Das Literaturhaus Göttingen eröffnet am 7. Mai 2022 mit einem großen Spektakel, zahlreichen Danksagungen und Glückwünschen. Besonders die Festrede von Schriftsteller Saša Stanišić beeindruckt mit einer Mischung aus literarischer Vielschichtigkeit und politischem Engagement.
Von Hanna Sellheim
Bilder: Dietrich Kühne
Das neue Literaturhaus begrüßt seine Gäste in dezent-stylishem Hellgrau. Das Interieur bestimmt eine Mischung aus Beton und hellem Holz – nicht unähnlich dem im vergangenen Jahr eröffneten Kunsthaus. Es könnte Absicht dahinterstecken: Denn während der Eröffnungszeremonie am 7. Mai 2022 betonen die Redner:innen immer wieder die Nähe des Literaturhauses zum (umstrittenen) Kunstquartier – und damit auch zum Steidl Verlag. Diese Nähe zeigt sich auch im Gebäude selbst: Die Wand, vor der die Reden gehalten werden, ist von Gerhard Steidl aus Buchblöcken gestaltet, eine eindrucksvolle Kulisse, sowohl für den feierlichen Akt als auch sicherlich für die Veranstaltungen, die hier in Zukunft stattfinden werden. »Die Wand der ungelesenen Bücher«, nennen sie Anja Johannsen, Geschäftsführerin des Literarischen Zentrums, und Johannes-Peter Herberhold, Geschäftsführer des Göttinger Literaturherbstes. Die beiden eröffnen und moderieren das Programm.
Zum ersten Mal heißen sie heute im neuen Literaturhaus willkommen. »Und es fühlt sich gut an«, ergänzt Johannsen. Im Literaturhaus finden ihre beiden Institutionen, Umschlagplätze der lebendigen Göttinger Kultur- und Literaturszene, zusammen. Kooperation statt Konkurrenz zwischen Veranstaltungszentrum und Festival, das sei ein Alleinstellungsmerkmal, wie an diesem Tag immer wieder betont wird. Unter dem Motto »Zwei unter einem Dach« verbünden sich die zwei Literaturvermittler hier, bleiben aber erst einmal zwei eigenständige Einrichtungen. Man wolle jedoch auch über gemeinsame Formate und »größere Dinge« nachdenken, so Herberhold.
Dafür haben sie gemeinsam das Haus in der Nikolaistraße 22 erworben und umgebaut, ein »Ackerbürgerhaus«, wie Johannsen es nennt, aus dem 19. Jahrhundert. Ein Unterfangen mit Hürden, wie die beiden andeuten, das aber nun geglückt ist. Die örtliche Verbesserung besonders für das Literarische Zentrum ist offensichtlich: Die technische Ausstattung, die Bestuhlung, die räumliche Aufteilung des Veranstaltungssaals sind wesentlich ansprechender als in den gemütlichen und charmanten, aber dem hochkarätigen Programm nicht immer ganz gerecht werdenden Örtlichkeiten vorher in der Düsteren Straße.
Wünsche für und an das neue Literaturhaus
Es folgt eine Videobotschaft des niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil, der Glückwünsche und Danksagungen ausspricht und sagt, er »als Bücherwurm« freue sich, dass »der Gedanke der Literaturpflege in Göttingen wachgehalten werde«. Die Göttinger Oberbürgermeisterin Petra Broistedt betont im Anschluss die Besonderheit des Ereignisses, die sich daran ablesen ließe, dass nicht nur der Ministerpräsident gratuliere, sondern auch mehrere Abgeordnete vor Ort seien. Auch sie dankt den Geldgebern und hebt hervor, dass das Literaturhaus ein Ort für Begegnung und Austausch sei. Zum Schluss überreicht sie als Geschenk von der Stadt ein kleines Gänseliesel.
