Nie mehr »Nett twerken«!

Dieser intersektionelle Feminismus ist laut, wütend und bunt: Die Rapperin und Sprachwissenschaftlerin Reyhan zeigt sich im Gespräch mit Pornowissenschaftlerin Madita Oeming gesellschaftskritisch. Ein Abend voller Identitätsbrüche und Wortneuschöpfungen, der inspirierend wirkt.

Von Nicole Morasch

Bild: ©Sebastian Becker, Literarisches Zentrum Göttingen

Wie an Kaltwachsstreifen zieht sie an den Schichten ihrer Persona, entblößt Wahrheitsstellen auf nackter Haut, die wehtun und schmerzen – eine Notwendigkeit für Emanzipation und Empowerment, ganz anders als zweifelhafte Ideale von Körperbehaarung. Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray, bekannt als debattenprovozierende Rapperin, promovierte Sprachwissenschaftlerin und Autorin ist mit ihrem gesellschaftspolitischen Sachbuch Yalla, Feminismus! auf Lesetour. Am 10. Januar 2020 befüllt und bereichert sie das Göttinger Alte Rathaus mit einem diversen Publikum und ihren Sprechkünsten. Şahin führt anhand ihrer Biografie, ihren Erfahrungen und sozialen Kreisen durch Lebenswelten, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen. Eine muslimische Sex-Rapperin mit Doktortitel? Das schreit geradezu nach einer Projektionsfläche für Ängste aller Art.

Um diese aufzubrechen hätte das Literarische Zentrum keine bessere Bühnenmoderatorin und Gesprächspartnerin auswählen können: Madita Oeming, Forscherin im Bereich der Porn Studies, kreiert ein wertschätzendes Miteinander mit klugen Fragen, die die gesellschaftspolitischen Facetten der Bühnenfigur Dr. Bitch Ray freilegen. Denn was sie zu einer Projektionsfläche für Ängste macht, sind ihre Zugehörigkeiten zu Gruppenidentitäten, die im öffentlichen Diskurs zu kurz kommen. Wenn die Konstruktion der eigenen gesellschaftlichen Realität einen Knacks bekommt und die bisherigen Kategorien keine Erklärungen mehr bieten, kann das Furcht auslösen. Genau an dieser Stelle wird der Kampf um Selbstermächtigung, um Selbstdefinition bedeutend. Şahin versucht, die Labels, die die Mehrheitsgesellschaft ihr zuschreibt, neu für sich zu vereinnahmen – und weist somit auf Vorurteile und strukturelle Diskriminierung hin.

Spiel mit Konfliktlinien, Spiel mit Identitäten

Şahin beginnt ganz von vorn: Ende 2007 polarisierte Lady Bitch Ray mit ihren Auftritten die deutsche Medienlandschaft. In der Zeit vor den #metoo-& #metwo-Debatten stellte sie ein Unikat dar. Rapper*innen, die auf offensive und vulgäre Art und Weise weibliche Lust zum Thema machen, waren und sind eine Seltenheit in der deutschen Hip-Hop-Szene. Und das sei laut Şahin kein Wunder – der gesellschaftliche Gegenwind erschien ihr enorm.

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Reyhan Şahin aka Dr. Bitch Ray
Yalla, Feminismus!

Tropen: Stuttgart 2019
224 Seiten, 20,00 €

Der emanzipatorische Aspekt ihrer selbstermächtigenden Darstellung als ›Bitch‹ wurde verkannt, ihr feministisches Potential blieb zugunsten ihrer »pornografischen« Texte unbeachtet. Ihre Musik bekam zwar verstärkt Aufmerksamkeit und brachte erste Erfolge, doch wurde sie aufgrund ihrer künstlerischen Selbstdarstellung ausgegrenzt; Kündigungen und öffentliche Anfeindungen waren die Folgen. Bereits an dieser Stelle wird deutlich: Diskriminierung erfolgt komplex. Durch eine Anekdote Şahins wird ihr Diskriminierungsverständnis deutlich: Als ihr eine Frau aus einer vorherigen Lesung entgegnete, dass es doch kein Rassismus sei, wenn sie als Lady Bitch Ray ausgegrenzt wird, antwortete Şahin:

Doch, weil ich nur deswegen, über vier Ecken, zu Lady Bitch Ray geworden bin.

