Vom Selbstverlust erzählen

In Der Widersacher erzählt Emmanuel Carrère nach realem Vorbild die Geschichte des Mörders und Hochstaplers Jean-Claude Romand. Dabei bewegt er sich moralisch und erzähltechnisch auf dünnem Eis und erfindet so die Stimme des Erzählers im Tatsachenroman neu.

Von Roman Seebeck

Bild: via pixabay pixabay lizenz

Jean-Claude Romand ist ein ehrbarer, rechtschaffener Mann. Jeden Morgen pendelt er aus dem am Fuß des französischen Jura-Gebirges liegenden Pévessin ins nahe Genf, wo der international angesehene Mediziner bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) arbeitet. Wenn er erschöpft und müde von der Arbeit nach Hause kommt, kümmert sich der liebevolle Vater um seine Frau und die zwei kleinen Kinder oder verkehrt mit alten Freunden aus Studententagen. Vor dem Schlafengehen ruft er gewissenhaft seine Eltern an, um ihnen eine gute Nacht zu wünschen.

An einem gewöhnlichen Samstagmorgen erschlägt der ehrenwerte Dr. Romand seine Frau mit einem Nudelholz. Anschließend weckt er die Kinder, schaut mit ihnen ein bisschen Fernsehen und lockt sie dann einzeln auf ihr Zimmer, wo er sie erschießt. Zu Mittag ist Romand bei seinen Eltern zu Gast, auch sie werden nach dem Essen von ihm erschossen. Zurück im Eigenheim legt er Feuer, nimmt mehrere Barbiturate und erwartet sein Ende.

Die Demaskierung des Dr. Romand

Doch Romand wird von der Feuerwehr geborgen und überlebt. Seine Tat wird zum Auftakt einer beispiellosen Demaskierung seiner Person. Innerhalb weniger Stunden fördert die Polizei zu Tage, dass Jean-Claude Romand nicht derjenige ist, der er seit siebzehn Jahren zu sein vorgibt. Denn Jean-Claude Romand ist gar nicht Mediziner und arbeitet auch nicht bei der WHO. Er besitzt keinen Doktortitel, nicht einmal ein abgeschlossenes Medizinstudium kann er vorweisen. Hinter der bröckelnden Fassade verbirgt sich ein weinerlicher, selbstgerechter Mensch – ein Niemand –, der alles sein wollte, außer er selbst.

Mit einer klaren Sprache und dem kundigen Blick für das kleine Detail rekonstruiert der französische Journalist und Romancier Emmanuel Carrère in Der Widersacher den realen Fall des Jean-Claude Romand, der nun in der Neuübersetzung von Claudia Hamm erschienen ist. In losen Erzählsträngen folgt Carrère den verschiedenen Pfaden von Romands Leben und fragt, wie diese ins Abseits führen konnten.

Die Dynamik eines Pseudolebens

Denn Romand ist kein geborener Mörder. Seine Geschichte, die vor allem die eines pathologischen Lügners ist, beginnt mit einer Bagatelle: Während des zweiten Studienjahrs im Medizinstudium in Lyon verpasst er die Abschlussprüfung. Doch anstatt die Prüfung nachzuholen, erzählt Romand seinen Eltern und seinen Freunden, bei denen er ohnehin schon als Außenseiter gilt, er habe bestanden. Die Notlüge wird zum festen Bestandteil seiner Lebensgeschichte, und Romand, aus Scham getrieben, lügt immer weiter. Er immatrikuliert sich Jahre lang für das zweite Studienjahr, macht keine Prüfungen und gibt schließlich vor, das Studium erfolgreich beendet zu haben. Inzwischen ist Romand verheiratet und fingiert nun den Übergang ins Berufsleben. Während Familie und Freunde denken, er mache im Gegensatz zu ihnen die ganz große Karriere, tut Romand vieles, nur arbeiten geht er nicht. Während er vorgibt in Genf auf der Arbeit zu sein, verbringt er, der Sohn eines Försters, seine Zeit mit ausgedehnten Wanderungen durchs Jura oder Zeitung lesend in Cafés. Wenn er vorgibt, auf internationalen Tagungen zu sein, verbringt er die Wochenenden im Flughafenhotel oder bei einer Geliebten in Paris.

