Die Basisgruppe Germanistik macht keine halben Sachen: Nach Heinrich Detering und Albert Busch lädt sie auch Gerhard Kaiser ein, um rechte Tendenzen fachlich versiert zu beäugen. Den beiden gegenwartsbezogenen Kritiken folgt damit eine unbehagliche Betrachtung der Fachgeschichte. Mit seinem Vortrag schließt Kaiser außerdem die Reihe »Just Science? Ein kritischer Blick auf die Wissenschaft« des Basisgruppenbündnisses ab.
Von Tanita Kraaz
Bild: © Basisgruppe Germanistik Göttingen
Wer am 10. Juli um 18 Uhr den Hörsaal ZHG 006 betritt, mag überrascht sein. Statt sich vom Sommersemester ermüdet den Bierbänken zu ergeben, bleiben zumindest etwa 120 Studierende den Klappsitzen des Hörsaals treu – Studierende, das sei bemerkt, auch aus anderen Fächern als der Germanistik neben Mitarbeitenden des Seminars für Deutsche Philologie. Dabei ist Gerhard Kaisers Habilitationsschrift Grenzverwirrungen – Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus, auf der der Vortrag beruht, bereits 2008 bei De Gruyter erschienen. Darin betrachtet er die Wissenschaftsgeschichte des Fachs in der Zeit des Nationalsozialismus. Mit theoretischen Bezügen zu dem Soziologen Pierre Bourdieu und dem Wissenschaftsphilosophen und -forscher Ludwik Fleck beschreibt er eingehend Positionen, Beziehungen und Strategien der Literaturwissenschaft. Er beschränkt sich im Vortrag auf die Betrachtung der deutschen (bzw. österreichischen) Institutionengeschichte und klammert damit – zugunsten der kritischen Betrachtung der dagebliebenen – die emigrierten und entlassenen Wissenschaftler aus.
Gerhard Kaiser
»Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus«
De Gruyter: Berlin 2008
774 Seiten, 119,95 €
oder in der Seminarbibliothek (W-3 8/707)
Die Grenze, die der Vortragstitel voraussetzt, verläuft zwischen wissenschaftlicher und politischer Kommunikation. Die kritische Selbstbefragung und das Nachjustieren bei problematischer Politisierung gehören zum Selbstverständnis einer funktionierenden Wissenschaft. Denn die Ideale der Unabhängigkeit im Denken, der Neutralität, der Unversehrtheit von Ideologie würden andernfalls angetastet. Doch wer würde schon bezweifeln, dass die Grenzen in der Zeit des Nationalsozialismus in der Literaturwissenschaft verwirrt wurden? Gerhard Kaiser gibt sich natürlich auch vor dem studentischen Publikum nicht mit diesem Gemeinplatz zufrieden. Er gibt einen Überblick über verschiedene Denkstile der Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus. Die Ideologisierung des Fachs verläuft mitnichten so absolut, als dass sie vorentschieden als gänzlich unwissenschaftlich abqualifiziert werden könnten. Der Begriff Grenzverwirrung spielt also auch auf die Undifferenziertheit an, mit der das Phänomen bereits beäugt wurde.
