Was könnten Gespräche über Vulven und Entwicklungen von Frauenrechtsbewegungen möglicherweise mit unserem Leistungsverständnis zu tun haben? Der Göttinger Literaturherbst hatte diverse Veranstaltungen in petto, die mit ihrem politischen Anspruch zum kritischen Zusammendenken animierten.
Von Amelie May
Bild: Herbstblätter von bluemorphos via pixabay CC0
Warum wir langsam viel erreicht haben
Seit 100 Jahren dürfen Frauen in Deutschland wählen. In diesen Jahren sei viel passiert, doch würden die verankerten patriarchalen Strukturen dazu beitragen, dass feministische Anliegen sehr träge aufgenommen würden. So lautet die These von Barbara Sichtermann, die im Gespräch mit der SPD-Politikerin Gabriele Andretta und Jöran Klatt, Mitarbeiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, ihr Buch Viel zu langsam viel erreicht: Über den Prozess der Emanzipation vorstellte.
Info
Vom 12.-21. Oktober fand der 27. Göttinger Literaturherbst statt. Als Nachklapp veröffentlicht Litlog in der Woche vom 22.-28. Oktober jeden Tag einen Bericht zu den diversen Veranstaltungen des Programms.
Hier findet ihr die Berichte im Überblick.
Schon beim Betreten der Aula des Hainberg-Gymnasiums am 13. Oktober stellt sich die Frage: Wo sind die Männer? Erst bei genauerem Betrachten kann man sie im Publikum vereinzelt erspähen. Dass im Veranstaltungskontext gerade eine Machtverschiebung diskutiert wird, die die gesamte Gesellschaft betrifft und auch der Aufklärung weitergegebener patriarchaler Muster bedarf, ist also offensichtlich noch nicht genug, um mit letzteren zu brechen. Wie schwierig diese Muster zu durchdringen sind, wird deutlich, als Sichtermann ein Kapitel aus ihrem Buch vorliest, das sich mit der Frage beschäftigt, welche verschiedenen Ausprägungen dem Machtbegriff innewohnen. Besonders aufschlussreich sind ihre Überlegungen dazu, wie Frauen über lange Zeit mit der ihnen zugesprochenen Macht über Haus und Familie ruhiggestellt wurden und wie ihnen dadurch andere Machtreservoirs verschlossen blieben. Durch diese geschlechtsspezifischen Machtbegriffe sei man lethargisch geworden, denn Männer hätten ihre Privilegien zu verlieren und Frauen würden es nicht anders kennen – einen »Zerrspiegel der Ohnmacht« nennt Sichtermann diese Stagnation in der zugewiesenen Macht.
Solidarisiert euch!
Das daraus resultierende Rollenbild in den Köpfen sei die Hauptproblematik, aus der alle heutigen Debatten sprießen würden, da sind sich die Diskutierenden einig. Leider bleibt nicht genug Zeit, um alle angerissenen Themen zu vertiefen. Es ist eher ein kurzes Anteasern vieler Probleme, aber auch Chancen, mit denen sich gegenwärtige Feminismen konfrontiert sehen. So berichtet Andretta von ihren Erfahrungen als erste Präsidentin des Niedersächsischen Landtags, in dem der Parlamentarierinnen-Anteil nach wie vor bei 27% liegt. Von den Defiziten zu den Chancen überleitend will Klatt von Sichtermann wissen, wie sie sogenannte netzfeministische Debatten wie #metoo beurteilen würde. Ihre Antwort darauf ist erwartbar differenziert: Sie sieht große Chancen darin, dass sich Frauen weltweit solidarisieren und sich Mut machen könnten, jedoch seien die Gefahren von falschen Anschuldigungen gegeben.
Das führt zu Klatts Feststellung zu Veranstaltungsbeginn zurück: Debatten rund um die Frauenbewegung seien kompliziert geworden, da Zersplitterungen innerhalb einer einst recht homogenen Bewegung zu internen Unstimmigkeiten führten, die wiederum für rechtspopulistische Bewegungen angreifbar seien. Darauf kommt er zum Ende der Veranstaltung zurück und will wissen, was innerhalb der Feminismen denn gemeinsame Nenner sein könnten. Sichtermann spricht sich für eine Einigung auf die elementarsten Ideen aus, wohingegen Andretta sich für das Präsentieren diverser Lebenskonzepte einsetzt, um den Vereinheitlichungskonzepten von Rechtspopulist*innen klar zu widersprechen.
Der anschließenden Fragerunde, in der Frauen von ihren Erfahrungen berichten und die diskutierten Themen kommentieren, schließt sich mit der letzten Wortmeldung ein Mann an, der für eine Frauenquote von 50% plädiert, wofür er lautstarken Applaus erntet. Vielleicht erreichen wir – im Sinne Sichtermanns – doch mehr in kürzerer Zeit.
