Antigone, Rave, Moral

Die 500. Premiere auf der Bühne des Jungen Theaters bestritt der Jugendclub mit einer Inszenierung von Antigone – ein Mädchen fordert den Staat heraus. Ambitioniert und treffsicher transportieren die 16- bis 19-Jährigen Darsteller*innen die Brisanz des antiken Stoffes ins Jahr 2019.

Von Mara Becker

Bilder: © Junges Theater

Das Junge Theater brodelt. Aufgeregte Stimmen, Stühlerücken, Lachen hier und da: Das Publikum ist erwartungsvoll, als es kurz nach 20 Uhr in den Saal gelassen wird. Schon im Foyer war die Anspannung und Vorfreude zu spüren gewesen. Trotz sommerlicher Temperaturen vor der Tür haben sich genug Leute im Theater eingefunden, um es restlos zu füllen. Im Publikum sitzen Schüler*innen, Eltern, Großeltern, Geschwister, Freund*innen und sowieso: Theaterbegeisterte. Es dauert eine Weile, bis alle verstummen – genug Zeit, um das minimalistisch-karge Bühnenbild auf sich wirken zu lassen.

Das Stück und die Inszenierung

Nur ein Tisch steht in der Mitte. Später im Stück wird auch noch ein niedriges Podest hinzukommen. Tatsächlich sind es allein die Kostüme, die eine zeitliche Verortung in der Antike vornehmen und wiederholt durch kurze Techno-Sequenzen hinterfragt werden. Die Darsteller*innen sind also ganz auf sich allein gestellt, und das funktioniert hervorragend. Zum Beispiel die Schlacht, die sie im Kreis aufgestellt füßestampfend vor allem auditiv imitieren, bleibt im Gedächtnis. Die Inszenierung braucht außer ein bisschen Kreide keine Requisiten. Nur subtil darauf gestoßen, dass es sich um ein Stück aus der griechischen Antike handelt, kann man sich der Aktualität des Erzählten kaum erwehren.

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Info

Das Junge Theater Göttingen entstand 1957 als innovatives und alternatives Zimmertheater. Seit 1976 befindet sich das Junge Theater im Otfried-Müller-Haus, das als öffentlicher, kultureller und politischer Ort angesehen wird. 2019 wird es zwischenzeitlich in eine neue Spielstätte einziehen. Informationen zum Umzug sind hier nachzulesen.   

Doch zurück zum Anfang: Ganz links, abseits der Hauptbühne, sitzt ein junger Mann, die Beine überschlagen, und starrt auf den Boden. In den Händen eine Klarinette wartet er darauf, dass es im Zuschauer*innenraum ruhig wird. Dann setzt er das Instrument an die Lippen und spielt eine fröhliche Melodie. Knapp zwei Dutzend Schauspieler*innen betreten die Bühne. Sie unterhalten sich salopp über eine Demo, die Proben am gestrigen Abend, nennen sich »Diggi«. Mit Kreide zeichnen sie ein Viereck auf die Bühne: die Grenzen des Spiels. Diese erste Ebene der Fiktion dient also sowohl dinglich als auch exklamatorisch der Einleitung: die Kostüme werden angezogen, eine Mimin verkündet, das Stück Antigone werde aufgeführt, um zu zeigen, wie wichtig es ist, das Richtige zu tun. Außerdem stellt sie die Figuren vor, die jeweils von gleich mehreren Schauspieler*innen gemimt werden und durch einheitliche Kleidung markiert sind.

Fast alle Figuren sind also gleich mehrmals besetzt – ein bekannter Kniff. Tatsächlich ist es aber beeindruckend, wie akkurat dieses Stilmittel umgesetzt wird: mühelos aufeinander abgestimmt sprechen die Schauspieler*innen im Chor, lebendig werden ihre Figuren durch jede einzelne Interpretation bereichert – offen bleibt, ob sie jeweils einen anderen Aspekt der Figur darstellen oder einfach unterschiedliche Lesarten der Figur anbieten. Man merkt: hier ist viel Zeit und vor allem viel Energie geflossen, um eine solch dynamische Gruppenleistung zu erzielen. Doch nicht nur in der Gruppe funktioniert dieses Ensemble. Auch die einzelnen Darsteller*innen beeindrucken: Sie wechseln sich auch inmitten von Dialogszenen untereinander ab, tragen unterschiedliche Emotionen auf die Bühne, ergänzen sich. So hat jede einzelne Person auf der Bühne »ihren« Moment. Wenn einzelne Figuren durch die Stuhlreihen eilen wird die vierte Wand ebenso durchbrochen wie wenn das Publikum als »Stadt« betitelt und angesprochen wird.

Professionell interpretieren diese »jungen spielwütigen Leute« (wie der Jugendclub seine Mitglieder selbst beschreibt) einen Stoff, der Jahrtausende alt ist, ohne dass ein allzu deutlicher Bruch zwischen Damals und Heute transparent wird. Vielleicht liegt das daran, dass die Inszenierung zu Ausdrücken wie »Schnauze!« greift oder immer wieder elektronische Musik eingespielt wird, zu der die Figuren tanzen oder randalieren.