Kritik an der Kritik
Kaiser stellt zwei Basisnarrative dar, mithilfe derer bisher die Geschichte der Literaturwissenschaft im NS erzählt wurde. Die ideologiekritische Variante einerseits, die systemtheoretisch beeinflusste andererseits. An einem Zitat aus Clemens Lugowskis Beitrag Dichtung als Verkörperung des Deutschen Volkstums in der Zeitschrift für Deutsche Bildung aus dem Jahr 1939 erläutert er, was damit gemeint ist. Das Zitat selbst ist nämlich zweigeteilt. Während der erste Teil behauptet: »Sprache ist nicht ein bloßes Werkzeug«, sie forme auch das Denken – Aussagen, die, wie Kaiser kommentiert, aus heutiger Sicht wie eine »diskursanalytische Binsenweisheit« anmuten, jedoch im zeitgeschichtlichen Kontext von hoher sprachwissenschaftlicher Reflexion zeugen – zeige der zweite Teil eindeutig rassistische Werturteile. Lugowski führt die negativ gewerteten Befunde der »Ungereimtheiten, Versager, Unstimmigkeiten, Brüche« in Heinrich Heines Lyrik darauf zurück, dass dieser Jude sei. Seine »Fassade« fliege so auf: Die Sprache nämlich sei es, die »für ihn dichtete und dachte.« Die ideologiekritische Variante der Fachgeschichte blende solche eindeutig politisierten Kommunikationsakte auf und leite aus ihnen eine weitestgehende Ideologisierung des Faches im NS ab. Die Systemtheorie arbeite die Eigenständigkeit der sprachwissenschaftlichen Reflexion heraus und betone in diesem Zusammenhang den ungebrochenen wissenschaftlichen Eigensinn des Faches auch während des NS. Dass beide Richtungen »verdienstreich« seien, so erkennt Kaiser an, spreche auch dafür, dass beide keine umfassende Erklärung bieten können. Denn ihre Konkurrenz weist auf die fehlende Synthese hin.
Gerhard Kaiser enttäuscht damit schon zu Beginn alle Freund*innen der einfachen Antworten: Die Grenze zwischen Wissenschaft und Politik verlaufe eben nicht zwischen einzelnen Akteuren, nicht einmal zwischen einzelnen Texten. Sie sei innerhalb eines Kommunikationsakts nicht klar zu ziehen. Spannend bliebe aber nicht nur das »Was?« der Aussagen. Die Wahrnehmung der Literaturwissenschaft als monolithischer Service für Ideologen aufzusprengen, bedeute auch, nach der Einbettung der Befunde in den Kontext ihrer Forschung fragen zu können und die Verortung einzelner Akteure im Feld rekonstruieren zu müssen. Das Bourdieu’sche Vokabular nimmt Kaiser natürlich ernst. Es ermöglicht ihm, die Strategien der auszudifferenzierenden Strömungen und Akteure darzustellen. Denn ein Ziel für die damalige Literaturwissenschaft sei klar: sich dem Legitimationsdruck gegenüber der Gesamtgesellschaft stellen, die Wissenschaft als ›nützlich‹ zu profilieren.
Und was macht man damit?
Zu Kaisers Vortragsqualitäten gehören bekanntermaßen kurzweilige Einschübe und Randnotizen. Scheinbar nur um den Legitimationsdruck des Fachs in der Zeit des NS zu veranschaulichen, rekurriert er vom Skript aufblickend auf die alltägliche Konfrontation mit der gesellschaftlichen Rechtfertigungsbedürftigkeit des eigenen Tuns, von dem auch heutige Literaturwissenschaftsstudierende betroffen seien. Dass die Geschichte der Germanistik noch immer als das »Aufeinanderfolgen ihrer Krisen« verstehbar sei, ist dabei die erste von einigen unbehaglichen Kontinuitäten, die er en passant etabliert. Für die zu besprechende Zeit ist die im Vortrag veranschaulichte Legitimationsstrategie naheliegend: der Bezug auf das »Volk«. Als einer von mehreren »Scharnierbegriffen« fungiere es zwischen Ideologie und Wissenschaft. Mit dem so eingestellten Fokus könne sich das Fach an die gewandelten politischen Resonanzverhältnisse anpassen. Die Politik wiederum könne die unter tendenziösen Vorannahmen entstandenen Ergebnisse zur Legitimierung ihrer selbst benutzen. Die Literaturwissenschaft habe sich diesen Begriff dabei in verschiedenen Weisen nutzbar gemacht: Gerhard Kaiser thematisiert vier Denkstile.