Der fremdbestimmte weibliche Körper
Der Feststellung, dass zwar viel erreicht wurde, der Prozess jedoch zäh und anstrengend ist, würden sich bestimmt auch die drei Diskutantinnen der Veranstaltung Vulva-Dialoge vom 17. Oktober anschließen. »Schöne neue Welt«, stellt die Moderatorin des Abends Madita Oeming fest. Die Amerikanistin Oeming, die zurzeit an ihrer Dissertation zum Thema Porn Addiction arbeitet, bekundet damit ihren Enthusiasmus, denn die Galerie Alte Feuerwache ist bis auf den letzten Platz besetzt mit vor allem jungen Menschen, die sich auf die Veranstaltung mit der Spiegel Online-Kolumnistin Margarete Stokowski und der ClitNight-Aktivistin Louisa Lorenz freuen.
Stokowskis kürzlich erschienenes Buch Die letzten Tage des Patriarchats enthält einen Teil ihrer Kolumnen der letzten sieben Jahren, die sie teils nachträglich eigenständig kommentiert und teils mit einer Auswahl von Onlinekommentaren ergänzt hat – auf die im Laufe der Vulva-Dialoge mehrfach die Sprache kommen wird. Sie liest ihre Kolumne Kampfplatz mit Brüsten vor; ein Text, der die gesellschaftliche Bewertung von Frauenkörpern thematisiert und der überdurchschnittlich häufig geklickt wurde. Auf die Frage, ob die Kolumne den Zeitgeist einfach getroffen oder es sich um viele Hate-Klicks gehandelt habe, muss Stokowski weiter ausholen, da sich die Reaktionen auf ihre Kolumnen in ihrer gesellschaftlichen Symptomatik grundsätzlich wiederholen. Vor allem schreibe sie zwar zu tagesaktuellen Themen, aber auch generelle Probleme arbeitet sie aus ihrer feministischen Sicht auf, da »so viel Scheiß passiert, den man sich rauspicken kann. « Die Empörung, die ihr teils wegen ihrer Texte entgegenschlägt, erklärt sie sich damit, dass die Menschen sich in ihren Privilegien bedroht fühlen, darüber aber nicht reflektieren und stattdessen ihre Wut ausdrücken. Über den zynischen Titel der vorgelesenen Kolumne Sorry Frauen, euer Körper gehört euch nicht leitet Oeming zu Lorenz’ Klitoris-Workshops über. Mit ihren ClitNightWorkshops klärt Lorenz über die körperliche Beschaffenheit und Kulturgeschichte der Klitoris auf.
Laut der Veranstalterin sei es völlig absurd, dass so viele Teile der Vulva und Vagina nach männlichen Wissenschaftlern benannt worden seien, gemäß dem Motto »wer kann seine Fahne reinstecken?« Dieser Kommentar wird lachend vom Publikum aufgenommen, doch die scherzhafte Bemerkung offenbart große Mankos bezüglich der Aufklärung über weibliche Sexualität. Die Lücken im Wissen um beispielsweise die weibliche Lust seien eben auch auf die Wissensvermittlung durch Menschen zurückzuführen, die selbst keine Vulva haben. Die Beschäftigung und die Kenntnis des eigenen Körpers und vor allem mit den Genitalien sei ein Ermächtigungsakt für viele Frauen, der ein neues Selbstbewusstsein befördern könnte.
Margarete Stokowski
Die letzten Tage des Patriarchats
Rowohlt: Reinbek 2018
320 Seiten, 20,00€
Widersprüchliche Homophobie
Madita Oeming ist überzeugt: »Schaut mehr Pornos. Die gezeigte Vielfalt von Vulven kann ein echtes Empowerment sein!« Dass der Umgang mit weiblicher Sexualität teilweise immer noch ein Tabu darstellt, das offenbart Stokowskis Kolumne Guckt mehr Lesbenpornos! Sie offenbart anhand der tatsächlich umstrittenen siebenminütigen Sexszene zwischen Adèle und Emma aus Blau ist eine warme Farbe (2013), die bei Stokowskis Kinobesuch abwertend und scheinbar verunsichert kommentiert wurde, die Alltäglichkeit von Homophobie. Das jugendliche Publikum schien hin- und hergerissen zu sein zwischen Ekel und Voyeurismus. Die drei Podiumsgäste diskutieren anschließend darüber, warum lesbische Frauen in Pornos anders bewertet werden als in der Realität, in der der Ausruf Lesbe oft als Beleidigung genutzt wird. Ein ausschlaggebender Grund sei die Angst und Unsicherheit mancher Männer darüber, in ihrer Sexualität ersetzt zu werden. Auch das Denken von Homosexualität in Rastern, die die Realität stark vereinfachen, wird besprochen.
