Einmal in den Kopf eines Menschen hineinschauen dürfen. Diesem Wunsch nach emotionaler Transparenz kommt Jagelke in ihrem Buch nach und schildert dabei eindrucksvoll das Gefühlsleben ihrer jungen Protagonistin. Offene Fragen scheinen bei diesem Unterfangen jedoch vorprogrammiert.
Von Marek Sievers
Bild: by josealbafotos via pixabay pixabay lizenz
Kann es das wirklich geben ein gutes Verbrechen? Eine solche Frage lässt aufhorchen, muss aber auch nach längerer Überlegung unbeantwortet bleiben. Am Ende steht die Ratlosigkeit. Ähnlich verhält es sich zumindest in Teilen auch mit Magdalena Jagelkes neuem Buch Ein gutes Verbrechen. Das mag verwundern, denn mit Kriminalliteratur, so viel sei vorweg schon verraten, hat dieses aufregende Buch wenig zu tun.
Tara, die sich selbst Princesse nennt und als Ich-Erzählerin rückblickend berichtet, ist noch ein Teenager, 14 vielleicht 15 Jahre alt, als ihre Mutter sie allein in der Wohnung zurücklässt:
Von diesem Tag an überweist die Mutter zwar monatlich genug Geld für Tara, um zu überleben, Kontakt zwischen den beiden gibt es aber nicht. Tara ist tapfer, schafft es irgendwie sich allein durchzubeißen – absolviert erst ihr Abitur, beginnt danach ein Studium. Und doch: So richtig dazu gehört sie nie. Schulfreundinnen oder Kommilitoninnen wagt sie nicht in die Wohnung am Stadtrand einzuladen. Das fürsorgliche Verhalten anderer Mütter empfindet sie als »übertrieben, aufgesetzt und eigenartig«. Es fehlt vor allem die Zuneigung und Fürsorglichkeit der eigenen Mutter. Die Enttäuschung, nicht einmal zum Geburtstag eine Karte von ihr im Briefkasten vorzufinden, sitzt tief. Auf eigene Faust zieht sie los, findet ein wenig Fürsorge bei einem Milchmann, ein wenig Liebe in Frankreich, jedoch niemals wirklich Anschluss.
Die Flucht in bestimmte Milieus, in die hemmungslose Sexualität oder nächtliche Party- und Drogenexzesse, wie es in Büchern über verlorene Jugendliche so oft geschildert wurde – all das bleibt aus. Es stellt sich die Frage, wo die Erzählung der jungen Tara denn überhaupt stattfindet. In der Außenwelt, dem Vorort »in einem Länderdreieck in Westeuropa«, in dem Jugendliche ihre Kampfhunde gegeneinander antreten oder sie Hühner zerreißen lassen? Die Schilderungen ihrer unmittelbaren Umgebung wirken oft menschenfeindlich, beinahe dystopisch. Sie beschreiben eine Welt, in der nicht nur die Menschen, sondern auch die Blätter an den Bäumen und die Tiere schreien. Oder passiert dies alles nur im Kopf der Protagonistin? Vieles spricht dafür: »Nachts, wenn es still ist, finde ich es am schlimmsten, dann ist es in meinem Kopf unerträglich laut«. Was Jagelke hier schildert ist nicht die Erfüllung eines Teenager-Wunsches nach Freiheit und Unabhängigkeit von den Eltern. Tara ist nicht »frei« und »abgenabelt«, wie es die Anwältin Voss so abgedroschen dahinsagt. Ihr Leben ist bestimmt von Einsamkeit und Angst, von sich abwechselnden Episoden des Größenwahns und der Minderwertigkeitsgefühle. Das Changieren zwischen Außen- und Innenwelt schafft dabei eine konstante Spannung. Der Versuch, sich unter Mithilfe von einer Anwältin für Familienrecht durch eine Anzeige an der eigenen Mutter zu rächen, misslingt ebenfalls. Es scheint, als stünde nicht einmal das Recht auf Taras Seite.
Magdalena Jagelke
Ein gutes Verbrechen
Voland & Quist: 2018
120 Seiten, 16 €
Das Tier im Menschen
Als elterlicher Ersatz muss der verarmte Adelige Feldbach, der sie symbolträchtig mit Milch versorgt, herhalten. Doch auch diese Bekanntschaft bleibt flüchtig, Feldbachs Milch schmeckt Tara nicht mehr, seitdem er ein Verhältnis mit ihrer Arbeitskollegin angefangen hat – auch er hat sich also gegen sie entschieden. Als Ersatz für die fehlende zwischenmenschliche Interaktion fungieren für Tara die Stimmen in ihrem Kopf und ihre innige Verbundenheit zu den Tieren. Vor allem zu Hunden scheint die junge Frau ein besonderes Verhältnis zu haben, erinnert sogar in ihren Verhaltensweisen teilweise an selbige. Das geht vom Urinieren auf die Geldscheine der Mutter als Reaktion auf die Einsamkeit, über das Krabbeln auf allen Vieren, bis hin zur abschließenden Selbstdiagnose mit der Tollwut.
