Was Molière schon vor 350 Jahren auf den Punkt gebracht hat, stimmt auch heute noch: Die Angst vor dem Tod versaut den Spaß am Leben. Matthias Reichwald gibt mit Der Eingebildete Kranke sein Regie-Debüt am Deutschen Theater in Göttingen und gestaltet einen turbulenten Theaterabend.
Von Charlotte Kaletsch
Bilder: ©Axel J. Scherer
»Leider ist unser Hauptdarsteller erkrankt«, mit süffisantem Lächeln begrüßt Schauspielerin Gaby Dey das Publikum der ausverkauften Premiere am 22. Februar im Deutschen Theater. Ist das Gaby Dey, die da zum Publikum spricht oder ist es ihre Rolle Toinette, die Hausangestellte des eingebildeten Kranken? Jedenfalls versteckt sich hier schon die erste Anspielung auf Molière, der anno dunnemals selbst die Rolle des eingebildeten Kranken spielte, auf der Bühne einen Blutsturz erlitt und kurz darauf verstarb. Das Spiel mit den Ebenen ist ein wiederkehrendes Element der Inszenierung.
Dem Publikum bleibt keine Zeit, um länger über diesen Einstieg zu schmunzeln. Das Stück beginnt zeitgleich mit dem erlöschenden Saallicht und nimmt schnell Fahrt auf. Schon liefert sich ein aufbrausender Argan (Florian Eppinger) hitzige Wortgefechte mit seiner Hausangestellten und seiner Tochter Angélique (Katharina Müller). Molières Protagonisten ist das Klistier zum Lebenselixier und der Arzt zum Halbgott geworden. Damit steht er sich selbst und seiner gesamten Entourage im Weg.
Der Plot, der den knapp zweistündigen Abend prägt, ist schnell erzählt: Argan wählt einen Arzt als zukünftigen Schwiegersohn aus. Das ist eine gute Wahl für einen egomanischen eingebildeten Kranken: Besser haben als brauchen. Seine Tochter ist allerdings überhaupt nicht einverstanden mit der Wahl und hat schon einen anderen im Auge. Als wäre das nicht schon genug, mischt auch noch Argans geldgierige Frau Béline (Rebecca Klingenberg) mit, die sehnsüchtig auf ihr Erbe wartet. Gut, dass Toinette die Fäden in der Hand hält und einen Plan spinnt, um die verzwickten Verhältnisse aufzulösen.
»Herr Doktor, wie viele Salzkörner soll ich auf mein Ei tun?«
Die Schauspieler*innen, allesamt alte Hasen auf der Göttinger Bühne, überzeugen mit Spielfreude, Gesangseinlagen und rasanten Wortwechseln. Die Dialoge des Molière’schen Personals werden zwar hier und da gekürzt und an anderen Stellen sprachlich aufgemöbelt, finden aber größtenteils werkgetreu Einzug in die Inszenierung.
Alle haben so ihre Themen, um die sie unerlässlich kreisen. Für Angelique dreht sich alles um ihren Liebsten und für Béline geht’s um die Moneten. Argan kreist nur um sich und seine Angst vor der Krankheit, oder doch vor dem Arzt? So ganz scheint er das selbst nicht zu wissen. Nicht nur die Themen drehen sich im Kreis, auch ein großes, quadratisches Bühnenelement auf Rollen wirbelt immer wieder über die Hauptbühne. Darauf befestigt ist ein Gerüst mit wehenden Tüchern. Wird das Element in Bewegung gesetzt, erinnert es an die Schauwagen, mit denen Molières Schauspielgruppe durch Frankreich tourte.
Passend dazu fahren neue Figuren teilweise mit dem Wagen ins Geschehen hinein. So zum Beispiel Argans ausgesprochen trotteliger Wunsch-Schwiegersohn, der mit seinem Vater zu Besuch kommt, um Angélique Avancen zu machen. Beide sind Ärzte, der Papa ist so klapprig, dass er immer wieder aus dem eigenen Rollstuhl kippt und das verzogene Gesicht des Sohns erinnert an eine Gesichtslähmung nach einem Schlaganfall. Beide wirken weitaus geschwächter als der selbsternannte Patient. Das hervorragende körperliches Spiel von Volker Muthmann und Florian Donath besitzt neben all seiner Komik auch eine gewisse Abgründigkeit. Zumindest dann, wenn man es als kleine böse Anspielung auf unser kränkelndes Gesundheitssystem versteht.