Im Vergleich zu diesen recht einfallslosen Eröffnungsbeiträgen überrascht die Rede von Andreas Görgen, Amtschef bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, mit einer klaren Haltung. Er beginnt mit dem Hinweis, er sei eigentlich nur hier, um Danke und Glückwunsch zu sagen. »Und wenn man nur dafür da ist, darf man sich auch was wüschen. Das haben Sie jetzt nicht erwartet, oder?«, fügt er hinzu und erntet zustimmendes Gelächter. So formuliert er dann seinen Wunsch, nämlich dass das Literaturhaus seine Besucher:innen für die Schönheit der Verschiedenheit empfänglich mache, ihre Hirne und Herzen öffne für den Widerspruch, der Fortschritt bedeute. Mit diesem Wunsch rennt er, gerade im Fall des in seiner Programmgestaltung immer auch an Diversität interessierten Literarischen Zentrums, natürlich offene Türen ein. Es könne nicht sein, sagt er in Bezug auf den als Festredner geladenen Schriftsteller Saša Stanišić, dass jemandes Weg in der Welt davon abhänge, dass ein Mitarbeiter in der Ausländerbehörde eine Eingebung habe. Görgen spielt damit auf Stanišićs autofiktionalen Roman Herkunft an, in dem der Autor seine eigene Immigrationsgeschichte verarbeitet. Er hoffe, dass an diesem Ort ein Raum neuen Zuhörens, neuen Denkens, neuen Fühlens entstehe. Denn die Kunst denke »nicht nur über andere Möglichkeiten in der realen Welt, sondern reale Möglichkeiten einer anderen Welt« nach.
Brandneu ist dieser Gedanke sicherlich nicht, anrührend sind Görgens Worte aber trotzdem und auch Herberhold ist sichtlich gerührt, als er nach dem Redebeitrag auf die Bühne tritt. Er erläutert, wie das Literaturhaus in Zukunft vom Literaturherbst genutzt wird – schließlich sei das nicht so direkt ersichtlich wie beim Literarischen Zentrum: Das Haus solle als Büro und Zentrum während des Festivals dienen, als Ort, an dem Mitwirkende und Besucher:innen nach den Veranstaltungen zusammenkommen und »Spaß haben« könnten, kurz, als »Herz« des Literaturherbstes.
Eine Rede, die die Schuhe auszieht
Im Anschluss spricht Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Das Literaturhaus feiere das Verbindende der Literatur, betont sie, denn obwohl das Lesen zunächst als einsame Tätigkeit erscheine, lebten Bücher doch vom Austausch, von der Begegnung, vom Auseinandersetzen mit Anderem. Sie bräuchten Bühnen, um im Privaten gelesen und im Öffentlichen diskutiert zu werden. Sie hebt auch hervor, dass es für Literaturhäuser wichtig sei, Freiräume und Freiheiten vom Marktgeschehen zu haben und somit nur ihrem kulturellen Auftrag verpflichtet zu sein. Die Eröffnung des Göttinger Literaturhauses sei ein optimistisches Zeichen nach zwei Pandemie-Jahren.
Anja Johannsen kündigt nun den Festredner Saša Stanišić an, indem sie nach seiner Verbindung zu Göttingen fragt, die ihn immer wieder in die Stadt führt, unter anderem als Buchpreisträger für die Lesung beim Literaturherbst 2019 oder zum »FENSTER AUF«-Spektakel im vergangenen September. Stanišić bestätigt, dass seine allererste Lesung in Göttingen stattgefunden habe. Er betritt die Bühne munter scherzend: »Man hat mir gesagt, ich habe vier Stunden. Den Witz mache ich immer.« Johannsen hat zuvor angekündigt, dass seine Rede einem:r »die Schuhe ausziehen« werde – und hat damit nicht zu viel versprochen. Seine Worte schließen so nahtlos an die von Görgen an, dass man beinahe vermuten könnte, die beiden hätten sich abgesprochen.
