All-Gegenwärtig

Die One-man-Band »Me and Oceans« verknüpft mit der Musik-Hörspiel-Performance MIR. Briefe an Juri gleich mehrere (Klang-)Räume. Und überlässt es den ZuhörerInnen, in welchem sie sich lieber aufhalten wollen. Ein großes Erlebnis.

Von Dorothee Emsel

Bild: Via Pixabay, CC0

1970. Der Berliner Kabarettist Rolf Linnemann pachtet den ehemaligen Weinkeller in der Groner Straße und gibt ihm einen Namen. Mikrokosmos, Kellerkosmos »Nörgelbuff«.

1988. Juri Wolkow umkreist in einer Raumstation die Erde. Mikrokosmos, Kellerkosmos MIR.

Dort hinein führt uns die Performance MIR. Briefe an Juri vom Leipziger Musiker Fabian Schütze, sein Alias: »Me and Oceans«. In einen Raum unter Tage, der eigentlich ein Raum über Erde ist. Wo der Gedanke zu Beginn noch lautete: »Die Bühne ist zu klein!« und sich allmählich wandelt zu: »Die Bühne ist perfekt!«. Denn die Enge einer Orbitalstation wurde hier, dem Programm oder eben nur den Umständen angepasst, symbolträchtig in den Raum übersetzt.

Auf dem Podest, das die Bühne markiert, hängen Stoffe mit Weltall-Print, ein Pappmond. Tische, Mikrofone, Laptop, Soundboard, Schreibtischlampen, bislang noch unidentifizierbare Spielereien, eine Leinwand. Das Setting der MIR. Und mitten darin Schütze, der Head Man, derjenige, der für Idee, Konzeption, Musik und Text verantwortlich ist. Der Sprecher, der Sänger, der Techniker.

Im Grunde sind es aber zwei Personen. Fabian und Juri. Juri Wolkow sitzt als Leiter einer Weltraummission in der MIR, vielleicht liegt er auch gerade oder schwebt, man weiß es nicht und doch glaubt man es zu wissen, weil Schütze seinen Protagonisten mittels der an ihn gerichteten Briefe so lebendig macht. Man erfährt, dass eine Sofia ihm schreibt, sie sterbe vor Angst. Ein Oleg Makarow teilt ihm mit, dass er das Viertelfinale der Olympischen Spiele im Tischtennis für Juri auf Videokassette aufgenommen habe. Und ein Valeri Polyakow schreibt unter anderem: »Mehr sage ich nicht«.

Diese Briefe vertont Schütze, er raschelt sie auf unter dem Mikrofon, sein Sprechgesang wird begleitet von ungemein stimmigen Melodiekurven, Pulsen und Takten, die, wenn niemand spricht oder singt, beinahe aleatorisch wirken (für die Arrangements waren neben Schütze selbst auch Jonas Wolter und Sebastian Bode verantwortlich). Es gibt kein Metrum, die Brief-Zeilen werden ebenso vorgetragen wie sie geschrieben stehen, und trotzdem ergibt sich daraus ein Singsang und Schütze versteht es, einzelne Worte so zu betonen, dass musikalische Reime entstehen. Gleichzeitig werden die Inhalte der Briefe »gelegt«: Einzelne Stichworte finden sich abstrakt und konkret auf Bildmotiven, die Schütze unter eine kleine Kamera schiebt, und die mittels Beamer an die Leinwand geworfen werden. Erzaubert wird also eine Trias aus Wort, Musik und Bild. Diese verdeutlicht wohl am besten das, was Schütze selbst als »Hörspiel« bezeichnet, im offiziellen Ankündigungstext wird es charakterisiert als »Spoken-Word-Poetry-Slam-Future-Pop-Experiment«.

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Me and Oceans
MIR. Briefe an Juri

ME AND OCEANS & TELESKOP Ko-Produktion 2017
9,90€

Fabian Schütze, Mitbegründer des Leipziger Labels ANALOGSOUL, macht hier wirklich so bislang Ungehörtes. Synchron agiert er: Knöpfe schalten, sprechen, singen, Bilder legen – und daraus ergibt sich ein eklektisches Bild von diesem Juri Wolkow, von einem Leben in einer Kapsel, von der Abwesenheit geliebter Menschen, vielleicht sogar von der Sowjet-Politik der 80er-Jahre. Die Chimäre Juri Wolkow, die den ZuhörerInnen präsentiert wird, lebt durch diese digitalen und analogen Gleichzeitigkeiten auf der Bühne, und sie findet sich so charmant in Schütze selbst, wenn er beinahe mit seinem Kopf an die niedrigen Deckenbalken stößt wie ein Kosmonaut an die Innenwände einer minimalgroßen Raumstation.

Rührend ist, auf ganz realer Ebene, wie Fabian Schütze sich mitfreuen kann mit dem, was er tut. Wenn er mal ein Plastik-Aquarium einschaltet oder den Pappmond an der Wand anknipst – das sind spielerisch-dramaturgische Notwendigkeiten, ausgeführt von einem Ideen-Peter-Pan. Am Ende des nur gut 60 minütigen Abends liefert er eine Zugabe, einen Ausblick: Kommt Juris Kapsel auf der Erde an? Was wäre in diesem Fall der Soundtrack to his life? Und Schütze beginnt Driving home for Christmas von Chris Rea zu singen und lacht selbst ein bisschen dabei. Chris Rea und Vodka – zwei Dinge, die Schütze und Wolkow gleichermaßen mögen. Deswegen wird auch zusammen mit vieren aus dem Publikum ein Shot Vodka gekippt, denn Juri feiert an diesem Abend seinen 42. Geburtstag. Auch Sofia gratuliert in einem Brief und fragt darin: »Fahren wir nach Sotschi, gleich wenn du wiederkommst?«

Mit diesem »proof of concert« begibt sich »Me and Oceans« in eine umfangreiche Live-Tournee. Es geht u.a. nach Stuttgart, Augsburg, Rostock und Berlin. Ein MIR-Survivor-Kit ist immer dabei: zwei Schnapsgläser, Klebeband und anderer fancy stuff. Schütze sagt über MIR. Briefe an Juri, es sei ein »Traumzauberbaum für Erwachsene«. Und »Juri sagt, egal was du aus Holz baust, du musst dich beim Baum bedanken.«

Ein kurzes Interview im O-Ton nach dem Konzert mit Fabian Schütze hört ihr hier.

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