Mit Dionysos auf dem Theaterolymp

In der zehnstündigen Inszenierung von Dionysos Stadt an den Münchner Kammerspielen steht das Event im Zentrum. Dabei vergeht die Zeit wie im Fluge und am Ende fühlt sich unsere Münchner Theaterkorrespondentin wie im Theaterhimmel. Dort angekommen ist es Zeit für den Abschied.

Von Anika Tasche

Bild: By Julien Reveillon via unsplash, unsplash licence

Was für viele Menschen wohl eine Folterstrafe wäre, war für mich ein langersehnter Traum: zehn Stunden Theater am Stück. Aber wie bereitet man sich darauf vor? Darf man wohl in Jogginghose kommen? Und müssen Essen und Zeit ebenso aufeinander abgestimmt werden wie bei einer Zugfahrt? Und wer wäre die passende Begleitung? Letztere Frage verwarf ich lieber schnell, denn zehn Stunden Theater sollte man vielleicht einfach alleine genießen, anstatt sich noch Sorgen um seinen Sitznachbarn machen zu müssen. Und Gott sei Dank gibt es ja neben Jogginghosen auch noch andere bequeme Klamotten. Für das leibliche Wohl sorgten die Kammerspiele und somit konnte ich viele meiner nervösen Fragen bereits vor Beginn des Stücks Dionysos Stadt schnell ad acta legen.

Schon beim Betreten des Hauses war zu bemerken: Hier passiert heute etwas Besonderes. Das Publikum, eine Mischung aus linken Studierenden (wo kommen die in München eigentlich her?) und älteren Intellektuellen, verband aller Divergenzen zum Trotz eins miteinander: die Liebe zum Theater. Auffällig war, dass die Sitzplätze sich erst wenige Minuten vor Beginn der Inszenierung füllten, denn wir alle wussten, dass 10 Stunden lang werden können. Doch das Gegenteil sollte passieren: Die Zeit verging wie im Fluge.

Improvisation zum Einheizen

Denn sehr geschickt überließ Regisseur Christopher Rüping zunächst dem Münchner Schauspieler Nils Kahnwald, der bei der Kritiker*innen-Umfrage von Theater heute zum Schauspieler des Jahres 2019 gekürt wurde, den Raum für eine halbstündige Improvisation. Diese wurde gefüllt mit guten Ratschlägen für das Theaterevent, mit Informationen über den Ablauf des Tages (4 Teile mit drei Pausen) und mit vielen Witzen, die das Publikum sofort in Stimmung brachten. Mit anderen Worten: Nils Kahnwald war die Vorgruppe, die den Zuschauer*innen einheizen sollte. Äußerst originell präsentierte Kahnwald die Früchte einer gelungenen Tagesplanung. Denn für alles wurde gesorgt. Sogar die Raucher*innen mussten sich keine Sorgen machen, denn eine Ampel zeigte an, wann man auch als Gast die Bühne betreten durfte, um auf der Raucherbank eine durchzuziehen.

Der erste der vier Teile begann auf einer nahezu leeren Bühne, wobei die Hinterbühne von einem großen Stahlgerüst dominiert wurde. Er war Prometheus gewidmet, der sich – der antiken Sage gemäß – mit Zeus anlegte und der für seinen Hochmut büßen musste, indem er in der Einöde des Kaukasusgebirges an die Felswand geschmiedet wurde. Der Regisseur setzte hierfür Benjamin Radjaipour in einem Käfig, der zur Decke hochgezogen wurde. In unbestimmten Abständen wurde Radjaipour mit weißer Farbe besprüht: Vogelscheiße, die in dieser Höhe unvermeidlich ist. Währenddessen saß Majd Feddah als Zeus genüsslich auf einer Bank und kaute Pistazien vor sich hin. Um das lange Warten zu verdeutlichen, kamen irgendwann ›Schafe‹ auf die Bühne. Anders als im antiken Mythos handelte es sich hierbei jedoch nicht um echte Tiere, sondern um Schauspielerinnen, die mit Schafsfellen über die Bühne krabbelten. Und das Schöne an diesem Theaterevent war, dass es Zeit im Überfluss gab. Dies ließ den Schafen die Ruhe, eine gefühlte Ewigkeit vor sich hinzugrasen, sodass die Langeweile im ganzen Saal spürbar wurde. Keinesfalls überspannte sie jedoch das Gesamtkonzept des Stücks, denn die Dynamik zwischen Entschleunigung und Kurzweil hielt auch die Zuschauerinnen in Bewegung.

Reihe

Direkt aus Göttingen verschlug es unsere ehemalige Redakteurin für ein Volontariat in einem renommierten Literaturverlag nach München. Zwei ihrer großen Leidenschaften, Litlog und Theater, blieb sie in unserer Reihe »Bis der Vorhang fällt« als Münchener Theaterkorrespondentin dennoch treu.