Gelegentlich fährt er tatsächlich zur WHO, wo er im Besucherbereich und in der Bibliothek jenes Wissen erlangt, das zur Aufrechterhaltung seiner Scheinexistenz von Nöten ist. Doch nach siebzehn Jahren entwickelt Romands Pseudoleben eine Dynamik, die er nicht mehr zu kontrollieren vermag. Über Jahre hinweg hatte er das Leben der Familie in der kleinbürgerlichen Wohlstandswelt Prévessins damit finanziert, das Geld von Verwandten und Freunden, denen er gewinnversprechende Anlagen in der Schweiz suggerierte, zu veruntreuen. Doch als ihm das Geld ausgeht und seine Geliebte, die Romand ebenfalls ihre Finanzen anvertraut hatte, ihr Geld vehement zurückfordert, sieht sich Romand in einem Teufelskreis gefangen. Von der Realität eingeholt und in starrer Aporie gefangen, kann sich Romand in keine Lüge mehr retten. Doch anstelle eines Geständnisses wählt er den Mord als Ultima Ratio, die physische Vernichtung aller, die ihm wichtig sind.

Die Erfindung des Selbst

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Emmanuel Carrère, aus dem Französischen von Claudia Hamm
Der Widersacher

Matthes & Seitz: Berlin 2018
195 Seiten, 22,00€

Der Widersacher ist ein psychologisches Lehrstück, das, dem Konzept der Tragödie ähnelnd, kathartische Momente hervorruft, indem am realen Beispiel die Hybris des modernen Menschen ausgestellt wird. Denn so erschütternd die Tat Romands ist, zum klassischen Ratekrimi taugt sie wenig, da zu keinem Zeitpunkt zur Debatte steht – auch während des von Carrère ebenfalls geschilderten Gerichtsverfahrens nicht –, wer der Täter ist. Spannend hingegen ist der Prozess einer Bewusstseinsspaltung Romands, die Erzählung über einen Mann, der seine Depressionen zu überwinden hofft, indem er seine soziale Rolle selbst entwirft und mit einem Lügengerüst stabilisiert, das schließlich zur Selbstlüge wird: Das Narrativ des Dr. Romand, der mühevolle Versuch, Realität und Selbstbild in Kohärenz zu bringen, scheitert tragisch. Im Spiel mit der Wahrheit geht Romand die eigene Wahrheit verloren; die Identifikation mit der Rolle des Dr. Romand geht einher mit dem Verlust des Menschen Romand.

Hier liegt die Stärke des Romans, der uns näher an die Figur heranführt, als uns vielleicht lieb ist, weil er trotz der scheinbar unverständlichen Tat anthropologische Antworten zu generieren versucht. Unweigerlich beschleicht uns die ungeheuerliche Frage, ob dieser Mensch so anders ist als wir, ob wir vielleicht nicht alle ein wenig von dem in uns selbst finden, was Jean-Claude Romand charakterisiert. Denn haben nicht die meisten von uns gewisse Vorstellungen darüber, wer sie sein wollen? Nutzen nicht viele von uns die Möglichkeiten der modernen Welt, um Eigen- und Fremdbild in einen passungsgenauen Habitus zu zwingen, weil uns als sozialen Wesen dies so gut gefällt? Und übertreiben wir nicht auch öfter mal in der Selbstdarstellung, verstärken oder erfinden sogar mal ein Detail, sei es aus sozialer Scham oder aus narzisstischen Gründen? Sicherlich gehen nur die wenigsten im Rollenspiel mit der sozialen Identität so weit wie Jean-Claude Romand. Dennoch ist der Roman auch eine Allegorie auf unsere neoliberale Gesellschaft, in der jeder einzelne, durch das Bedürfnis nach Distinktion und Selbstverwirklichung getrieben, sich auf den Märkten der Arbeit, der Liebe und der sozialen Zugehörigkeit zu platzieren versucht.

