Im Literarischen Zentrum Göttingen liest Judith Hermann aus ihrem neuen Erzählband Wir hätten uns alles gesagt. Persönlich und gleichzeitig zurückgenommen berichtet die Autorin von der Praxis des Schreibens, den Einfluss ihrer eigenen Psychoanalyse-Erfahrung und ihrer Kindheit.
Von Eva Schuchardt
Bild: Literarisches Zentrum Göttingen
Wir hätten uns alles gesagt: Im Literarischen Zentrum in Göttingen liest Judith Hermann aus ihrem neuen Erzählband vor, der jüngst im S. Fischer Verlag erschienen ist und auf die Frankfurter Poetikvorlesungen zurückgeht. Für diese war Hermann im Wintersemester 2021/2022 zu Gast. Im Literarischen Zentrum kommt die Autorin mit Anna-Lena Markus ins Gespräch. Es entsteht ein gut moderierter Dialog über die Vorlesung und die Parallelen zwischen ihrer Praxis des Schreibens und der Erfahrung einer Psychoanalyse.
Man kennt sie
Hermann, die 1999 für ihren Kurzgeschichtenband Sommerhaus, später mit dem Bremer Literaturförderpreis ausgezeichnet wurde und der Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett einst eine vielversprechende Karriere voraussagte, ist eine der bekanntesten deutschen Autorinnen.
Die Einladung zu den Frankfurter Poetikvorlesungen würdigt die Autorin erneut. Im Gespräch mit Markus kommt auch Judith Hermann auf diese Würdigung zu sprechen: Die Einladung habe sie erstmal vor eine Herausforderung gestellt, eine nicht zu lösende Aufgabe. Dennoch: »Ein Ausschlagen der Einladung war nicht möglich, das hieße, keine Schriftstellerin zu sein«, so die Autorin.
Über das Schreiben
Hermann liest zunächst aus dem Anfang ihres Buches vor, jener einleitenden Passage, in der die Ich-Erzählerin ihren Psychoanalytiker unvermutet abends in einem Spätkauf auf der Kastanienallee begegnet, Jahre nachdem sie die Therapie beendet hat. Hermann gibt an diesem Abend zu verstehen, dass es sich bei der Ich-Erzählerin durchaus um sie selbst handelt. Anhand zahlreicher Erinnerungen erzählt sie rückblickend von ihrer Therapie, von Freundschaften und ihrer Familie. Die Geschehnisse sind dabei immer verfremdet, haben jedoch laut Hermann einen autobiographischen Kern. Insbesondere die ersten beiden Teile des Buches erzählen so von den äußeren Einflüsse auf ihr Schreiben.
Daneben finden sich jedoch auch immer wieder kurze, eingeschobene Passagen, in denen es um das Schreiben als solches geht. Diese knüpfen an die anekdotenhaft geschilderten Erlebnisse an. Anhand der eigenen Lebenserfahrungen schließt die Autorin Rückschlüsse auf ihre Schreibpraxis. Auch anhand von Hermanns Schilderungen zur Entstehung des Textes wird deutlich: Eine klare Grenze zwischen dem Persönlichem und dem Schreiben als Praxis lässt sich schwer ziehen.
Vom Zeigen und Verstecken
In Hermanns Texten geht es häufig vor allem um das, was nicht gesagt wird. Was im Text ausgespart wird, was einem:r empathischen Leser:in vielleicht als Leerstelle auffällt und sich in der eigenen Fantasie vervollständigt. In ihrem neuen Erzählband wird dies von der Autorin unmittelbar beschrieben:
Darauf kommt auch Markus vom Literarischen Zentrum zu sprechen, nachdem Hermann die erste von drei Passagen an diesem Abend gelesen hat: Jene Auslassungen fänden sich in vielen von Hermanns Texten wieder, seien kennzeichnend für ihr Werk. Wie sich Hermann vor dem Hintergrund dieser »Poetologie des Auslassens« der Einladung zu den renommierten Poetik-Vorlesungen angenähert habe, fragt Markus.
Freud lässt grüßen
»Der Schlüssel zum Aufbau der Vorlesung lag in der Struktur der Psychoanalyse«, so Hermann. Hier wird ein Kreis geschlossen: So waren es auch oft die Leerstellen und Auslassungen, die in ihrer Analyse entscheidend waren. Bei einer Psychoanalyse bleibt der:die Therapeut:in typischerweise eher im Hintergrund, stellt keine Fragen und gibt dem dem:der Analysand:in Freiraum, selbst zu erzählen und zu entscheiden, was er teilen möchte. Anhand seiner:ihrer Thematiken und Schilderungen kann er:sie so im besten Fall selbst Verbindungen zwischen dem Gesagten herstellen und folglich unbewusste Problematiken oder Konflikte an die Oberfläche bringen. Für Hermann lag der Schlüssel dabei oft in dem, was sie bei Schilderungen nicht erzählte und ihrem Therapeuten vorenthielt. Dinge, die ihr aber genau durch das freie Erzählen bewusst und an die Oberfläche gebracht wurden, dabei aber nicht zwangsläufig ausgesprochen werden mussten.
