Kann man Glücklichsein lernen?

James Wood hat ein schwieriges Thema für seinen Roman gewählt, denn er erzählt von einer Frau, die seit ihrer Jugend mit Depressionen kämpft. Nach einem neuen Schub besucht ihre Familie sie, um ihr beiseite zu stehen. Sie will, dass Vanessa glücklich wird. Aber ist das möglich?

Von Carmen Lotzmann

Bild: By DevilsApricot via Pixabay , Pixabay Licence

Der amerikanische Literaturkritiker James Wood hat mit Upstate einen eigenen Roman geschrieben. Darin widmet er sich einem schwierigen Thema: Depressionen. Wood berichtet nicht nur über die erkrankte Vanessa, sondern erzählt auch vom Umgang mit der Krankheit und den damit einhergehenden Problemen ihrer Familie. In dem Roman folgt er der Erzählstrategie des komplexen Realismus, den er schon 2011 in seinem Essay Die Kunst des Erzählens verstärkt forderte.

Die Schwierigkeit, ein betroffenes Familienmitglied zu haben

Im Lauf der Handlung werden immer wieder gravierende Unterschiede von Vanessa und ihrer Schwester betont. Helen ist eine anscheinend glückliche, erfolgreiche Businessfrau, die es schafft, so ganz nebenbei noch eine eigene Familie zu haben. Sie arbeitet für ein großes Musiklabel und ist geschäftlich viel unterwegs. Vanessa, gerufen Van, ist da ganz anders. Sie ist zwar Professorin am Skidmore College in Saratoga Springs in Upstate New York doch so wirklich erfolgreich ist die Philosophin nicht. Ihre akademische Karriere stagniert. Sie ist depressiv und schafft es nicht, glücklich zu sein. Richtige Freunde hat sie nicht. Nur ihr wesentlich jüngerer Lebensgefährte Josh steht ihr zur Seite. Ihr Vater, selbst mit Geldsorgen beschäftigt, fliegt auf Joshs Wunsch hin von Nordengland aus über den großen Teich, um seiner erwachsenen Tochter beizustehen. Gemeinsam mit Helen versucht er, Vanessa vor dem großen Zusammenbruch zu bewahren.

Diese Hintergründe werden durch eine auktoriale Erzählinstanz eingeführt, die in die laufende Handlung nicht eingreift. Sie beleuchtet sie mithilfe von Rückblenden: Die Depressionen, die Vanessa schon lange begleiten, werden von der Erzählinstanz als Reaktion auf die Trennung der Eltern Vanessas und Helens erklärt – ohne ausschweifende psychologische Exkurse, sondern nur in Andeutung. Für Alan, den Vater der zwei Frauen, ist schwer verständlich, warum Vanessa durch die Scheidung depressiv geworden ist.

Depressionen sind nicht nur ein Problem für Betroffene

Die meiste Zeit reden die Figuren davon, dass sie Vanessa beschützen müssen. Die weiß, dass sie krank ist und dass sie es schwerer hat als andere Leute. Darum machen alle anderen allerdings ein großes Aufheben, obwohl jede*r mit eigenen Problemen belastet ist. Das wird veranschaulicht, indem wechselnd die Sicht einzelner Figuren aufgenommen und wiedergegeben wird. Dies passiert an manchen Stellen sehr unmittelbar, sodass man darüber stolpert und überrascht ist vom Wechsel der Perspektive.

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James Wood
Upstate

Rowohlt: Hamburg 2019
304 Seiten, 22.00 €

Vanessa scheint sich einigermaßen mit ihren Depressionen zu arrangieren, was keine leichte Übung für sie ist – sie macht eine Therapie und nimmt verschiedene Medikamente, um ihre Krankheit einigermaßen in den Griff zu bekommen. Auch das erfährt derdie Leserin durch einen beiläufigen Einschub. In einem längeren Gespräch erklärt Vanessa ihrem Vater, es sei für sie nicht selbstverständlich, Glück zu empfinden. Noch treffender formuliert es Josh, der erklärt, Vanessa müsse dafür arbeiten, glücklich zu sein, während es anderen zufallen würde.

An seiner Figur wird deutlich, dass Depressionen nicht nur für die direkt Betroffenen ein Problem sind. Obwohl er Vanessa liebt, kann er die Verantwortung für ihr Wohlergehen nicht mehr tragen. Hier wird klar, unter welch einem großem Druck er steht, ihre halbwegs erträgliche Lage aufrechtzuerhalten. Kleinigkeiten reichen aus, dieses empfindliche Gleichgewicht zu stören. Ein Beispiel dafür liefert ein schwerer depressiver Schub, der einsetzt, als Josh für ein paar Tage beruflich verreist.