Die Entdeckung des Ichs im Tatsachenroman

Das Gefühl der unmittelbaren Zugehörigkeit zur Welt des Jean-Claude Romands wird durch einen erzählerischen Kniff erzeugt. Carrère hat verschiedene Versuche unternommen die Geschichte zu erzählen, wie er in einem dem Roman beigeführten Interview mit seiner deutschen Übersetzerin Claudia Hamm gesteht. Doch weder die neutrale Perspektive einer unbeteiligten Person noch die des besten Freundes Romands oder gar die dessen Hundes wollten ihm gelingen. Erst als er sich selbst in die Geschichte einschreibt, das Recherchieren und Schreiben des Romans selbst thematisiert und seine eigene Geschichte mit der Romands parallelsetzt, findet er zur Stimme. Die ersten Sätze des Romans, die für Carrère die schwierigsten waren, entfalten das erzählerische Programm des Textes:

»Während Jean-Claude Romand am Samstagmorgen, den 9. Januar 1993, seine Frau und seine Kinder tötete, saß ich mit meinen in einer Versammlung der Schule unseres älteren Sohnes. Gabriel war fünf Jahre alt, genauso wie Antoine Romand. Danach gingen wir zu meinen Eltern Mittagessen und Romand ging zu seinen und brachte sie nach dem Essen um.«

Der Roman entwickelt so eine ganz eigene Poetik, es ist die Entdeckung des Ichs in der non fiction crime novel, wie Carrère sie selbst benennt. Dabei verortet sich der Text in der Tradition des dokumentarischen Romans, der durch Truman Capotes Kaltblütig einst als Genre etabliert wurde, und emanzipiert sich gleichzeitig von ihm. Denn während Capotes Erzähler aus der neutralen, auktorialen Perspektive mit den Figuren des Romans, die ebenfalls reale Mörder als Vorbild hatten, verschmolz, gelingt es Carrère, Distanz zu Romand aufzubauen und uns ganz nah an ihn heranzuführen.

Gebet oder Verbrechen?

Um die »Verantwortung für die Ich-Erzählung zu übernehmen«, nimmt Carrère selbst Kontakt zu Romand auf und bildet seinen Briefwechsel mit ab. Das ist löblich, führt aber auch zu einem moralischen Dilemma, dem unweigerlichen Konflikt des Carrère᾽schen Vorhabens. Denn um eine Beziehung zu Romand aufzubauen, wendet er sich in einem heuchlerischen, einschleimenden Ton an ihn, der beim Lesen den Eindruck erweckt, Carrère verkenne den banal-brutalen Charakter der Tat:

»Was Sie getan haben ist für mich nicht die Tat eines gewöhnlichen Verbrechers oder eines Wahnsinnigen, sondern die eines Menschen, der durch Mächte zum Äußersten getrieben wurde, die stärker sind als er; wie diese gewaltigen Mächte wirken, würde ich gern zeigen.«

Damit trägt Carrère dazu bei, dass Romand auch nach seiner Tat sein Rollenspiel nicht aufgibt. Im Gefängnis schlüpft er in die Rolle des reumütigen Sünders, der, vom rechten Wege abgekommen und durch das Böse in Versuchung geführt, nun sich selbst »zum Leben verurteilt«, um Buße zu tun.

Carrère weiß es jedoch geschickt, seine persönliche Schwäche zu einer Stärke des Textes zu machen, indem er sie schonungslos ausstellt und auch die Kritik am eigenen Handeln reflektiert und thematisiert. Denn neben der Sichtweise auf Romand als psychologisch-gesellschaftlich interessanten Fall, eröffnet der Text auch eine zweite Leseweise, die in der Rolle einer anderen Journalistin, die mit Carrère den Prozess beobachtet, versinnbildlicht wird. Diese konstatiert, Romand sei eben kein soziales Phänomen, sondern lediglich »der letzte Abschaum: weichlich und gefühlsduselig«, ein gewöhnlicher Familienmörder, der aus niederen Beweggründen gehandelt habe und die Todesstrafe verdiene. Wolle man ihm wirklich helfen und das Lügengerüst stürzen, so müsse man Romand zwingen sich in die Tiefe jener Depression zu stürzen, die er sein Leben lang schon verdränge und zu dessen Verdrängung Carrère durch die Popularisierung Romands beitrage.

Ein abschließendes moralisches Urteil über Romand bleibt schließlich den Leser*innen selbst überlassen. Carrère schließt seinen Roman in dem Zwiespalt, den der Fall in ihm hervorgerufen hat:

»Diese Geschichte zu schreiben, dachte ich, kann nur ein Verbrechen sein oder ein Gebet.«

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