Dieses Prinzip habe sie versucht, auf die Vorlesung und ihren Text zu übertragen. Ihren Erläuterungen und Gedankensprüngen – vom Schreiben zur Analyse und von der Analyse zum Schreiben – kann man gut folgen. Die Autorin, die bisher wenig Auskunft und Details aus ihrem Privatleben entbehrt hat, die sich durch ihr Schweigen vielleicht als geheimnisvoll inszeniert hat, erzählt an diesem Abend sehr viel Persönliches und bleibt dennoch irgendwie zurückgenommen. Offen, durchaus auch witzig und kommunikativ mit dem Publikum, aber wohl bedacht ihrer Worte.
»Mir fiel nur meine eigene Kindheit ein. Die Zeit, in der die Welt anfängt, sich zu versprachlichen […]«
Die zweite Hälfte des Abends füllt eine weitere Vorlesepassage: Die Textstelle ist diesmal etwas düsterer, es geht um Vergangenes: Kindheit, staubige Zimmer der elterlichen Wohnung, ein Puppenhaus, das ihr Vater ihr einst gebaut hatte, »frühkindliche Prägung«, wie Hermann in therapeutischem Jargon formuliert. Das Publikum bleibt diesmal ernster, es wird weniger gelacht, nachdem Hermann das Buch nach unten legt und sich wieder der Runde zuwendet und im Gespräch mit der Moderatorin auf die Anfänge ihres Schreibens zurückkommt, die sich – eigentlich wenig überraschend – in den Erinnerungen an ihre eigene Kindheit finden. »Sie schreibe am eigenen Leben entlang«, diese häufig zitierte Aussage der Autorin wird auch an diesem Abend bestätigt und diskutiert. »Irgendwann entwickeln die Texte dann ein Eigenleben, gehen auf den Leser über und entkoppeln sich von mir.«
Markus kommt auf etwas anderes zu sprechen: Hermann werde nachgesagt, eine Obsession mit Häusern, Zimmern und räumlichen Ordnungen zu haben. Und ja, Räume, von denen ein Text ausgeht und sich weiterspinnt, Verschachtelungen, das scheine ihr irgendwie gut zu gefallen, bestätigt die Autorin. Sie beginnt daraufhin von ihrer Kindheit zu erzählen, einem Puppenhaus, das ihr Vater ihr einst gebaut habe und von dem auch im neuen Erzählband die Rede ist: ein großes Haus mit geschwungener Treppe, Galerie, mehreren Stockwerken. »Aber wenn man genau hinsah: eine Puppenstube der Verstecke. Geheime Falltüren und Verstecke. Räume hinter Räumen. Doppelte Bedeutungen.« Das Puppenhaus hat Einzug in ihren neuen Band gefunden, scheint ein wichtiges Artefakt ihrer Erinnerungen zu sein. Sie merkt an, dass dieses Haus mit all seinen verborgenen Verstecken ähnlich der Wohnung ihrer Eltern war, in der sie zu viert mit ihrer Großmutter gelebt haben. Damals habe sie gedacht, ihr Vater wolle ihr mit diesem eigens angefertigten Haus zu verstehen geben, dass Dinge nicht so sind, wie sie scheinen, es mehrere Bedeutungen, versteckte Türen geben kann. Vermutlich komme daher ihre Obsession mit Verschachtelungen und der Hang, in ihren Erzählungen Dinge auszulassen oder sie zu verstecken.
Leerstellen bleiben
Man kann Hermann an diesem Abend gut folgen, kann verstehen, wie sich ihre Texte aufbauen, sieht jetzt vielleicht ein bisschen besser, wie sie funktionieren. Auch ihre zurückgenommene Art ist sympathisch, das kurze freundliche Nicken, mit dem sich die Autorin am Ende bedankt, in die Runde schaut, den Blick wandern lässt. Hinterher gibt es Applaus, der lange nicht abebbt. Dennoch bleibt auch das Gefühl, dass es in Hermanns Werken am Ende immer um Ähnliches geht, Kreise unentwegt von vorne beginnen. Und Hermann scheint dies nicht abstreiten zu wollen, bestätigt viel mehr: »Alle Bücher haben dasselbe Thema. Ich sehe mir den Kern nur immer von einer anderen Warte aus an.«