Feminismus intersektionell gedacht

Um ihr gesellschaftspolitische Anliegen außerhalb des Hip-Hop-Spektrums nachvollziehbar zu machen, stellt sich Dr. Bitch Ray als Wissenschaftlerin und Intellektuelle vor. Ihre Ambition, das Buch zu schreiben, beinhaltet vielfältige Gründe: Intersektionalität als Schlagwort mit Inhalt und Perspektive zu beleben. Den ›weißen‹ Feminismus der zweiten Generation kritisch zu hinterfragen. Die neue queere Generation von Feminist*innen zum Unbequem-Sein aufzufordern. Die diskriminierenden Machstrukturen des Wissenschaftsbetriebs, von ihr auch ›Fuckademia‹ genannt, offenzulegen. Und: Dem Mythos ›Kopftuch‹ empirische Erkenntnisse entgegenzuknallen und die deutsche Mehrheitsgesellschaft mit Wissen aufzuklären.

Der Fokus des Abends liegt auf dem Begriff der Intersektionalität, der im feministischen Diskurs der letzten Jahre verstärkte Aufmerksamkeit erhielt. In einer Person können sich Diskriminierungsformen überschneiden, sodass neben Sexismus auch Rassismus, Antisemitismus, Klassismus etc. für Ausgrenzungserfahrungen sorgen können. Außerdem werden Menschen aufgrund diverser Gruppenzugehörigkeiten nicht nur innerhalb der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch in kleineren Communities ausgeschlossen. Beispiele zieht Şahin aus ihrer eigenen Erfahrung. Als muslimische Alevitin musste sie sich nicht nur gegen Generalisierungen der nicht-muslimischen deutschen Mehrheit, sondern auch innerhalb der muslimisch geprägten Gesellschaftsschicht behaupten. Daneben tummeln sich sexistische und rassistische Aussagen in den Kommentarspalten ihrer Artikel und Musikvideos. Dann kann es schonmal passieren, dass dort ungefragt ihre Gruppenzugehörigkeit verhandelt wird.

Laute, wütende und emanzipierte Kritik

Intersektionalität umfasst viele Ebenen, die im ›weißen‹ Feminismus der zweiten Welle nicht beachtet werden und Privilegien erahnen lassen. Selbstreflektiert und kritisch spricht Oeming über eigens erlebte Erfahrungen mit Vorurteilen zu ihren Forschungs- und Lehrtätigkeiten im Bereich der Pornografie, während sie dem Publikum gleichzeitig ermöglicht, an ihrem persönlichen Lernprozess hinsichtlich ihrer Privilegien als weiße Cis-Frau aus akademisch gebildetem Elternhaus teilzunehmen. Auf diese Weise ermuntert sie auch das Publikum mit eigenen Vorurteilen aufzuräumen und trägt zur Sensibilisierung bei. Und dies gelingt in einer lockeren Atmosphäre: Statt Bedrücktheit oder betretenem Schweigen ist der Abend von Lachern geprägt, zum Beispiel wenn sich Oeming an Şahins künstlerischen Wortschatz bedient und sich als »Mensch mit Migrationsdefizit« definiert. Oder wenn Şahin dem Wissenschaftsbetrieb ihre Perspektive gegenhält, indem sie die gängige Praxis des ›Networkings‹ mit ›nett twerken und dabei diese Alter-weißer-Mann-Zustände schönlächeln‹ beschreibt.

Leider kam Şahins Ausarbeitung zur deutschen »Kopftuchsaga« und ihr Verständnis des islamischen Feminismus zu kurz. Genau an dieser Stelle kann auf ihr Buch verwiesen werden. Verständlich aufbereitet, analytisch klar und mit Verweisen zur wissenschaftlichen Referenzliteratur wird unter anderem dargelegt, inwieweit feministische Tendenzen innerhalb muslimischer Communities aufzufinden sind. Daher sei kurz gesagt: Wer islamische Feminist*innen und den Genderjihad unterm Hijab verstehen und darüber hinaus wissen möchte, welches Kopftuch »Punk« ist – der wird in Yalla, Feminismus! einsichtsreiche Antworten finden.

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