»Queering« Reality-TV

Reality-TV ist nicht für sein subversives Potential bekannt. Und doch wurden in diesem Genre zuletzt einige Serien populär, die stereotype Annahmen über Gender und Sexualität unterhaltsam hinterfragen und aufbrechen. Warum zumindest manches Reality-TV besser ist als sein Ruf.

Von Sebastian Kipper

Triggerwarnung: Transphobie

Bild: Via Pixabay, CC0, Bearbeitung: Hanna Sellheim

Wenn man sich beim bildungsbürgerlichen Konversieren zum Schauen von Reality TV bekennt, dann nimmt man zunächst einmal einen Dispokredit auf das eigene kulturelle Kapital auf. Denn Reality-TV gilt als kulturelles Wergwerfprodukt, massenangefertigt für den kritiklosen Konsum und in seiner Qualität so minderwertig, dass man durch das Schauen solcher Serien schlicht verblödet. Und vieles ist auch einfach Müll und verdient es, angesichts der teilweise bewusst gescripteten Perpetuierung sexistischer, rassistischer und besonders klassistischer Stereotype scharf kritisiert zu werden. Aber an dieser Stelle soll nicht der kulturelle Wert von trash bemessen werden. Stattdessen soll es um ein ganz bestimmtes Reality-TV-Franchise gehen, das man etwas zu voreilig auch als triviale Unterhaltung ohne Mehrwert klassifizieren könnte, dem man aber mit dieser Aburteilung nicht gerecht wird. Start your engines, denn gemeint ist RuPaul’s Drag Race. May the best drag queen win!

In RuPaul’s Drag Race tritt jede Staffel ein Cast von Drag Queens (in der Sendung einfach nur »Queens« genannt) an, um ihr »charisma, uniqueness, nerve and talent« unter Beweis zu stellen, wie mehrfach in der Show proklamiert wird. Durch die Serie führt der:die im Titel erwähnte RuPaul, Grande Dame des Drag in der amerikanischen Popkultur. Jede Woche müssen die Queens eine Main Challenge meistern, die entweder mit Tanz, Design, Schauspielerei oder Comedy zu tun hat. Daran anschließend gibt es eine Modeschau auf dem Runway, auf dem die Queens einen Look zu einem wöchentlich wechselnden Thema (»Category is…«) präsentieren. Am Ende jeder Folge gibt RuPaul nach Beratung mit den Juror:innen die Gewinnerin der Main Challenge bekannt und pickt die beiden Queens mit den schwächsten Leistungen raus. Diesen wird in einem »Lip Synch for Your Life« nochmal die Möglichkeit gegeben, sich vor einer drohenden Elimination zu retten, indem sie zu einem Pop-Song, der im Playback gespielt wird, die Lippen bewegen und dabei eine möglichst schillernde Performance liefern. Die Kandidatin, die RuPaul am wenigsten beeindrucken konnte, wird eliminiert. Am Ende bleibt eine Queen übrig, die den Titel »America’s Next Drag Superstar« tragen darf und ein Preisgeld von 100.000 Dollar erhält.

RuPaul’s Drag Race ist nach dreizehn Staffeln inzwischen ein internationales Phänomen mit Ablegern in Großbritannien, Thailand und anderen Ländern. Durch ihren schieren Umfang hat Drag Race bereits ein dichtes intertextuelles Netz weben können, das neben Verweise auf queere Popkulturikonen auch zunehmend selbstreferentiell wird und bestimmte Sätze von Queens zitiert. Einige dieser Zitate oder Szenen aus der Serie eignen sich bestens, um in unterschiedlichen Kontexten wieder aufgegriffen und zu Memes weiterverarbeitet zu werden, die in Abwandlung auch durch den Feed derer schwirren, die noch nie Drag Race geschaut haben.

Drag Race und Camp

Wenn man den Begriff »Drag« hört, stell man sich meist Männer, die sich als Frauen verkleiden und so auf einer Bühne performen. Drag ist eine Kunstform, die gemeinhin darauf ausgerichtet ist, mit Geschlechter-Stereotypen zu spielen. Und genauso wie Drag das Potential hat, bestimmte Vorstellungen von Geschlechterrollen zu persiflieren, ist auch das Konzept von RuPaul’s Drag Race darauf ausgelegt, verschiedene populäre Reality-TV-Serien ironisch überspitzt aufzugreifen. Drag Race kann als Pastiche von America’s Next Topmodel betrachtet werden. RuPauls Auftreten und Rolle in der Serie wird damit zur Würdigung und Parodie des amerikanischen Supermodels Tyra Banks. Die Design-Challenges, in denen die Queens zu einem vorgegebenen Thema eigene Outfits entwerfen und nähen sollen, erinnern stark an Project Runway. Wann immer die Beziehungen zwischen einzelnen Kandidat:innen im Mittelpunkt stehen, es zu Konflikten kommt und das Drama mit Interviewsegmenten begleitet wird, in denen geweint oder geätzt wird, fühlt man sich an Formate wie Keeping Up with the Kardashians erinnert. Und der Titel ›America’s Next Drag Superstar‹ erinnert nicht zufällig an die erfolgreiche Musik-Casting-Show American Idol: The Search for a Superstar.