Stanišić spricht davon, dass er sich als Kind vorgestellt habe, Häuser würden musizieren. Er verwebt dies mit Erinnerungen an den Krieg in Bosnien, an den Busbahnhof während der Okkupation, an seine Musiklehrerin, die in der zerstörten Schule vor ihrem kaputten Instrument, einer Geige, gestanden habe. Stanišić fragt: »Was musizieren Häuser im Krieg?« Von Erinnerungen an seine Großeltern spannt er den Bogen bis nach Göttingen und beschreibt Literatur als »Raum für das Zeitkontinuum«, es brauche dafür nur einen, der erzählt und einen, der zuhört. Seine Rede ist gespickt mit selbstreferenziellen Verweisen: Mal gibt er offen zu, er habe sich etwas »nur für diesen Text ausgedacht«, mal beschreibt er das Unkraut in seiner Geburtsstadt Višegrad, das durchs Fenster in den Text hineinwachse.
Stanišićs Gedanken führen temporeich von Einem zum Nächsten. Nach Unterscheidungen zwischen cooler (Scorpions) und uncooler (Pink Floyd) Musik, coolen (Gitarre) und uncoolen (Geige) Instrumenten landet Stanišić bei der Band Azra, dem »gemeinsamen Soundnenner« zwischen seinen Eltern und ihm. Er verfolgt die Referenz des Bandnamens über eine bosnische Sevdalinka zurück zum Gedicht »Der Asra« des »nur knallharten Literaturliebhabern bekannten« Heinrich Heine, in dem es um eine unmögliche Liebe zwischen einem Sklaven und einer Sultanstochter, um das Sterben für die Liebe geht. Heine habe Inspiration für seine eigenen Werke aus seiner Neugier auf arabische, islamische Kunst gezogen habe. »Ich behaupte: So geht Weltliteratur«, postuliert Stanišić und preist die »freie Reise, die stete Bewegung« der Literatur, die nicht aufzuhalten sei und verbindend wirke. Dabei geht es ihm nicht um den literarischen Wert: »Kann ich nicht empfehlen, aber… ist Heine. Ich finde, es ist ein schreckliches Gedicht – egal!« Die Wirkung, die Bedeutung seien entscheidend, die dafür sorgten, dass mit den ersten Versen die ersten Tränen flössen, wenn von Liebe geschrieben werde, die alles sein kann, Freude und Trauer, Leben und Tod. Stanišić entschuldigt sich für den germanistischen Vortrag und landet wieder beim Anlass der Feierlichkeit mit dem Hinweis, dieser literarische Austausch brauche Häuser.
Wer singt im Literaturhaus?
Was das nun alles heißen solle, fragt Stanišić und stellt die Frage: »Was soll euer Haus musizieren, das ja auch unser Haus ist?« Es gehe darum, welche Instrumente im neuen Literaturhaus zum Einsatz kämen, wem das Privileg zukomme, hier zu singen und gehört zu werden. Und natürlich auch darum, dass ein großartiges Honorar gezahlt werde – übrigens der andere Grund, aus dem er immer wieder nach Göttingen komme, fügt er augenzwinkernd hinzu. Im besten Fall erklinge im Literaturhaus ein mehrstimmiger Gesang, der das Genreübergreifende, das Performative, das Weitgereiste der Literatur besinge. Denn es würden Schatten auf unsere Existenz geworfen: »Es geht uns nicht gut, und ich untertreibe.« Davon sollte man ein Echo im Literaturhaus hören, denn wir hätten noch nicht begriffen, »wie sehr am Dampfen die Kacke ist«. Im Literaturhaus müsse Zukunftsmusik zu hören sein: »Mein ideales Literaturhaus ist auch ein ideelles.« Es singe »pragmatische Lieder zwischen Wissenschaften, Utopien und guten Geschichten«, es stelle seine Mikrofone auf die richtige Größe für Minderheiten, es mache Unfassbares fassbar. Am besten klinge es also wie? Nach Death Metal.
