Mit Himmel über Charkiw hat der Suhrkamp-Verlag nicht nur die virtuelle Kriegschronik Serhij Zhadans in Buchform herausgegeben, sondern es auch geschafft, dabei die Stärken dieser Aufzeichnungen über den Alltag im Krieg zu bewahren.
Von Maximilian Menzel
Dies postete der ukrainische Musiker und Schriftsteller Serhij Zhadan am 24. Februar 2022 um 15:05 Uhr auf seiner Facebookseite. Zhadan und die anderen Mitglieder der Band Zhadan i Sobaky (deutsch: Zhadan und die Hunde) bleiben in ihrer Heimatstadt Charkiw, um humanitäre Hilfe zu leisten. Abermals in der Geschichte der Ukraine wird die Millionenstadt an den drei Flüssen Ort eines kriegerischen Überfalls.
Zhadan und seine Mitstreiter helfen bei der Evakuierung von Zivilisten und geben Konzerte in Metrostationen, Krankenhäusern und an der Front. Sie verteilen und organisieren Lebensmittel, Kleidung und Medikamente oder Spielsachen für Kinder, aber auch Ausrüstungsgegenstände für das Militär. All das schildert Zhadan auf kurze und einprägsame Weise mehrmals pro Woche in seinen Posts auf Facebook. Nun hat der Suhrkamp-Verlag Zhadans Texte, Bilder und Videos (letztere mit QR-Codes im Buch abgedruckt und abrufbar) der ersten vier Monate seit Beginn des zweiten Überfalls der Russischen Föderation auf die Ukraine unter dem Titel Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg in einer Übersetzung von Juri Durkot, Sabine Stöhr und Claudia Dathe veröffentlicht.
Ukrainische Renaissancen
Ob Juri Andruchowytsch, Oksana Sabuschko oder eben Serhij Zhadan: Die Liste ließe sich fortsetzen, was wichtige Stimmen der Gegenwartsliteratur der Ukraine anbelangt. Was sie eint, ist die durch den Euromaidan endgültig ausgelöste und durch die aktuellen Geschehnisse wie durch ein Brennglas umso mehr forcierte zweite kulturelle Wiedergeburt der Ukraine. Eine Wiedergeburt, die sich durch die Kultivierung der ukrainischen Sprache in ihrer Kunst sowie Kultur äußert.
Bereits während der 1920er-Jahre kam es zu einer kulturellen Renaissance in der Ukrainischen Sowjetrepublik, die jedoch ein paar Jahre später durch den Stalinismus gewaltsam zerschlagen wurde und als ›Rosstriljane widrodschennja‹ (deutsch: ›hingerichtete Renaissance‹) bekannt wurde. Was also Gewalt einst zerschlug, wurde und wird nun durch Gewalt wiedergeboren. Und wie Walerjan Pidmohylnyj, der als ein Vertreter der ersten Renaissance mit seinem Bildungs- und Großstadtroman Misto (deutsch: Die Stadt) der Stadt Kyjiw ein Denkmal setzte, portraitiert heute Zhadan als Vertreter der zweiten Renaissance in seinem Schaffenswerk die Stadt Charkiw. Gleichwohl Zhadan nicht explizit von einer Renaissance spricht, ist er sich ihrer bewusst und lässt dies in Himmel über Charkiw auf implizite Weise unschwer erkennen. So verspricht Zhadan beispielsweise am 7. März den Wiederaufbau des durch die Bombardements zerstörten Slowo-Gebäudes (deutsch: ›Haus des Wortes‹). Dabei handelt es sich nicht um irgendein Gebäude in Charkiw, sondern um einen in den 1920er Jahren errichteten Wohnkomplex für ukrainische Schriftstellerinnen und Schriftsteller der ersten Renaissance. Zhadan geht es folglich nicht nur um den Wiederaufbau der zerstörten Stadt, sondern auch um den Wiederaufbau der Sprache.
Eine Chronik von Unverfälschtheit
Unweigerlich denkt man beim Lesen der Texte Zhadans an einen anderen großen Schriftsteller des Suhrkamp-Verlages: den kürzlich verstorbenen Schriftsteller Dževad Karahasan. Auch Karahasan blieb während des Bosnienkrieges in der von Serben belagerten Stadt Sarajevo und dokumentierte den Alltag. Doch anders als bei Karahasan, der in seinem Werk Tagebuch der Übersiedlung die einzelnen Erzählungen durchkomponiert hatte und somit Prosa schuf, sind die auf Facebook geposteten Texte Zhadans Chroniken, die im ›Jetzt-Zustand‹ veröffentlicht wurden und so durch das Direkte und Unmittelbare, durch ihre Nicht-Komponiertheit, bestimmt sind. Die nachträglich nicht weiter bearbeiteten Posts bilden so ungefiltert Zeit, einen tatsächlichen Ereignisverlauf, ab. Das macht deutlich, dass Zhadan keinen vorläufigen Textstand teilt, der später überarbeitet werden kann, sondern das Unwiderrufliche. Es werden Gefühle zum Ausdruck gebracht, bei denen der Augenblick des Geschehens deckungsgleich mit der Veröffentlichung ist. Sich diesem Zustand von Unmittelbarkeit bewusst zu sein, bedrückt einmal mehr beim Lesen der Schilderungen über den Alltag im Kriegszustand.
Das Stakkatoartige, die Verwendung von parataktischen Satzbauten sowie die Präzision durch die Knappheit an Worten verdeutlicht, dass es Zeiten gibt, die keine Grautöne zulassen, und dass es in bestimmten Gegebenheiten nur eine und nicht mehrere Wahrheiten geben kann, denn das Unmittelbare lässt keine Abwege zu. Zhadan zeigt, was er sieht und wie er es erlebt. Nichts von außen Betrachtetes, sondern die Schilderung aus dem Innern heraus. Nicht die großen Geschehnisse, sondern die Mosaikstücke, aus denen sie sich erst zusammensetzen, werden hier beschrieben.
Heterogene Sprache
Gerade weil es sich um kurze Texte handelt, die im Augenblick entstanden sind, wird auch die Heterogenität der Sprache deutlich. Es gibt heroische Durchhalteparolen wie »Über der Stadt wehen unsere Flaggen«, die aber auch als ein Refrain gelesen werden können. Es gibt geballte Wut gegenüber dem Aggressor: »Abschaum. Einfach Abschaum.« Und es gibt eine zum Ende hin aufkommende poetische Sprache: »Seit dem Morgen ist der Himmel ständig in Bewegung – die Wolken schwimmen heran, umzingeln die Innenstadt.« Über allem scheint dabei die Ermutigung, die Fürsorge und der Aufruf zum Zusammenhalt zu stehen.
Serhij Zhadan gehört zu jenen ukrainischen Künstlern, die derzeit die zweite ukrainische Renaissance einleiten, doch im Unterschied zur ersten besteht dieses Mal eine tatsächliche Chance, dass es nicht zu einer Zerschlagung kommt. Hierfür leistet Zhadan mit Himmel über Charkiw nicht nur seinen Beitrag, sondern legt auch noch ein unverwechselbares Zeitdokument vor.