Doch im Vergleich zu den aufgelisteten Reality-TV-Serien liegt der Charme von RuPaul’s Drag Race in der offenen Zelebrierung des hochgradig Stilisierten – eines der Merkmale des camp, wie von Susan Sontag in ihrem Essay »Anmerkungen zu Camp« dargelegt. Camp, so Sontag, ist die »Liebe zum Übertriebenen, zum ›Übergeschnappten‹, zum ›alles-ist-was-es-nicht-ist‹.« Diese Liebe zum Übertriebenen zeigt sich eindrücklich auf dem Catwalk von Drag Race. Dort soll durch die Kategorie »Realness« meist die Fantasie weiblichen Glamours durch reine Kunstfertigkeit kreiert werden. Am gelungensten sind jedoch die Looks, die durch einen Funken Übertreibung die geforderte »Realness« übertreffen. Denn dann wird auch das subversive Potential von Drag sichtbar, indem sich die Konstruktivität tradierter Vorstellungen von Weiblichkeit durch ironische Überspitzung spielerisch entlarvt.

Rupaul’s Drag Race ist camp. Und mit Drag Race verhält es sich wie mit anderen Kulturprodukten, die man als »camp« bezeichnen kann: Von einem hochkulturellen Standpunkt aus betrachtet sind sie entweder minderwertige Kunst oder schlicht Kitsch. Die Camp-Sichtweise macht sich jedoch frei von diesen Vorbehalten. Sontag beendet ihre Betrachtungen mit der Feststellung:

Die Camp-Erfahrungen basieren auf der großen Entdeckung, daß die Erlebnisweise der hohen Kultur keinen Alleinanspruch auf Kultur hat.

Susan Sontag

Gerade wenn Drag Race nicht mit den traditionell hochkulturellen Kriterien bewertet wird – man also den sogenannten »guten Geschmack« einmal ruhen lässt –, sondern durch die Brille des camp rezipiert wird, dann kann man Spaß haben an der extravaganten Theatralik und den schlüpfrigen Possen.

Das subversive Moment von Drag Race

Auch wenn Camp die Form gegenüber dem Inhalt privilegiert – völlig unpolitisch ist dieses Phänomen nicht. Anmerkungen zu Camp entstand in den 60er Jahren, als sich die lesbischen und schwulen Emanzipationsbewegungen in den USA formierten und gegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität protestierten. Auch in Sontags Essay drückt sich die zunehmende Sichtbarkeit von Homosexuellen aus. Explizit bringt sie Camp in Verbindung mit der schwulen Subkultur und sieht darin auch einen Ausdruck des Strebens nach gesellschaftlicher Integration. Ihre Analyse der politischen Bedeutung von Camp basiert jedoch auffragwürdigen essentialistischen Annahmen über die »Homosexuellen«, die selbst homophobe Klischees bedienen. Grundsätzlich liegt Sontag jedoch richtig damit, Camp zum Politikum zu machen. Und auch Drag Race verfügt über politische Vielschichtigkeit.

Denn hinter der Drag-Fassade der Queens stehen zumeist männlich gelesene Personen, deren Drag-Inszenierung quer steht zu gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit.  Zudem sind sie Teilnehmende einer Casting-Sendung, die sich das Konzept von America’s Next Topmodel aneignet – das Konzept einer Serie also, die ursprünglich nur für junge cis Frauen offen war und auch an ein cis heterosexuelles Publikum vermarktet wurde. RuPaul’s Drag Race »queert« damit das Reality-TV ziemlich erfolgreich. Diese Popularität versucht die Show auch in progressiver Weise zu nutzen, indem aktuelle politische Debatten aufgegriffen werden, wie zum Beispiel die Folgen von Trumps desaströser LGBTQ-Politik und die »Black Lives Matter«-Demonstrationen. Immer wieder thematisieren die Queens persönliche queerfeindliche oder rassistische Diskriminierungserfahrungen und erhalten von ihren Konkurrent:innen empathische Solidaritätsbekundungen.

