Triggerwarnung: Erwähnung von Krieg, Gewalt
In seinem Roman Winterbergs letzte Reise hält Jaroslav Rudiš Europa den Spiegel vor und zeigt, wie langwierig Traumata wirken. Der neunzigjährige Winterberg und sein Pfleger Kraus kämpfen mit ihrer eigenen Vergangenheit und der europäischen Geschichte.
Von Annika Kalvelage
Bild: By Bahnfrend via wikimedia commons, CC BY-SA 4.0
Der tschechische Autor Jaroslav Rudiš hat in den letzten Jahren in Deutschland immer mehr an Bekanntheit erlangt. Das bisherige Werk des studierten Germanisten und sein Engagement für Europa wurden wiederholt mit angesehenen Preisen ausgezeichnet und seine Bücher wurden aus dem Tschechischen unter anderem ins Französische, Englische und Spanische übersetzt. Seit ein paar Jahren aber veröffentlicht er auch Texte, die er gar nicht erst in seiner Muttersprache verfasst hat. Die 2018 erschienene Kurzgeschichtensammlung Der Besuch Herrn Horváths ist das erste Buch, das er auf Deutsch schrieb, und in diesem Jahr folgte Winterbergs letzte Reise. Der neue Roman hat mit seinen mehr als 500 Seiten allerdings fast die siebenfache Länge des Kurzgeschichtenbandes und auch seine tschechischsprachigen Vorgänger sind deutlich kürzer geraten. Abgesehen von der Sprache und dem Umfang hebt sich das neue Buch allerdings nicht sonderlich vom restlichen Œuvre des Böhmen ab.
Jaroslav Rudiš
Winterbergs letzte Reise
Luchterhand: München 2019
544 Seiten, 24,00€
Es finden sich wieder einmal viele Züge, gescheiterte Lieben und die von Krieg, Nationalismus und Tod geprägte Vergangenheit Ostmitteleuropas. Winterbergs letzte Reise bringt dabei traurige und dunkle Geschichten zusammen, die gerade in Zeiten des neuerwachten russischen Machtwillens, den Migrations- und Fluchtbewegungen nach Europa, dem Krieg in der Ukraine und den Konflikten zwischen den ost- und westeuropäischen EU-Staaten wichtige Themen ansprechen und eine Forderung nach Aufarbeitung stellen.
Ziemlich beste Freunde im Zug?
Der Anfang der Beziehung zwischen den beiden Protagonisten lässt allerdings zunächst ein völlig anderes Thema vermuten und eher eine weitere Neufassung von Philippe Pozzo di Borgos Le second souffle, der Vorlage für den Film Ziemlich beste Freunde, befürchten. Wenzel Winterberg ist bereits weit über neunzig Jahre alt, als seine Tochter den Krankenpfleger und Sterbebegleiter Jan Kraus für ihn einstellt. Dieser hat bereits viele Menschen auf ihrer »Überfahrt« in den Tod begleitet und erwartet eigentlich, dass der gebrechliche Winterberg nicht lange durchhalten wird. Doch dann erwacht der sterbend Geglaubte dank Kraus plötzlich aus seiner Starre und erlangt durch die Unterstützung des Pflegers seine Kräfte zurück. Eine ähnliche Situation also wie in Pozzo di Borgos Bestseller, mit dem Rudiš Buch von hier ab an aber immer mehr an Ähnlichkeit verliert.
Winterbergs letzte Reise handelt nicht von einer bedingungslosen, tiefen Freundschaft – im Gegenteil, Kraus, der Krankenpfleger, leidet regelrecht unter dem von Tatendrang überschäumenden, wie ein Wasserfall plappernden Winterberg. Die beiden Figuren werden nicht durch Zuneigung aneinander gebunden, es sind eher ihre persönlichen Hintergründe, die viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Sie erlauben es ihnen ein Verständnis füreinander und eine Verbindung zueinander zu entwickeln. Im Zentrum des Buchs stehen die beiden individuellen Lebensgeschichten und deren unentwirrbare, schmerzhafte Verwobenheit mit der Geschichte Europas. Kraus und Winterberg spiegeln dabei an ihrem Umgang mit ihrer persönlichen Vergangenheit den öffentlichen Umgang mit der europäischen Vergangenheit wider. Traumata und Konflikte schwelen über Jahrzehnte, flammen immer wieder auf, werden notdürftig behandelt und niemand kümmert sich ernsthaft darum sie zu bewältigen.