Kritische Fachgeschichten
Nur ein Vorgeschmack: Dieser Vortragsbericht macht den Auftakt zur Reihe »Kritische Fachgeschichten«. Die Reihe ermöglicht Autor*innen wie Leser*innen eine kritische Auseinandersetzung mit Teilen der Fachgeschichte von Germanistik, Skandinavistik und Anglistik in Göttingen. Was haben Koryphäen des Fachs im NS getrieben? Was schrieben die Grimms außer Märchen? Zu diesen und weiteren Themen informiert ihr euch hier.
Der orthodoxe mainstream eigne sich schon ab 1928 das Narrativ der »Deutschen Bewegung« an. Hier steht der Rückgriff auf das ausgehende 18. Jahrhundert und seine Literaturbewegungen im Mittelpunkt. Paul Kluckhohn etwa konstatiert in seinem Nachwort zum von ihm 1934 herausgegebenen Band Die Idee des Volks im Deutschen Schrifttum der deutschen Bewegung von Möser und Herder bis Grimm, dass »der deutschen Bewegung von heute […] durch die um 1800 geistig stark vorgearbeitet worden« sei. Die »Deutsche Bewegung« funktioniere wie ein »semantischer Filter, durch den sich das aktuelle politische Geschehen und die Anforderungen an das Fach« in eine Sprache und Logik übersetzen ließen. Dieses Legitimationsangebot konnte sich weniger Resonanzgewinne erfreuen als vielleicht erwartet. Gerhard Kaiser erlaubt es sich, eine weitere Kontinuität in der Fachgeschichte herauszustellen. Überspitzt könne man sagen: »In der Politik hat das niemanden interessiert.« Festzustellen sei allerdings auch der Funktionswandel der Literaturwissenschaft: Vor 1933 sei unter Berufung auf das »Volk« Einspruch gegen die Realitäten der Weimarer Republik artikuliert worden. Aus diesem kulturkonservativen Einspruch gegen die abgelehnte Demokratie werde nun nach 1933 – im Zeichen des Volksbegriffes – ein affirmativer Gegenwartsmythos. Kluckhohn selbst kommentiert dazu in einem Brief an Hermann Niemeyer: »Die Gefahr der Verflachung ist groß.« Eine begründete Angst, denn erst durch die Vielzahl solcher programmatischen Beiträge und ihre Argumentationslogik etabliert sich der orthodoxe mainstream.
Hermann Pongs unternehme eine Gegenstrategie zum Flachen, indem er eine »existentialistische« Variante der volksbezogenen Literaturwissenschaft ins Leben rufe. Sein selbstformuliertes Ziel sei »eine Literaturgeschichte, die nicht in den Strudel vorübergehender Zeitströmungen gerät.« Gerhard Kaiser diagnostiziert bei ihm die Suche nach Distinktionspotenzial. Das ist natürlich gar nicht so einfach, denn so sehr es einer innerfachlichen Abgrenzung bedürfe, sei eine politische Angepasstheit vonnöten. Pongs’ Strategie laute Verkomplizierung: Das schaffe er einerseits durch die Bemühung des Heidegger’schen Existenzbegriffs, andererseits durch seinen Duktus. Das ist eine weitere Strategie, die Kaiser auch gegenwärtig beobachtet: Der Begriffsimport aus der Philosophie, um die eigenen Schriften zu nobilitieren. Pongs jedenfalls erspielt sich damit weder im Fach, noch außerhalb hohe Resonanz.