Nötige Kritik am Franchise

Reihe

Ob Essen oder Popkultur: Der Begriff »Guilty Pleasure« beschreibt alles, für das wir uns schämen, wenn wir es mögen. Doch warum glauben wir überhaupt, dass mancher Genuss schamvoll ist? In unserer Reihe »Unguilty Pleasures« wollen wir dem Begriff auf den Grund gehen und ihn dabei hinterfragen. Dafür erzählen Litlog-Autor:innen, welche Unterhaltungs-Genres und Trash-Formate sie am liebsten konsumieren – und fordern: Vergnügen ohne Scham! Weitere Beiträge findet ihr hier.

Natürlich ist Drag Race in dieser Hinsicht nicht perfekt. In den frühen Staffeln wurden regelmäßig transphobe Witze gemacht. Zwar traten inzwischen auch trans Männer und nicht-binäre Kandidat:innen in Drag Race auf und einige von RuPauls Catchphrases wurden abgeändert, doch RuPaul selbst schloss noch vor einigen Jahren die Teilnahme von trans Frauen (wie im Übrigen auch die von cis Frauen) an seiner Show kategorisch aus. In beiden Fällen wird das häufig mit dem Argument gerechtfertigt, dass bei ohnehin schon weiblich gelesenen Personen die Transformation in die Drag-Persona keine »Illusion« mehr darstellen würde. Dabei wird jedoch übersehen, dass Drag eine Kunstform ist, die unabhängig von der geschlechtlichen Identität der Perfomer:innen ausgeübt wird. Daneben werden BPoC Queens häufig durch einen fragwürdigen Schnitt als »Villain« der Staffel in Szene gesetzt. Als Folge sind diese Queens Online-Belästigung und Morddrohungen von rassistischen Fans der Serie ausgesetzt, die den Villain-Cut als Rechtfertigung für ihre Übergriffe begreifen. Und schließlich wird in Drag Race ein bestimmtes Konzept von Drag präsentiert, das mit RuPauls glamourösen und auf Hochglanz polierten Präsentation von »Weiblichkeit« kompatibel ist. Genderfuck – eine Spielart von Drag, die die Binarität der Geschlechter grundsätzlich in Frage stellt – schafft es nur selten in die Show und wird auch meistens früh aussortiert. Drag Kings wird in der Serie überhaupt keine Bühne gegeben.

Trotzdem ist der kulturelle Einfluss von RuPaul‘s Drag Race nicht zu leugnen. Einige Wörter und Redewendungen, die aus der Drag-Szene stammen, wurden durch Drag Race popularisiert und werden inzwischen auch in alltäglichen Kontexten benutzt. Die besondere Leistung der Serie liegt aber auch darin, die Heteronormativität in der Unterhaltungsbranche herauszufordern. All jenen, die selbst mit den gesellschaftlich vorgegebenen Geschlechterrollen hadern, präsentiert Drag Race selbstbewusste Vorbilder, deren Selbstrepräsentation einengenden Klischees widerspricht. Drag Race zelebriert nicht nur queere Abweichung von der cis heterosexuellen Norm, sondern gibt selbstbewussten queeren Lebenserzählungen auch Raum zur Entfaltung. Und das in einem kulturellen Segment, in dem queere Menschen zumeist am Rande vorkamen, oftmals verzerrt dargestellt wurden und zur herabwürdigenden Belustigung dienten.

Konsolidierung eines neuen Genres?

Inzwischen scheint man auch hierzulande das Potential erkannt zu haben, das queerem Reality TV innewohnt. 2019 startete mit Prince Charming eine schwule Variante des Bachelor, dieses Jahr lief mit Princess Charming die lesbische Variante an. Besonders Princess Charming wurde auch Sujet kulturjournalistischer Texte und aufgrund des reflektierten Umgangs mit Themen wie weiblicher Sexualität und queerer Liebe positiv rezipiert. Und ganz nebenbei sind beide Serien auch um einiges spannender als das fies heteronormativ konzipierte Original Der Bachelor beziehungsweise Die Bachelorette, da stets die Möglichkeit besteht, dass die Kandidat:innen statt im Prince oder in der Princess auch unter den Mitkandidat:innen ihre »wahre Liebe« finden könnten. Ein wahres Fest für alle, die Gossip nicht abgeneigt sind!

Beide Serien wurden zunächst lediglich auf der Streaming-Plattform TVNOW veröffentlicht, die erste Staffel Prince Charming wurde ein halbes Jahr nach der letzten Folge schließlich doch auch auf VOX gezeigt. Dass Prince Charming nun im Free TV läuft, kann als ein weiteres Signal für die wachsende Popularität queerer Reality-TV-Serien gewertet werden. Eine Popularität, die hoffentlich noch weiterwachsen wird und mehr Serien eines solchen Formats generiert, sodass man bald auf die Frage nach dem eigenen »Guilty Pleasure« mit Stolz bekennen kann: »Queeres Reality-TV«.

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