Das Stück und die heutige Zeit

Doch worum geht es eigentlich? Die beiden Brüder Polyneikes und Eteokles kämpfen um die Herrschaft Thebens und töten sich gegenseitig. Der neue Herrscher Kreon beschließt, den eine Bruder standesgemäß zu bestatten – den anderen nicht. Denn während Eteokles Theben verteidigt hatte, hatte der zuvor verbannte Polyneikes den Stadtstaat angegriffen – in Kreons Augen eine Schandtat. Antigone, Schwester von Polyneikes und Eteokles, ist die einzige Person, die sich traut, den Geschassten zu begraben – obwohl viele von Thebens Bürger*innen eigentlich hinter ihr stehen, trauen sie sich nicht, ihr zu helfen. Denn Kreon hat ein Verbot verhängt: wer Polyneikes beerdigt, der soll gesteinigt werden. Um seiner eigenen Linie treu zu bleiben, muss Kreon nun also seine eigene Nichte, die zudem auch noch die Verlobte seines Sohnes Haemon ist, zum Tode verurteilen.

Unter dem Titel Antigone – ein Mädchen fordert den Staat heraus läuft nun also dieser antike Stoff auf der Bühne des Jungen Theaters. In typischer Jugendclub-Manier beschert das Team unter der Leitung von Agnes Giese dem Stück eine moderne Lesart. Welche Aussagen kann Theater über alte Götter und Bestattungsrituale über das heutige, unsrige Leben treffen? Wie passen 2.000 Jahre alte Moralvorstellungen in vermeintlich emanzipierten Zeiten, die zwar von zunehmender Individualisierung, aber auch vom Rechtsruck bestimmt sind?

Ein Grundthema des Stückes ist die Spannung zwischen Individualität und der Zugehörigkeit zu größeren Systemen. Antigone sieht sich der Entscheidung ausgesetzt, zwischen ihrem Glauben und ihrem König, also auch ihrem Staat zu wählen. Soll sie ihren Bruder beerdigen und sich damit als integer aber illoyal beweisen? Daraus wird eine Frage der Emanzipation: Denn sie ist mit Haemon verlobt, der als Kreons Sohn Teil der königlichen Familie ist. Ihre Entscheidung, sich über Kreons Gesetze hinwegzusetzen, bedeutet also – im Sinne der Aufführung – dass sie sich gegen das Mitläufer*innentum und für ihre eigene Mündigkeit entscheidet.

Die Polis stellt sich auf

Obwohl Antigone eine Tragödie ist, gönnt der Jugendclub seinem Publikum immer wieder Momente des Aufatmens. Wann immer die Wächter, Kreons treue Gefolgsleute, eine schlechte Nachricht überbringen müssen, sträuben sie sich, schubsen sich gegenseitig herum und stottern die Kunde nur stückweise heraus. Die drei Darsteller*innen übertrumpfen sich gegenseitig mit überspitzter, gleichzeitig gut getimter Komik – und werden belohnt durch Lacher aus dem Publikum. Das nimmt der Ernsthaftigkeit und Tiefe der Handlung wenig. Vielmehr betont es die tragischen Wendungen, kontrastiert den Schrecken der Entwicklungen und ist somit ein gut gesetzter Schachzug.

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Doch was hat es nun mit dem Zusatz Ein Mädchen fordert den Staat heraus im Titel auf sich? Das Stück Antigone bietet ganz unterschiedliche Ansätze zur Interpretation. Familie und Tradition versus die polis, den Staat, zum Beispiel, oder die Aushandlung von Geschlechterrollen. Die Inszenierung des Jugendclubs fokussiert Fragen, die mit all diesen Themen in Berührung sind: Was ist ein glückliches Leben? Inwieweit ist man frei, wenn man einem System angehört? Wie viel zählt das eigene Denken und wie sehr sollte man darauf hören? Welche Rolle sollten Recht und Ordnung in einem Staat spielen und wann sollte man sich widersetzen?

Antigone – ein Mädchen fordert den Staat heraus macht keinen Hehl aus seiner Moral: »Denkt nach«, wird da mit Kreide an die Wand geschrieben, und »Es brennt«. Am Ende liegt Kreon am Boden, schluchzt und fleht, doch die restlichen Figuren versagen ihm eine Erlösung. Stattdessen appellieren sie an ihn, er müsse dafür aufkommen, was er verbrochen hatte, denn: »Das Allerhöchste vom Glück ist Besonnenheit«. Und dann singen sie. Erst zwei, drei Darsteller*innen, dann stimmen alle anderen mit ein, drehen sich zum Publikum, lächeln es hoffnungsvoll an: »Let the Sunshine In«. Hier einen intertextuellen Verweis auf das Musical Hair einzubauen, unterstreicht nur die Hilflosigkeit der Figuren ob der Geschehnisse des Stückes. Die Botschaft ist klar: Besonnenes Handeln und die eigene Mündigkeit sind die Pfeiler, auf denen sowohl das Glück der Einzelnen als auch das Glück der Gesellschaft aufgebaut sein sollte. Hätte Kreon sich an diese Leitbilder gehalten, Antigone, Haemon und Eurydikes hätten nicht sterben müssen. Während des langen Beifalls des Publikums sieht man den jungen Darsteller*innen die Erleichterung an, eine beeindruckende Premiere hingelegt zu haben. Let the Sunshine In.

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