Der Sommer einer Freundschaft

In ihrem Debütroman Unsere anarchistischen Herzen schildert Lisa Krusche originell und empathisch das Leben zweier ungewöhnlicher, fünfzehnjähriger Freundinnen in Hildesheim. Der Roman entbehrt nicht einiger Längen, schafft es aber trotz eines konstruiert wirkenden Endes, das Leben der heranwachsenden Protagonistinnen eindrucksvoll zu beschreiben.

Von Lisa Neumann

Bild: Via Pixabay, CC0

Wie viele Herzen hat ein Tintenfisch? Was, wenn der eigene Vater den Verstand verloren hat und nackt durch Berlin rennt? Macht Geld wirklich glücklich oder kann es einer ohnehin zerrütteten Familie auch nicht weiterhelfen? Wie fühlt sich die erste Liebe an? Und wie regulieren virtuelle Plattformen wie Instagram unseren Dopamin-Spiegel? Dies sind nur einige der Fragen, die sich die Protagonistinnen von Lisa Krusches Roman Unsere anarchistischen Herzen stellen. Gwen und Charles, zwei junge Mädchen mitten in der Pubertät. Die eine aus Berlin, die andere direkt aus Hildesheim, der niedersächsischen kleinen Großstadt, in der auch die Autorin Kreatives Schreiben studiert hat.

Zwei Freundinnen, ein Oktopus und eine Bananenpalme

Gwen und Charles treffen in Hildesheim aufeinander. Während Gwen zwar in einem riesigen Haus lebt, aber mit ihrer kaputten Familie ohne Nähe zu Eltern und Bruder hadert, erfährt Charles nach dem Umzug von Berlin aufs Land in einer neuen Künstlerwohngemeinschaft mit ehemaligen Kommiliton:innen ihrer Eltern allmählich wieder so etwas wie Geborgenheit. Ihre Eltern, zwei ehemalige Kunststudierende, scheinen beide mehr oder weniger den Verstand verloren zu haben und die akute Psychose ihres Vaters immer neue Blüten zu treiben, doch Fred, Missy und Gilda sind als ehemalige Kommiliton:innen der Eltern so gut es eben geht für die Kinder da. Und gegen akute Einsamkeit, wenn sie ihren besten Freund Gustav aus Berlin vermisst, können Charles auch eine Bananenpalme und ein Oktopus aus Plüsch helfen.

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Lisa Krusche
Unsere anarchistischen Herzen

Fischer: Frankfurt 2021
448 Seiten, 23,00€

Die Leser:innen merken schnell: Charles und Gwen sind alles andere als gewöhnliche Heranwachsende mit klischeehaften Teenieproblemen. Lisa Krusche zeichnet die Heldinnen trotz einiger Längen mit großer Empathie und Witz. Egal, ob Charles zu Beginn ihren nackten Vater von seiner heiklen Mission abhalten muss oder Gwen sich mit fremden Jungs trifft, um diese gehörig zu verprügeln, die Leben der beiden Mädchen bewegen sich auf dem genau richtigen Grad zwischen Halt und Abgrund. Die gute Charakterzeichnung und die spleenigen Eigenarten der beiden Protagonistinnen verleihen dem Roman dabei eine Glaubwürdigkeit, welche die Leser:innen mit Gwen und Charles mitfühlen lässt. Weint Charles, weil ihr Vater ihr schließlich sagt, dass er die Kinder in seinem Leben als Fehler ansieht, so wird man selbst betroffen. Fühlt Gwen sich wieder einmal einsam und leer, da ihre Eltern ihren Bruder bevorzugen und sie selbst, wenn sie keinen Ärger macht, für Mutter und Vater unsichtbar zu sein scheint, liegt man mit ihr in ihrem großen, leeren Zimmer auf ihrem riesigen Bett.

Blaue Trauer und rote Wut

Die Jugendsprache, die Krusche verwendet, trifft den Grundton des Lebens der beiden Mädchen, für Gwen blaue Trauer und rote Wut, die gelegentlich alle anderen Farben überdecken. Obwohl die Sprache der beiden Mädchen einander manchmal verdächtig ähnlich klingt, hebt sich der Sprachgebrauch von Charles und Gwen auch voneinander ab, wenn letztere ihre Gedanken in Instagram-Posts ähnliche Verse verpackt. So heißt es am Ende des Romans aus Gwens Perspektive, als diese mit Charles´ Hilfe und einem Faden ihren letzten Milchzahn loswird:

so stelle ich mir erwachsenwerden vor: arme die mich halten & mein mädchen als komplizin für die rituellen operationen manchmal fließt ein bisschen blut aber in den lücken die bleiben kann die hoffnung wachsen

Bei Gwens Updates ihres Gefühlsstatus wird dabei folgerichtig, wie oftmals im Internet auch, auf Groß- und Kleinschreibung und Kommasetzung verzichtet.

Erwachsener werden auf über vierhundert Seiten

Manchmal scheint Krusche jedoch den Faden zu verlieren. Der Roman kommt zwar auch ohne raffinierten Plot aus, da die Innensicht der beiden Protagonistinnen auf ihre unterschiedlichen und dennoch ähnlichen Lebenswelten im Vordergrund steht, doch gerät die Handlung teilweise etwas zu sehr in den Hintergrund. Charles und Gwen begegnen sich erst nach der Hälfte des Romans, mitten in einem sehr heißen Sommer, dem Beginn ihrer Freundschaft. Die Einführung in ihre jeweiligen Lebenswelten davor hätte man auch kürzen können. Das Ende des Romans hingegen wirkt im Vergleich dazu etwas zu abrupt und hinterlässt die Leser:innen mit der drängenden Frage: Und wie geht es jetzt weiter?

Vielleicht lässt sich die Konstruktion des Werkes auf die Schreibschule in Hildesheim zurückführen, die die Autorin besucht hat. Das abrupte Ende wirkt jedenfalls etwas konstruiert. Nach vierhundert Seiten muss das Werk eben zum Schluss kommen. Dabei möchte man Gwen und Charles gern beim Noch-Erwachsener-Werden begleiten, um zu sehen, was aus ihren Wünschen nach Freiheit und persönlicher Selbstbestimmung geworden ist. Die beiden bleiben auch nach dem Ende der Lektüre in Erinnerung. Vielleicht denkt der:die ein oder andere Lesende dann auch mal wieder über seine:ihre eigene Jugend nach.

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