Von Anfang an kritisch beäugt worden sei die wirklichkeitswissenschaftliche Richtung, das meint hier jene Ansätze, die für eine Soziologisierung und Empirisierung des Faches optieren. Für solche Herangehensweisen ist der Begriff des Volks selbstredend in ganz anderem Ausmaß ertragreich. Gleichermaßen fruchtbar erscheint damit die soziologische Betrachtung der Literatur – die, so betont Kaiser, also nicht als Vorhaben mit Ursprung in den 1960ern beschrieben werden kann. Im Rahmen des literaturwissenschaftlichen Denkstils der Zeit allerdings sah sich die Literatursoziologie zweierlei Verdacht ausgesetzt: Zum einen werde der Geniebegriff durch die kollektivistische Betrachtung aufgelöst, zum anderen schließe die materialistische Sichtweise an den Marxismus an. In Willi Flemmings Wesen und Aufgaben volkhafter Literaturgeschichtsschreibung (1944) wirke sie trotzdem sehr anschlussfähig an die nazistische Rassenideologie, wenn er etwa darüber spekuliert, »inwieweit jüdische Elemente im Betrieb vorhanden sind und kraft ihrer Position etwa in der Kritik und Theaterleitung, im Verlag und Vertreib die Produktion lenken oder kontrollieren.« Überlegungen über den potenziellen Erfolg Flemmings zu einem früheren Zeitpunkt seien natürlich müßig. Dass die progressiv anmutende Literatursoziologie ihre Vorläufer derart ideologisiert vorfindet, bleibt unangenehm.
Die wohl nächstliegende Form der Distinktion ergänzt Kaiser zum Schluss: die Abwehr. Max Kommerell wird als prominentes Beispiel angeführt. Als ehemaliges Mitglied des George-Kreises, als Lyriker und Dramatiker bekennt er sich, offenbar folgerichtig, zu einer ›reinen‹ Dichtungswissenschaft. Mitnichten kommen also werkimmanente Ansätze erst nach 1945 vor, deutet Kaiser an. Mitnichten bedeute allerdings auch die Abwehr des Volksbegriffs als eindeutige semantische Folie eine Form von Widerstand. An Kommerells abschätzigen paratextuellen Äußerungen zur zeitgenössischen Hölderlinforschung einerseits und seiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit Hölderlin andererseits, lasse sich seine differenzierte Resonanzstrategie ablesen. Kommerell fasse den Scharnierbegriff »Volk« zwar »mit spitzen Fingern an« und lasse Hölderlin nicht als poeta vates, als prophetischen Dichter-Seher, auftreten – die bekannten »Erzählbausteine« der Argumentation mit dem »Volk« würden trotzdem benutzt, nur eben verfeinert, in Andeutung statt explizit.
Vielstimmigkeit der Diktatur
Gerhard Kaiser antizipiert zum Abschluss die Frage nach der geduldeten Mehrstimmigkeit der Wissenschaft in der NS-Zeit. Sicher, die Irrelevanz des Fachs hat er bereits eindrücklich etabliert, allerdings rekurriert er auch auf Gert Mattenklott, der Kommerell das Bestreben akkreditiert, »Menschen für den Faschismus unbrauchbar zu machen«. Das polyphone Geschäft der Literaturwissenschaft habe allerdings keine destabilisierende Wirkung auf die Politik gehabt, auch Kommerell nicht. Das Gegenteil sei der Fall: Die Gewährleistung der Vielstimmigkeit habe die reibungslose Funktionstüchtigkeit unterstützt.
Strategische Grundformen nicht nur von politischen, sondern vor allem von wissenschaftlichen Akteur(*innen) lassen sich durch Kaisers Ausführungen sicher mahnend abstrahieren. Auf eine Publikumsfrage hin stellt Kaiser außerdem den vorwiegenden personellen Stillstand nach 1945 dar. Sein Versprechen zu Beginn, dass man aus dem Vortrag etwas lernen könne, hält Gerhard Kaiser allerdings viel konkreter: Die Kontinuitäten bei Legitimationsdruck oder Aufmerksamkeitsverteilung bleiben frappant. Kaisers komplexe wissenschaftliche Erkenntnisse – dargestellt in erwähnenswerter Klarheit – bringen damit politische Aufklärung und Sensibilisierung in den vorsemesterferiengestimmten Sommerabend. Die Entscheidung für den Hörsaal zahlt sich gleichermaßen durch vermittelte Inhalte wie den Vortrag selbst aus.