Absehbare Abbilder

»ein Blinzeln / das alles einschließt« heißt es programmatisch im Gedicht Augenblick. Poetische Momentaufnahmen – oder doch nur Schnappschüsse? Litlog-Autor Felix Keutel über Svenja Herrmanns Gedichtband Die Ankunft der Bäume.

Von Felix Keutel

Bild: Alexander Tiupa via pexels / CCO

Seit 2010 veröffentlicht der Wolfbach-Verlag in seiner REIHE jährlich vier Titel mit Lyrik oder Kurzprosa aus der Schweiz. DIE REIHE gehöre damit »zu den wenigen Schweizer Editionen, in welchen noch regelmäßig Lyrik publiziert wird«. Ein nobles Unterfangen also, vielleicht sogar ein kleines eidgenössisches Bollwerk gegen die allgegenwärtige Flut an Romanen. In dieser REIHE nun erschien von Svenja Herrmann ihr neuer Gedichtband Die Ankunft der Bäume, und der verspricht keineswegs nur Naturpoesie.

Das Werk der Schweizer Autorin, Jahrgang ’73, besteht fast ausschließlich aus Lyrik; so gibt es neben zahlreichen Einzelbeiträgen in Anthologien und einer Art ›Mischwerk‹ aus Gedichten, Hörbuch und Musik (ein viertel blau, 2003) noch ihren ersten Gedichtband Ausschwärmen (2010); gleichzeitig betreibt sie eine Schreibwerkstatt für Jugendliche. Was taugt nun ihr neuer Band? Postkartenpoesie?

Die Gedichte (es sind ca. 60 Stück) sind oft Augenblicke aus der Welt des Mittelstands, allerdings auch mit Einblicken in andere Milieus. Die Settings sind Bibliotheken, Museen, Cafés, Gärten, Balkone, einmal ist ein Hafen dabei, ein anderes Mal befindet man sich auf Cony Island. Wir begegnen mehreren Kirchen, einem Aquädukt, einem Friedhof in London. Alles nicht unbedingt nervenaufreibend. Das ist kein Vergehen. Allerdings: Die Darstellung dieser Settings, das Geschehen in ihnen, sollte anregend sein, sonst bleibt es langweilig. Wie setzt die Dichterin das also um?

Herrmann bedient sich in ihrer Lyrik des freien Verses, sehr oft mit einem sprechenden Ich; das Komma ist ihr für den sanften Ton meistens zu hart, der Punkt immer. Viele der Gedichte haben den Charakter von Momentaufnahmen. Hier ein Beispiel (ohne Titel):

Der Aufprall ist kaum hörbar
im Rauschen der Stadt
es liegt vor meinem Fenster ein Vogel tot
ein Auge ist erstarrt, das andere zu
ich schiebe ihn auf eine Schaufel
der Ton des Besens bleibt
als Nachhall zurück

Das Bild ist recht trivial: Ein Vogel stirbt an einem Aufprall am Fenster und wird weggekarrt. Ein Augenblick aus dem Alltag. Hier und in anderen ihrer Gedichte lassen sich Parallelen finden zu einer vielleicht unvermuteten Gedichtform: das japanische Haiku. Das bekannte 5–7–5-Silben-Schema wird zwar nicht benutzt, aber die Kürze vieler Gedichte verweist auf dieselbe Mentalität: In möglichst wenigen Worten soll ein Moment samt einer angedeuteten Empfindung (das wäre hier der »Nachhall«) dargestellt werden. Das Bild sollte dabei für sich selbst sprechen, also möglichst ohne reflexive Einmischungen. Das Problem: Herrmanns Gedichte haben nicht den Exoten-Bonus (vermeintlich spezifisch) japanischer Zen-Gegenwärtigkeit. Sie müssen aus sich selbst heraus leuchten.

Und das tun sie oftmals nicht. Die Gedichte bräuchten Momente der Überraschung, ein kleines Aufblitzen, ein Funkeln – das aber fehlt. Kinder spielen auf einem Dach und »Sekunden später / sind Helden geboren«. Eine Fliege jagt »die Propeller des Ahorns« hinterm Fenster. Hitze kommt über die Schirme eines Cafés und »das Licht schlägt Funken«. Solchen Bildern fehlt eines: das Besondere. Diese Beschreibungen und Gedanken sind eher konventionell und lösen so kaum ein Stirnrunzeln aus.
Besser ist es da in dem Gedicht Vorahnung:

macbook

Svenja Herrmann
Die Ankunft der Bäume

Wolfbach Verlag 2017
80 Seiten, 18€

Ein dunkles Flattern am Ohr
während ich den Ameisen zusehe
die im Kies um einen toten Schmetterling
kreisen auch meine Gedanken um mich
der einschläfernde Mantel der Hitze
nur das Geräusch hält mich wach

Die Wörter »kreisen« und »um mich« verknüpfen hier die Gedanken des sprechenden Ichs mit der Bewegung der Ameisen um den toten Schmetterling und der einlullenden Tageshitze. Hier schafft es die Sprache, auf sich aufmerksam zu machen – und rechtfertigt so überhaupt die Gedichtform. Andere Stücke hingegen wirken eher prosaisch.