Es zeige sich solidarisch, sei Zeugin, gebe Raum für die Verse vor dem so oft geäußerten Satz »Dann aber kam der Krieg«, für die Vorahnungen, die Warnungen. Dabei gebe es sicherlich auch weiterhin Platz für die privaten Geschichten älterer Herren mit Seeblick – »vielleicht aber nicht mehr so viel.« Ein Literaturhaus habe »Fensterblick auf Aussichten« und tanze allem zum Trotz. Dies sei, so betont Stanišić, in Göttingen sicherlich bereits der Fall, denn ein Literaturhaus spiele die Musik derer, die dieses Haus sind, und der Stadt. So wünscht er dem Literaturhaus zur Eröffnung »Hunderte formidable Geigensolos« und er hoffe, bald wieder mit großem Honorar vorsingen zu dürfen. Stanišićs Rede ist im besten Sinn literarisch und politisch zugleich, er trägt sie emphatisch und enthusiastisch vor, sorgt mit wohlplatzierten Witzen immer wieder für Lachen im Publikum und erntet tosenden Applaus. »Teil 2 nach der Pause«, scherzt er, als er an seinen Platz zurückkehrt.
Sprachkunst beim Tag der offenen Tür
Der Eröffnungsakt geht nahtlos in den Tag der offenen Tür über, bei dem die Göttinger:innen dazu eingeladen sind, das neue Haus zu erkunden. Dafür wird die untere Etage zunächst zur Bühne für Bas Böttcher und sein Wortspiel-Laboratorium, in dem er mit Klang und Bedeutung von Worten jongliert und das Publikum zum Mitmachen animiert. Da er meist kein Mikro nutzt, erreicht diese Einlage jedoch leider nur die Gäste, die direkt davor sitzen. Nach ihm erklimmen die Slam-Poet:innen Dalibor Marković und Dominique Macri die Bühne. Macri trägt unter anderem ein Gedicht vor, das sie dem Literaturhaus spontan zur Eröffnung geschrieben hat, Marković performt mehrsprachige Wortkunst zwischen Lyrik, Schauspiel, (Sprech-)Gesang und Beatboxen. Sie beenden ihren Auftritt mit einem gemeinsamen Stück, in dem sie Kinderspiele und -reime mit dem Themenkomplex Flucht verbinden – das balanciert stellenweise an der Grenze zum peinlich Berührenden, hat aber auch nachdenklich stimmende Momente, die noch einmal das zuvor vielbesungene künstlerische und politische Potenzial der Literatur praktisch verdeutlichen. Derweil laden in den oberen beiden Etagen die Göttinger Verlage Wallstein, Hogrefe, Vandenhoeck & Ruprecht und Steidl zum Speed-Dating ein: In wenigen Minuten erklären sie Besucher:innen-Gruppen ihre Arbeit. Dabei lässt sich auch ein Blick auf die neuen Büroräume von Literaturherbst und Literarischem Zentrum erhaschen. Die Göttinger Literaturbranche präsentiert sich also an diesem Tag vielseitig und zugänglich.
Die feierliche Eröffnung wird abgerundet durch vier Lesungen, die über das restliche Wochenende verteilt stattfinden. Diese waren größtenteils so schnell ausverkauft, dass sie auch gratis auf den Nikolaikirchhof übertragen werden. Bei der Auswahl (Doris Dörrie, Matthias Brandt und Jens Thomas, Axel Schefflers Grüffelo, Abbas Khider) wurde wohl darauf gesetzt, damit ein eher älteres Publikum samt Familienanhang zu erreichen. Angesichts der Tatsache, dass Literarisches Zentrum und Literaturherbst seit jeher viel und gerne von einem jungen, studentischen Publikum besucht und unterstützt werden, hätte man sich gewünscht, dass zumindest eine dezidierter an diese Zielgruppe gerichtete Veranstaltung ihren Weg ins Programm gefunden hätte. Doch ungeachtet dessen gelingt dem Göttinger Literaturhaus ein eindrucksvoller Öffnungstag, der gespannt macht darauf, was sich in Zukunft in der Nikolaistraße 22 entwickeln wird.