In Roman Ehrlichs Roman Malé versinken die Figuren in der poststrukturalistischen Bedeutungslosigkeit der maledivischen Hauptstadt. Zwischen Apokalypse, verwirrendem Plot und figuraler Egozentrik bleiben die Lesenden orientierungslos im Mondlicht auf der untergehenden Insel zurück.
Von Lisa Neumann
Der Klimawandel wird uns einholen – in Roman Ehrlichs Roman Malé hat er das schon getan. Darin geht die Welt, wie wir sie kannten, unter. Die Handlung spielt auf den Malediven, einer Insel, die sich vom Urlaubsparadies verwöhnter Westler:innen zu einer vermüllten, durchwässerten Abstiege für all jene entwickelt hat, die meinen, der westlichen Überdruss-Gesellschaft ein für alle Mal entkommen zu müssen. Also jene Aussteiger:innen, die sonst keine Nische mehr finden. Die Ironie daran: Die Nische in der Hauptstadt Malé versucht trotzdem, sich westlichen Standards weiterhin anzupassen, die Aussteiger:innen werden nur durch die einheimischen Milizen der Insel am Leben gehalten, indem sie von ihnen Lieferungen von Dosenbier, Hühnerbeinen, Hygieneartikel und allem, was das westliche Herz begehrt, beziehen.
Man kann dies als Kritik Ehrlichs an der postkolonialen Gesellschaft verstehen, in der sich die Machtverhältnisse umgekehrt haben, die koloniale Vergangenheit aber nicht reflektiert wird. Genauso wirken die Figuren und ihre durch und durch egozentrischen Nöte wie eine Kritik am Umgang mit dem Klimawandel als globalem Problem. Doch die Figuren bleiben so belanglos, dass sie beim Lesen im Lockdown langweilen, ja sogar nerven. Denn gerade in Corona-Zeiten ist es frustrierend, ein Buch zu lesen, in dem es nicht vorangeht, sondern die Lage festzustecken scheint.
Darf Literatur über Belanglosigkeit belanglos wirken?
Roman Ehrlich
Malé
Fischer: Frankfurt 2020
288 Seiten, 22,00€
Dies wirft eine Grundfrage auf: Darf Literatur, die die egozentrische Belanglosigkeit der westlichen-kapitalistischen Gesellschaft kritisieren will, selbst belanglos wirken? Darauf kann es nur eine subjektive Antwort geben. Meine lautet: nein. Ich möchte keinen Roman lesen, in dem die Figuren nicht greifbar sind, auch wenn die Kulisse reizvoll ist. Literatur dient für mich nicht nur dazu, neue Welten zu betreten, sondern eine Verbindung zu den Charakteren aufzubauen, mit ihnen zu leiden, zu leben. Bei Ehrlichs Roman ist mir dies nicht gelungen, auch wegen des wirren Plots. Dabei war Malé sogar für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert, eine Nominierung, die vielleicht eher der aktuellen Klimawandelproblematik zu verdanken ist.
Es hilft dem Spannungsbogen nicht, dass der Meeresspiegel weiter steigt, wenn die Figuren dies noch nicht einmal mehr als ultimative Bedrohung wahrnehmen. Die Aussteiger:innen-Gesellschaft widert in ihrer Egozentrik beinahe an. Dies kann sicherlich auch als Stärke des Romans angesehen werden, jedoch ähnelt der Plot mit den vielen Charakteren einem Speed-Dating, bei dem man zwar viele Menschen getroffen, aber niemanden am Ende des Abends so richtig kennengelernt hat.
Figuren wie überdrehte Abziehbilder
Nun zu den Figuren. Da ist Hedi Peck, eine Körperfanatikerin und Schwimmerin, die sich, um der eigenen Depression zu entfliehen, ein schwimmendes Plastiklandprojekt zusammenspinnt, wenn die Insel gänzlich untergehen wird. Ihr Anhang Bömmel ist nicht einmal erwähnenswert. Mona Bauch, eine ebenso depressive Schauspielerin, scheint nur deshalb auf die Insel geflogen zu sein, um ihrem Leben ein Ende abseits vom Ruhm zu setzen. Ihr Vater, der die Bilder der Leiche, die angeblich seine Tochter sein soll, im Internet gesehen hat, reist ihr nach, in der Hoffnung, sie zu finden.
Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Francis Ford, die einen deutschen Lyriker auf der Insel finden will, wirkt ebenso abgedreht wie der Autor Adel Politha, der im Restaurant Hühnersultan, dem einzig verbliebenen in der untergehenden Hauptstadt, seine Gäste und Leidensgenossen für einen Roman befragt, den er, wie jeder der Männer am Tisch weiß, niemals schreiben wird. Somit ist sogar die Kunst in Ehrlichs Roman zum Müllprodukt einer übersättigten Gesellschaft degradiert.
Mehrere wirre Erzählstränge
Neben den schrägen Figuren mutet die Erzählweise des Romans, wenn nicht ebenso schräg, dann unstimmig an. Zu Beginn geht es um einen Gefesselten, der in einem Raum, in dem der Wasserpegel steigt, um sein Leben kämpft. Der Gefesselte taucht nach etlichen Seiten immer mal wieder auf, ohne dass etwas Nennenswertes passiert ist oder die Lesenden wissen, wer er ist. Auf den Gefesselten folgen Passagen aus den Perspektiven verschiedener Figuren. Diese wirken wie ein Puzzle, das leider gar nicht zusammenpasst: Die Sprünge von einer Perspektiven zur nächsten sind teilweise nicht nachvollziehbar.
Zudem gibt es noch Passagen in Ich-Erzählung, bei denen zu vermuten ist, dass es sich um die Perspektive des deutschen Lyrikers handelt. Doch auch dies wird nicht gelöst. Natürlich könnte man sagen, dass diese außerordentlich poststrukturalistische Erzählweise das wirre, gleichzeitige Geschehen im 21. Jahrhundert versinnbildlichen soll. Sie bleibt dennoch wirr und gänzlich ungreifbar, gefangen in Bandwurmsätzen. Ein Beispiel:
Die einzige Orientierung für die Lesenden und für die Aussteigenden bleibt in diesem Wirrwarr das Leitmotiv des Mondes, nach dem auch die Inseldroge Luna benannt ist, die die Milizen auf dem heruntergekommenen Kreuzfahrtschiff am Rande des Atolls herstellen. Luna ist auch ein Kosename des namenlosen Ich-Erzählers für seine Begleiterin, also vielleicht ein Name des deutschen Lyrikers für Mona Bauch. Der Mond bestimmt die Gezeiten, doch das Wasser steigt trotzdem weiter. So scheint auch dieses physikalische Gesetz in der apokalyptischen Welt des Romans außer Kraft gesetzt.
Wer klare Plotführung und starke Charaktere mag, wird mit Ehrlichs Roman nicht zufrieden sein. Wer beschlossen hat, dass es in unserer Gesellschaft ohnehin keine Orientierung mehr gibt und es eine Illusion ist, diese in literarischen Werken zu fordern, dem wird dieser Roman sicherlich eher gefallen.