Flucht, Trauma und Verdrängung
Besonders deutlich wird das an Jan Kraus, dem Erzähler der Geschichte. Winterberg überredet ihn zu einer mehrwöchigen Zugreise, da der Neunzigjährige vor seinem Tod unbedingt noch einmal seine alte Heimat Böhmen sehen und den Mörder seiner großen Liebe, Lenka Morgenstern, finden muss. Kraus aber bekommt körperliche Schmerzen und Panikattacken bei dem Gedanken in das Land zurückzukehren, in dem auch er geboren wurde. Er sah als Kind, wie sowjetische Soldaten seine kleine Schwester totfuhren, und floh als Jugendlicher aus dem Ostblock mit dem drängenden Wunsch nach Freiheit – doch die Flucht verlief nicht nach Plan und statt in die Freiheit ging er in Bayern einige Jahre ins Gefängnis. Danach folgten der psychisch belastende Beruf des Sterbebegleiters und der Verlust seiner großen Liebe Carla. Rudiš lässt seine Figur immer nur kleine Ausschnitte dieser Vergangenheit preisgeben, lässt sie immer wieder erinnern und verdrängen. Erst gegen Ende der Reise kann Kraus die Erinnerung zulassen und aussprechen, was wirklich vorgefallen ist. Bis dahin müssen die Lesenden mit ihm zusammen in seinem Trauma verharren, ihn bei seinem Alkoholismus beobachten und irgendwie versuchen die Bilder aus seinen Flashbacks zu verarbeiten.
Die Erinnerungsfetzen sind immer wieder dieselben und nur selten wird ein neuer Aspekt beleuchtet – Kraus steckt über einen langen Zeitraum fest, kommt weder vor, noch zurück. Er verwendet immer wieder dieselben Worte und Sätze, Anaphern ziehen sich dabei nicht selten über mehrere Seiten und überall begegnet er Rehen, die vermutlich häufig nur imaginiert sind. Dem aufmerksamen Beobachter des öffentlichen Diskurses um Zeitgeschichte und die europäische Zusammenarbeit werden diese exzessiven Wiederholungen bekannt vorkommen, auch hier werden immer wieder die gleichen Schlagworte und Phrasen verwendet. Europa hat sich in diesem Punkt, wie die Figuren im Buch, festgefahren. Die scheinbare Eintönigkeit des Schreibstils in Winterbergs letzter Reise und das Bewusstsein um die riesigen Konflikte, die im Untergrund köcheln, spiegeln also stilistisch und thematisch sehr eindringlich den aktuellen Zustand der Geschichtsaufarbeitung wider.
Personifizierte Erinnerungskultur
Jan Kraus, der geflüchtete Tscheche, steht dabei für den großen Abschnitt »Kalter Krieg«, Winterberg, der vertriebene Sudetendeutsche, hingegen für all die »Heißen Kriege« in Europas Vergangenheit. Er zitiert über weite Teile des Buches die sperrigen, veralteten Texte aus dem letzten k. u. k. Baedeker Reiseführer von 1913. In seinen Äußerungen mischen sich die Erinnerungen an Königreiche, Kaiser und Armeen mit den unfassbaren Ausbrüchen von Gewalt, die Europa im 20. Jahrhundert erschüttert haben. Seine persönliche Vergangenheit verzerrt und verschweigt er bis zum Ende des Buches. Der zentrale Konflikt in seinem Inneren ist der Umgang mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit und dem Tod seiner großen Liebe: der jüdischen Lenka.
Rudiš geht auf keines der angesprochenen Probleme näher ein. Er wirft sie auf und lässt sie im Raum schweben bis man sie im Meer der vielen anderen Konflikte schon fast nicht mehr wahrnimmt, nur um sie dann erneut an die Oberfläche zustoßen. Genauso, wie Europa es seit Jahrzehnten tut. Nichts wird wirklich vergessen und nichts wird wirklich aufgearbeitet. In Winterbergs letzter Reise wird deutlich wie präsent die Vergangenheit in der Gegenwart ist und wie schwer sich die Öffentlichkeit damit tut, sie hinter sich zulassen und trotzdem zu erinnern.