nichtschematische auf Begriffe und weist die Spannungsfelder auf.
Von Johannes Leichsenring
Bild: Selbstverwirklichung in der Creative Economy von Eric Bailey via Pexels / CC0
Das neue Buch des vielleicht wichtigsten deutschsprachigen Soziologen Andreas Reckwitz ist eine systematische Erschließung unserer widersprüchlichen Gegenwart. Anspruchsvoll in seiner Zielsetzung führt es die Leserschaft auf sprachlich meist gut verständliche und teils gewitzte Art vor, in welchen gesellschaftlichen Logiken sie sich befindet. Der hohe Wiedererkennungswert der dargelegten Theorie im eigenen Leben hat teils unheimliche Züge und treibt zum Weiterlesen an.
Fast ein Jahr vor der Veröffentlichung des gesellschaftstheoretischen Buches Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne veröffentlichte der Autor Andreas Reckwitz, Professor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt Oder, einen knappen Gastbeitrag in der Zeit mit dem Titel Alles so schön hyper. Andreas Reckwitz widerspricht darin der gängigen Annahme, die Welt sei nach dem Kalten Krieg in einen ›Kampf der Kulturen‹ übergetreten. Gerade heute – in Zeiten des fundamentalistischen Terrors und aufkeimenden Nationalismus und Rechtspopulismus – wird eine solche Annahme zu einer verlockenden Erklärung für die groteske politische Situation. Diese These, so Reckwitz, sei verführerisch, ziele aber »knapp – und entschieden – an der Realität vorbei«. Denn ihm zufolge sind die aufkeimenden Phänomene wie Fundamentalismus oder Nationalismus nicht Ausdruck von Konflikten zwischen spezifischen Kulturen, sondern Anzeichen eines globalen Antagonismus zwischen einem essentialistischen Umgang mit Kultur, wie ihn sich beispielsweise nationalistische Bewegungen vorstellen, und dem Phänomen der Hyperkultur, in der alles – unabhängig der lokalen und kulturellen Herkunft – zur identitätsstiftende Potenz werden kann. Doch wie genau funktioniert diese Hyperkultur?
Die Gesellschaft der Singularitäten ist eine an sich paradoxe Erscheinung.
»Das spätmoderne Subjekt«, so Reckwitz, strebt nach dem Besonderen, nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit, wobei der »Durchschnittsangestellte mit Durchschnittsfamilie […] zur konformistisch erscheinenden Negativfolie geworden« sei. Die Logik einer Gesellschaft der Singularitäten zeigt sich darin, dass diese neue Ausprägung von Individualisierung der Einzelnen oder einzelner Gruppen nun nicht länger nur ein subjektiv-persönlicher Wunsch, »sondern [eine] paradoxe gesellschaftliche Erwartung geworden ist«. Hierbei eignet sich das Subjekt Güter, Wissen und Eigenschaften an, deren spezifische Besonderheit und Einzigartigkeit es als solche erkannt hat, wobei nicht von Belang ist, aus welchem ursprünglichen kulturellen, historischen, oder geographischen Raum sie herausgelöst wurden.
Auf eindrückliche Weise zeigt Andreas Reckwitz, das höchst Bemerkenswerte an diesem neuen und paradoxen Gesellschaftsparadigma, indem er noch einmal das Programm der klassischen Moderne vergegenwärtigt. Mit der klassischen Moderne als Prozess formaler Rationalisierung prägte sich im 18. Jahrhundert zunächst in Westeuropa eine »soziale Logik des Allgemeinen aus«. Standardisierung in Produktionsprozessen, Systematisierung im Geiste einer effizienten Bearbeitung der Natur und die Etablierung einer genormten, typisierten und formalisierten Ordnung des Sozialen, waren die Kernpunkte einer Moderne, die als »Generalisierungsmaschine« auftrat. Die daraus entstandenen Industriegesellschaften, die in der westlichen Welt, wie auch in der Sowjetunion, ihren Höhepunkt in der Mitte des 20. Jahrhunderts fanden, unterlagen dieser tiefgreifenden formalen Rationalisierung. Der Staat, das Recht, die Produktionsstätten, die Schulsysteme, das Private: alles unterlag einer Logik des Allgemeinen. Diese Logik aber besteht auch in der singularisierten Gesellschaft weiter. Sie bildet sogar die Bedingung für diese. Eine Automobil- oder Energieindustrie wäre beispielsweise ohne standarisierte Arbeitsweise weiterhin nicht denkbar. Die Bewertung dieser hat sich jedoch verändert.
Das Allgemeine verliert an Wert. Das Besondere ist Trumpf.
Diese Logik brach sich in den 1970er und 1980er Jahren zunehmend und transformierte sich allmählich in eine Logik der Singularitäten, in der sich das als innovativ, besonders und einzigartig Geltende anfing zu behaupten. Innerhalb dieser neuen Logik spielt nach Reckwitz das ständige Bewerten, Aneignen und Performen eine bedeutende Rolle. Im Individuellen wie auch auf dem globalen Gütermarkt ist das Subjekt – bzw. das Objekt – der ständigen Bewertung von außen unterworfen. Eine standardisierte Norm gilt nicht länger als Maßstab, sondern die speziellen Eigenheiten von Gegenständen und Individuen werden als singulär aufgewertet oder aber als schrullige Eigenartigkeit entwertet. Dabei gerät auch das Normierte, Unspektakuläre, Durchschnittliche, Profan-Allgemeine unter den kritischen Blick der singularisierten Gesellschaft.