Am seidenen Faden

Aus den Gedichten spricht die Ungewissheit des nächsten Augenblicks und dem, was noch kommen wird. Darüber scheint das Ich zu sinnieren, wenn es heißt: »Bleiben die Zeichen aus / wende ich die Seite / alles ist da« (Bibliothek) oder wenn beim Lesen ringsherum »das Eis naht« (Kälte bricht ein); im Asyl »heben sich die Köpfe / im Wissen / dass ihre Zeit begrenzt ist« (Asyl) – auch eine Vorahnung also.

Ebenso spielt die Natur eine wichtige Rolle in dem Band. Zwiespältig erscheint sie: einerseits als Sehnsuchtsort, in dem »das steckt, was du suchst« (Die Ankunft der Bäume), wo das Ich »Zwischen den Federn eines Vogels / geschützt vor dem Luftstrom« (Zwischen den Federn eines Vogels) sich einnisten und Unterschlupf finden kann. Andererseits wirkt sie auch als Bild der Vergänglichkeit: als Reste einer Mühle mit Feldern davor, »als hätte die Erde die Menschen ausgewiesen« (Die Mühlen von Barbegal) oder aber auch als Insekt, welches die Menschenhände nicht retten können, denn »es sind die falschen Maschen« (Rettungslos). Der Mensch als evolutionärer Sieger kann noch »feierlich« im Museum unter urzeitlichen Walskeletten entlangschreiten – doch dieses Selbstbewusstsein hängt ebenso am seidenen Faden wie auch die Skelette nur »an einem zierlichen Gerüst aus Eisen« (Ursprung).

Verblasste Bilder

Allein, des Öfteren kann es schon mal kitschig und klischeehaft werden: Einem Bettler schneien Lindenblüten in den Hut, ein Duft legt sich wie ein Schleier auf, eine Gesichtsreflexion in einem Bildschirm bringt die Frage auf: »wo stehe ich«. Das sind verbrauchte Bilder und Ausdrücke, die heutzutage weniger überraschen, eher bestätigen – ein Dämpfer gerade für die Lyrik, die um die Aufmerksamkeit des Lesers kämpfen muss. Dadurch erscheinen viele Gedichte ein wenig ›zu sicher‹, ja, mutlos; mit mehr Risiko, mit mehr ankerwerfenden Eiswagen gewännen sie auch an Schärfe und Leidenschaft. Ankerwerfende Eiswagen? Ja, so was gibt es auch:

Kirche der Hochseefahrer

Aus den Mauern der Kirche
ragen wasserspeiende Fische
in ihnen atmen die Geister der Matrosen
Captain John Flower steht an der Wand
und ein in Stein gemeißeltes Segelschiff –
er liegt mit Wellengang im Ohr
Auf der Straße dreht weiter der Eiswagen
Runden zu der immer gleichen Melodie
er wirft einen Anker in die Stille der Gräber

Wenn der Eiswagen sozusagen ›um die Ecke kommt‹ und seine »Runden« dreht, wird das Ganze erst lebendig, wirft sich das Bild, um Ezra Pound zu paraphrasieren, auf den Leser.1Vgl. Ezra Pound: ABC of Reading. London/Boston 1991, S. 37. Von solchen originellen Bildern wären mehr wünschenswert. Mehr ankerwerfende Eiswagen wären wünschenswert.

Der Ohrwurm-Faktor – der in der Lyrik sehr wichtig ist – ist im vorliegenden Bändchen gering, nur ein paar Verse oder Formulierungen bleiben hängen, daneben noch einige Bilder. Ansonsten verrät die Lyrik in Die Ankunft der Bäume wenig Neues. Ein Eindruck – physisch wie psychisch – setzt eine einwirkende Kraft voraus. In der Lyrik ist diese Kraft die Sprach- und Bildgewalt, wo sie vereint sind, ist der Eindruck am stärksten. Zu häufig aber fehlt hier entweder das eine oder das andere. Mit mehr verblüffenden und ausdrucksstarken Bildern, mit mehr sprachlicher Schärfe und Kühnheit bliebe nach der Lektüre des Gedichtbandes auch ein wesentlich größerer Eindruck, eben: ein »Nachhall« zurück.

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