Dafür verantwortlich zu sein, dass ein geliebter Mensch in seiner Krankheit ernstgenommen wird und dass es ihm so gut wie eben möglich geht, ist nicht einfach. Eigene Selbstzweifel machen sich breit, besonders in schweren Fällen, oder wenn man selbstzerstörerische Akte nicht verhindern kann. Depressionen sind kein auf den Roman beschränktes Problem, sondern ein sehr reales. Erst im Juli 2019 wurde laut tagesschau.de in einer Studie der DAK belegt, dass immer mehr Arbeitnehmer*innen wegen psychischer Probleme, vornehmlich Depressionen, krankgeschrieben werden. Der zehnte Todestag von Ex-Nationaltorwart Robert Enke ist Anlass, festzustellen, dass Depressionen immer noch nicht so ernst genommen werden, wie sie sollten. Nach dessen Suizid gab es im Profifußball kaum Änderungen; den Spielern stehen nur wenige Psycholog*innen zur Verfügung. Auch würde ein Eingeständnis, krank zu sein, sogar eher der Karriere schaden, als von Seiten der Öffentlichkeit und dem engeren Umfeld als Stärke begriffen zu werden.

Glücklichsein lernen und erarbeiten

Der langsam voranschreitende Roman konzentriert sich auf die Probleme dieser einen Familie und zeigt dennoch, wie es hinter vielen aufgehübschten Hausfassaden tatsächlich zugehen dürfte. Über knapp 300 Seiten geht es darum, dass Alan und Helen zu Vanessa fliegen, um ihr seelischen Beistand zu leisten. Statt mit vielen schnell aufeinander folgenden Ereignissen zu arbeiten kommentiert der Roman die Reise, das Aufeinandertreffen und Zusammensein der kleinen Familie aus verschiedenen Perspektiven. Die Leser*innen erfahren in einem Moment von Vanessas depressiven Gedanken und ihren Problemen per Innensicht, im nächsten Absatz kommentiert Helen Vanessas Schwermütigkeit eher abfällig und wirkt nicht gerade, wie eine besorgte Schwester. Diese Wechsel nicht immer leicht verfolgbar zu machen, erweist sich letztlich als Strukturprinzip.

Im letzten Drittel des Romans klären sich Fragen, die während des Lesens auftreten, auf elegante Weise. Durch verschiedene Episoden beginnt Vanessa zu verstehen, dass sie es sich erarbeiten kann, Glück zu empfinden. Die bisher eher düstere Atmosphäre beginnt, sich langsam und vorsichtig aufzuhellen – und das wird nicht kitschig gelöst, sondern so, dass man von Hoffnung sprechen kann. Es wird einprägsam gezeigt, dass Glück nicht für jede*n selbstverständlich ist, indem Wood Vanessas Krankheitsverlauf verfolgt und immer wieder einbaut, dass sie sich selbst fragt: »Warum bin ich nicht glücklich?«

Wood schafft es, ein schwieriges Thema geschickt und klug zu verarbeiten, indem er Entwicklung und Verlauf von Vanessas Depressionen nicht nur aus ihrem Blickwinkel vorführt. Zum Beispiel beschreibt er, wie Vanessa sich als Jugendliche immer mehr in sich selbst zurückzieht, oder wie sie als Studentin alles verschenkt, was sie besitzt, bis ihre Eltern ihr Einhalt gebieten. Ereignisse wie diese werden in logischer Reihenfolge geschildert und zeigen, wie sie sich aufeinander auswirken, sodass sie plausibel und vorstellbar erscheinen. Er wendet damit seine Idee vom komplexen Realismus in diesem Roman durchgehend an. Für Wood ist es wichtig, dass es in einer erzählten Welt eine innere Folgerichtigkeit und Plausibilität gibt, wie man aus einer Behauptung Wolfgang Schneiders im Deutschlandfunk erfahren kann.

Umsichtig und langsam entspinnt sich eine Handlung, der sich gut folgen lässt, auch wenn Woods Erzählinstanz rasch zwischen den Perspektiven hin- und herspringt. Man will wissen, wie es mit Vanessa weitergeht. Auch damit schafft Wood es, seinem komplexen Realismus zu folgen, da eines dessen Ziele ist, »einen spezifischen Hunger auf seine Wirklichkeit und seine Figuren zu wecken«. Wood schweift weder in eine bodenlos schwarze Sicht ab noch verklärt er das Thema Depression. Er schreibt einen realistisch angelegten Roman, der auf ganz eigene Weise spannend ist.

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