Rückkehr des Klassenbegriffs
Somit sind die Randerscheinungen wie die aus der Boheme des 19. Jahrhunderts – einst kritisch beäugten – Vertreter kleiner Kreativzirkel nun zur gesellschaftlichen Blaupause für eine globale Mittelstandsgesellschaft geworden sowie für die Creative Economy, die selbst zur treibenden Kraft der postindustriellen Ökonomie geworden ist. Der Träger und Motor dieser Gesellschaft ist in erster Linie die akademische Mittelklasse, die sich gegen die neue Unterklasse durch ihr kulturelles und soziales Kapital abgrenzt.
Das singularisierte Individuum, bedacht auf seine besondere Einzigartigkeit, überträgt diese zunächst an sich gestellte Anforderung auf alle Bereiche des Lebens. Nahrung ist nicht länger bloß »sättigendes Mittel« und im besten Falle schmackhaft. Kleidung muss nicht ausschließlich wettertauglich sein. In der postindustriellen Ökonomie ist beispielsweise ein Schuh nicht länger ein rein funktionales und somit profanes Bekleidungsstück, sondern ein singularisierter, mit Narrativen aufgeladener Gegenstand, der für den Konsumenten – oder vielmehr den Rezipienten – mit Bedeutungen, Identitäten, Affekten und Emotionen verknüpft ist. So kann ein Schuh auch ethische Werte repräsentieren, die wiederum eine politische und gesellschaftliche Positionierung unterstreichen und dem Subjekt als Träger dieses Schuhs wegen der damit verbundenen Narrative soziales Prestige einbringen. Ebenso ist die Erwerbstätigkeit nicht länger reiner Erwerb des Lebensunterhaltes, sondern selbst schon Lebensgestaltung, mit der sich das Individuum selbst verwirklicht.
Durch die immense Aufwertung jener Dienstleistungsberufe die im Modus der creative economy operieren und von Arbeitsformen geprägt sind, in denen Selbstverwirklichung (scheinbar) möglich ist, findet gleichzeitig eine Abwertung des einfachen und rapid wachsenden Teils des Dienstleistungssektors und der Industriearbeit statt. Gegenüber der kreativen Arbeit in Projektteams mit flachen Hierarchien und einem intrinsisch motivierten Arbeitsethos, erscheint die Fließbandarbeit geradezu profan. Mit dieser Abwertung einfacher, standardisierter Arbeit verbindet sich häufig noch die soziale Abwertung. Gerade in den alltäglichen Bereichen wie der Ernährung wird die Kluft zwischen der akademischen Mittelklasse und der neuen Unterklasse besonders deutlich, weshalb Reckwitz auch nicht von Milieus spricht. Ist für die singularisierte Mittelklasse »das Essen […] in extensiver Weise zu einem Gegenstand der Sorge, des Genusses und Erlebens, des Wissens und der Kompetenz, der Performanz und des sozialen Prestiges geworden, ausgestattet mit einer identitätsbildenden Kraft«, fehlt es der neuen Unterklasse an Bildung und Geld für einen solch fein ausdifferenzierten und meist durch teils kostspielige Reisen kosmopolitisch unterstrichenen Lebensstil.
Die Spaltung der Gesellschaft mündet im Kampf um die Kultur.
Die daraus entstehenden Spannungen zeigen sich unter anderem in einer nicht zu übersehenden Skepsis der neuen Unterklasse gegenüber dieser neuen kosmopolitischen Hyperkultur. Während die singularisierten Individuen sich aus global-pluralen Kontexten heraus die unterschiedlichsten Identitäten ausbilden, formiert sich nicht nur innerhalb der neuen Unterklasse die Front der Kulturessenzialisten. Wo sich auf der einen Seite die Kultur aus der Ressource der kosmopolitischen Vielfalt speist, hat sie auf Seiten der Kulturessenzialisten eine historische und ethnische Grundlage. Das hohe Enttäuschungspotenzial innerhalb der Logik der Singularitäten für den Einzelnen, dem die rigorose Selbstverwirklichung nicht immer möglich ist und die auf diese Weise einen hohen innerpersönlichen Druck erzeugt, die ungleiche Verteilung von Gewinnen auf den risikoreich gewordenen Märkten, die tendenziell mehr Verlierer als Gewinner produzieren, sowie die Spaltung der Gesellschaft in Mittelklasse und Unterklasse, deren unterschiedliche Lebensweisen immer weiter auseinanderklaffen, drückt sich teilweise in »Antielitismus und Antiglobalismus aus«. Die Bedeutung der Kultur hat Konjunktur. Um die Frage, was sie sein soll, ist ein Kampf erwachsen, der sich innerhalb der Gesellschaften abspielt.
Andreas Reckwitz
Die Gesellschaft der Singularitäten
Suhrkamp: Berlin 2017
480 Seiten, 28 €
Bei Die Gesellschaft der Singularitäten handelt es sich um ein bemerkenswertes Buch, das das nicht Schematische schematisch erschließt, das dem Leser ein Netz in die Hand gibt, das weitmaschig genug die gegensätzlichsten und die unterschiedlichsten Erscheinungen erfasst und doch genügend feinmaschig ist, um die komplexen Phänomene durch pointierte Begriffe einzufangen. Ob es das Hauptwerk von Reckwitz bleibt, muss noch entschieden werden, auch wenn es bereits als solches verhandelt wird. Zu Recht wurde ihm mit der Verzeichnung auf der Shortlist zum Preis der Leipziger Buchmesse bereits im Frühjahr der Weg zu einer breiten Rezeption geebnet. Die Geisteswissenschaften werden jedenfalls in den nächsten Jahren nicht um dieses Buch herumkommen.