»Dieser Molière ist ein reichlich unverschämter Bursche.«
Die Schieflage in der medizinischen Versorgung ist aber nicht das Hauptthema des Abends. Für Regisseur Matthias Reichwald, der mit der Inszenierung sein Debüt am Göttinger Theater gibt, scheint ein anderes Thema zentral gewesen zu sein: Er verordnet seinem Publikum eine große Portion Molière. Nicht nur die Texte des Franzosen, in denen die Figuren auch über den Autor sprechen, werden übernommen. Die Inszenierung geht noch weiter und lässt Toinette Passagen aus der Ausgabe des Hamburger Lesehefts vorlesen. Damit eröffnet sie, wie schon zu Beginn des Stücks, Ebenen, die irgendwo zwischen dramatischem Geschehen und Publikum liegen. Das Publikum sieht immer wieder Theater, das explizit auf sich selbst verweist und zwar in der Sprache, im Bühnenbild und im Spiel.
Das Publikum schaut dem Ensemble beim Umbau der Bühne zu und sieht, wie ein Schauspieler sich im hinteren Bühnenteil in sein Kostüm zwängt. Die anderen Darsteller*innen sitzen dabei, wie in der Maske, vor kleinen Theaterspiegeln, während vorne das Stück weiterläuft. Das kann als Analogie für die Gemachtheit der Probleme verstanden werden, mit denen sich Argan herumärgert. Es gaukelt aber auch vor, einen Blick hinter die Kulissen werfen zu können. Schauspiel als Handwerk ist eine Metaebene der Inszenierung und damit auch wieder Anspielung auf Molière, der im 17. Jahrhundert mit seiner Schauspielgruppe eben diesem Handwerk nachging. Mit Vorliebe schrieb er seinen Darsteller*innen die Rollen auf den Leib und ließ den realen Charakter und die Bühnenfigur verschmelzen.
Happy-Socks und Halskrause
Auch Jelena Nagorni, zuständig für das Bühnenbild der Produktion, ist das erste Mal an einer DT-Produktion beteiligt. Die Kostüme stammen von Elena Gaus. Das Bühnenbild und die schlichte Garderobe der Figuren sind farblich aufeinander abgestimmt. Die Kostüme sind wenig pompös und größtenteils so zeitlos wie Molières Dialoge. Nur wenige Kleidungsstücke stechen hervor. Zum einen die bunten Socken der Herren, die den Kostümen etwas Heutiges geben. Zum anderen fallen die Arztfiguren durch ihre großen weißen Halskrausen auf. Das überbordende Accessoire verleiht ihnen nicht nur den Charme einer Witzfigur, es greift die klassische Ausstattung des Dottore der Commedia dell’arte auf. Und zack, damit ist die Inszenierung schon wieder bei Molière, der die Typen des italienischen Stehgreifspiels zu Charakteren weiterentwickelte.
Der Stoff hätte sich bestimmt auch für die ein oder andere stärkere Aktualisierung angeboten. Die Geschichte der unglücklich verliebten Tochter und der Haushälterin, die für Recht und Ordnung sorgt, nimmt sehr viel Raum ein. Themen wie Übertherapie, Hypochondrie und ein schwächelndes Gesundheitssystem klingen an, sind aber in der Inszenierung lange nicht ausschöpfend behandelt. Es ist jedoch erfrischend, dass hier ein Klassiker gezeigt wird, der nicht postmodern in poppig-trashiger Art überinszeniert wird. Spannend ist auch, dass der Originaltext über die Jahrhunderte nichts von seinem Witz verloren hat. Und nicht nur Molières Dialoge überzeugen an dem Abend, sondern auch das facettenreiche und ausdrucksstarke Spiel des gesamten Ensembles. Alles in allem ist die Inszenierung eine kluge Hommage an die klassische Charakterkomödie und ihren französischen Begründer. In der Tradition der Commedia dell’arte stehend, hält sich das Stück nicht lange damit auf, Probleme aufzuwerfen und zu vertiefen. Stattdessen strebt es eine große szenische Wirkung an und das gelingt ihm immer wieder. So sieht es auch das Premierenpublikum. Es beschließt die Aufführung mit langanhaltendem Applaus.