Es sind auch diese animalischen Züge, die eine teilweise unüberwindbare Distanz zwischen Tara und dem*der Leser*in kreieren. In das Gesamtbild dieser Protagonistin fügt sich dies jedoch sehr gut ein. Es gibt diese Episoden, in denen man Tara auf einmal ganz nah kommt, nur um auf der nächsten Seite wieder eine völlig fremd erscheinende Hauptperson vorzufinden. Das Spiel mit Nähe und Distanz funktioniert, trägt aber auch zu einer gewissen Ratlosigkeit nach Beenden der Lektüre bei.
Poesie mit Abstrichen
Dass Magdalena Jagelke, 1974 in Polen geboren, abgeschlossenes Studium der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, bisher vor allem Lyrik publiziert hat und 2010 für den Lyrikpreis München nominiert war, fällt auch bei ihrem ersten längeren Prosawerk von Beginn an auf. Es sind kurze, prägnante Sätze die ihrem Werk seinen Charakter verleihen. Es gibt in diesem Text kaum Stillstand, keine Atempausen. Angetrieben von der rastlosen Protagonistin wird man als Leser*in durch die knapp 120 Seiten gehetzt. Im Zeitraffer vergehen manchmal Tage, dann Wochen und manchmal Monate und Jahre. Alles dazwischen ist Leerstelle, über die Tara keine Auskunft geben kann oder will. Es scheint, als wolle sie dem*der Leser*in bloß keinen Satz zu viel über sich anvertrauen. Oftmals bleiben ihre Erinnerungen Fragment, wirken dabei jedoch leider seltsam diffus und abgedroschen: »In der Welt, so wie sie ist, dealt jeder allein mit seinem Schmerz«. Bezeichnenderweise bleibt der Rest der Seite leer, bietet genug Raum den Gedankengang selbst zu vollenden. Das will nicht unbedingt immer gelingen. An wenigen Stellen nimmt das Pathos überhand und lässt den – in weiten Teilen sehr gelungenen – Kunstgriff der blanken Seiten etwas aufdringlich wirken.
Dass Magdalena Jagelke, 1974 in Polen geboren, abgeschlossenes Studium der Bibliotheks- und Informationswissenschaft, bisher vor allem Lyrik publiziert hat und 2010 für den Lyrikpreis München nominiert war, fällt auch bei ihrem ersten längeren Prosawerk von Beginn an auf. Es sind kurze, prägnante Sätze die ihrem Werk seinen Charakter verleihen. Es gibt in diesem Text kaum Stillstand, keine Atempausen. Angetrieben von der rastlosen Protagonistin wird man als Leser*in durch die knapp 120 Seiten gehetzt. Im Zeitraffer vergehen manchmal Tage, dann Wochen und manchmal Monate und Jahre. Alles dazwischen ist Leerstelle, über die Tara keine Auskunft geben kann oder will. Es scheint, als wolle sie dem*der Leser*in bloß keinen Satz zu viel über sich anvertrauen. Oftmals bleiben ihre Erinnerungen Fragment, wirken dabei jedoch leider seltsam diffus und abgedroschen: »In der Welt, so wie sie ist, dealt jeder allein mit seinem Schmerz«. Bezeichnenderweise bleibt der Rest der Seite leer, bietet genug Raum den Gedankengang selbst zu vollenden. Das will nicht unbedingt immer gelingen. An wenigen Stellen nimmt das Pathos überhand und lässt den – in weiten Teilen sehr gelungenen – Kunstgriff der blanken Seiten etwas aufdringlich wirken.
Kaspar Hauser des 21. Jahrhunderts
Besonders interessant erscheint dabei die Vorbemerkung der Autorin:
Ist Tara also eine Kaspar-Hauser-Figur? Anzeichen dafür lassen sich auf jeden Fall finden, denn ähnlich wie Kaspar Hausers Version seiner Lebensgeschichte, stellt sich auch Taras von Beginn an als etwas zweifelhaft dar. Bereits ihr erster Satz: »Mein Name ist Princesse, und das ist die Wahrheit.«, entpuppt sich nur wenig später als Unwahrheit und auch das Überleben ihres Selbstmordversuchs ist, wie es die vermeintlichen Attentate auf Kaspar Hauser waren, selbstinszeniert.
Tatsächlich spielt sich Taras Geschichte genau gegensätzlich zu der berühmter Findelkinder wie Hauser ab. Tara ist nicht unter Wölfen groß geworden. Sie ist mehr oder minder normal sozialisiert und mit der Gesellschaft vertraut. Ihre Verwilderung beginnt erst später. Alles scheint zurückzugehen auf das Fehlen der mütterlichen Liebe und Fürsorge und endet schließlich mit dem Ausbruch ihres »Seelentieres«.
Jagelke hat mit Ein gutes Verbrechen aufregende Prosa kreiert. Es gelingt ihr die Einsamkeit und die Sehnsucht nach Liebe sprach- und bildgewaltig einzufangen. Der besondere Reiz ihres Buches geht dabei sicherlich auch von den vielen unbeantworteten Fragen aus. Das »gute Verbrechen« fordert kontinuierliche Mittäterschaft der Leser*innen. Das birgt zuweilen die Gefahr der Überforderung. Man darf auf jeden Fall gespannt sein auf das, was von dieser Autorin noch kommen mag.