Im Laufe des Gesprächs herrscht zwar große Einigkeit und das erleichterte Gefühl im Publikum vor, dass man sich hier unter Gleichgesinnten befindet. Doch Oeming appelliert, dass man immer wieder die eigene Rolle und die potenziellen Privilegien reflektieren solle, seien sie bedingt durch die eigene Verortbarkeit im gesellschaftlich akzeptierteren binären Geschlechtersystem, die Herkunft oder die erreichte Bildung. Die Utopie einer allumfassenden inklusiven Gesellschaft sei längst nicht erreicht und viele Prozesse noch nicht abgeschlossen.
Die Leistung neu erfinden
Wenn man darüber redet, was man gesellschaftlich erreicht hat, kann es spannend sein, den damit verknüpften Begriff der Leistung zu hinterfragen. Wie auch der von Barbara Sichtermann sezierte Begriff der Macht, unterliegt das Konzept Leistung ebenfalls vielen Bedeutungsebenen, mit denen sich die Historikerin Nina Verheyen in ihrem Buch Die Erfindung der Leistung auseinandersetzt, das sie am 13. Oktober im FREIgeist Hotel vorstellt. Gemeinsam mit der Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert redet sie über Risiken und Chancen, die der allgegenwärtige Leistungsbegriff bereithält.
Alle Aspekte der Leistung zu erfassen, sei gar nicht so einfach, da die Bedeutungsebene länger existiere als der Begriff, der über die Zeit außerdem verschieden kontextuell aufgeladen werde. Verheyen setzt den Beginn ihres Untersuchungszeitraums auf ca. 1800, da hier die bürgerliche Leistungsgesellschaft entstanden sei. Von dort hat sie sich schlaglichtartig in die Gegenwart vorgearbeitet. »Ich wollte eine Kulturgeschichte und keine Begriffsgeschichte schreiben«, so Verheyen zu ihrem Vorhaben, das aus ihrer Forschungstätigkeit an der Universität zu Köln entstand. Dass das Gespräch teils Gefahr läuft, oberflächlich oder teilweise auch verwirrend zu werden, weiß Schöne-Seifert mit gekonnt platzierten Bemerkungen und pointierten Hauptthesen des Buchs zu unterbinden: »Ihre These ist doch, dass der Begriff sehr diffus ist und so auch verwendet wird und er trotzdem eine bestimmte Bedeutung suggeriert.« Dass Leistung wirklich schwierig objektiv messbar ist, wird in den angeregten Diskussionen zwischen Autorin und Moderatorin deutlich, die sich verschieden zum Begriff positionieren.
Anerkennung leisten
Um die Ambivalenz des Leistungsbegriffs zu illustrieren, der ja oft mit quantitativen Messungen und dem verbundenen Leistungsdruck zusammenhängt, eignet sich das Beispiel der Instrumentalisierung durch die Frauenbewegung ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So haben laut Verheyen Frauen die Leistung als »Emanzipationskategorie« in Bildungsreservoirs für sich nutzen können, um sich gegen Männerdomänen zu behaupten. Uneingeschränkt enthusiastisch ist dieses Beispiel jedoch auch nicht zu betrachten, bedenkt man die eingeschränkten Möglichkeiten vieler Frauen, eine ebenbürtige Bildung zu genießen.
Verheyen äußert insbesondere Kritik an einem individualistisch geprägten Leistungsbegriff, der viele Faktoren, die eine spezifische Leistung ermöglichen, nicht bedenken würde. Besonders wichtig ist ihr die Feststellung, dass niemand etwas Komplexes alleine leiste, sondern immer anderer Menschen Leistungen entweder aktiv beteiligt, oder als Vordenker*innen involviert seien.
So verhält es sich auch mit den beiden feministischen Debatten. Die erbrachten Leistungen als Ganzes anzuerkennen, hilft, die eigene Lage zu perspektivieren und auch die eigenen Überzeugungen immer wieder auf den Prüfstand zu stellen sowie deren Genese zu reflektieren. Denn keine der gegenwärtigen feministischen Debatten würde geführt, hätte es nicht Vordenker*innen und Aktivist*innen gegeben, auf deren Errungenschaften man aufbauen könnte. Mit dem Nachhall dieses Gedankens kann man dem Leistungsbegriff noch eine Dosis Wertschätzung abringen, um in Zukunft zielorientierter zu sein, statt sich einem Konkurrenzkampf hingeben.