Troja und ein Bühnenbild in Scherben

Im zweiten Teil zauberte dann Bühnenbildner Jonathan Mertz ein imposantes Stahlgerüst mit weißer Front auf die (Vorder-)Bühne. Auf diesem begehbaren Gebilde wurden mal die Schauspieler*innen in Form von Büsten auf die Leinwand projiziert, mal ein riesiges Feuer entfacht. So imposant wie diese Konstruktion kam wohl auch den Kriegern das trojanische Pferd im alten Griechenland vor. Um die Bedrohlichkeit dieser Szenerie zu verdeutlichen, spielte der Live-Musiker Matze Pröllochs lautstark auf seinem Schlagzeug und läutete damit das Kriegsgeschehen ein. Auch in dieser Szene wurde wieder der Luxus der Spieldauer genutzt, indem einzelne Schauspieler*innen en detail die angereisten Kriegsschiffe und deren Besatzung auflisteten. Die gesamte Schlacht wurde als Mauerschau erzählt. Indem die Aufzählung der Kriegsschiffe gefühlt nie endete, wurde die Dimension der Schlacht spürbar. Dies hatte zum einen den Effekt, dass eine kaum vorstellbare Masse an Kriegern vor dem inneren Auge auftauchte. Zum anderen erwischte man sich aber auch immer wieder dabei, wie man der endlosen Auflistungen nicht mehr folgte. Als Troja schließlich zertrümmert wurde, wurden auch die weißen Platten des Bühnenbildes aus dem Stahlgerüst zerschlagen, und ebenso wie Troja lag auch das Bühnenbild am Ende in Trümmern.

Im Anschluss an den zweiten Teil folgte eine längere Pause, die gut zum Abendessen genutzt werden konnte. Und wie es sich für eine Gruppe gehört, die ein ›einmaliges‹ Ereignis verbindet, traf man in der Stadt immer wieder auf Gesichter, die vielleicht zwei Reihen vor einem oder drei Plätze links von einem saßen. Und dies ist wohl eine der wichtigsten Erkenntnisse des Abends: Es ging hier tatsächlich um das Erlebnis Theater wie es schon damals in der Antike praktiziert wurde – ein Event, was Tage oder hier zumindest einen Tag füllen konnte.

Eine große Gemeinschaft

Gut gesättigt ging es in den dritten Teil, der eine zweistündige Improvisation mit vielen Lachern darbot. Als inszenierte Fernsehserie »Die Oresties« wurde – wie der Name bereits verrät – Aischylos’ Trilogie von griechischen Tragödien gespielt. Das Bühnenbild bestand aus verschiedenen (Wohn-)Räumen, die auf der Vorder-, Neben- und Hinterbühne arrangiert waren. Aus ihnen wurde zum Teil live gefilmt. Die Übertragung war dann auf einer riesigen Leinwand auf der Bühne zu sehen. Die Improvisation führte zum Teil zu slapstickartigen Momenten, etwa wenn Agamenon (Jochen Noch), der gerade aus dem Krieg zurückgekehrt war, mit seiner Frau Klytaimestra (Maja Beckmann) am Tisch saß und folgender Dialog dabei herauskam:

A.: Was ist denn das?

K.: Das ist Käse. Den habe ich gekocht.

Und wie war es im Krieg?

A.: Viel los.

K.: Gab es Tote?

A. Ein paar. Und wie war es hier?

K.: Traurig. Einsam. Ich habe gekocht.

A.: Was?

K. Käse.

Nach diesem Dialog konnten sich selbst die Schauspielerinnen das Lachen nicht mehr verkneifen. Man kann nun sagen, dass dies zum Teil doch arg überzogen und klamaukig war. Andererseits wirkte dadurch die Inszenierung erst richtig nahbar. Nicht nur im Zuschauerraum entstand damit ein gemeinsames Erlebnis; sondern auch das Ensemble gehörte zu dieser Gemeinschaft dazu. Schließlich wurden einige Zuschauerinnen zur großen Hochzeitsfeier von Elektra und Pylades (ursprünglich kein Teil der Orestie) auf die Bühne geholt, um gemeinsam Ouzo zu trinken. Und immer wieder betraten die Schauspieler*innen im dritten Teil eine Metaebene, indem sie ihre Rollen verließen und darüber stöhnten, dass sie nicht mehr könnten: Solch eine endlose Geschichte und erst diese ständigen Morde ermüdeten dann doch.

Die griechische Mythologie in der Gegenwart

Der vierte Teil widmete sich dann ebenso metaleptisch dem Dionysos-Festspiel im alten Griechenland. Denn nach drei tiefernsten Tragödien wurde schon damals ein spannungslösendes Ende geboten: das Satyrspiel. Und neben Theater nahm im antiken Griechenland auch der Sport eine wichtige gesellschaftliche Funktion ein. Diese beiden Aspekte wurden im letzten Teil von Dionysos Stadt als Fußballspiel auf die Bühne gebracht. Als Satyrn verkleidet durfte das gesamte Ensemble ein wenig kicken. In Zentrum standen dabei Zinédine Zidanes diversen Anläufe, seine Fußballerkarriere zu beenden. Mehrfach kam er kurze Zeit darauf dann doch wieder auf’s Spielfeld. Und trotz aller Begeisterung für die Inszenierung war man als Teilnehmer*in dieses olympischen Events doch auch froh über eine gelegentliche Pause, aber ebenso dankbar, wenn es weiterging: ein ähnliches Changieren zwischen Ende und Weitermachen wie es wohl Zidane empfunden haben wird.

Auf dem Theaterolymp angekommen

Im Zentrum dieser Produktion stand wohl weniger die Inszenierung, sondern vielmehr das Event an sich: das Erlebnis, 10 Stunden im Theater verbracht zu haben, und am Ende doch mit dem Gefühl nach Hause zu gehen, nur drei Stunden dort gewesen zu sein. Ähnlich hat es wohl schon 2015 Castorf mit seiner fasst siebenstündigen Inszenierung von Dostojewskis Die Brüder Karamasow an der Berliner Volksbühne gestaltet, wo die Zuschauer*innen auf Sitzsäcken Platz nehmen durften. Wer Theater liebt, der sollte eine solche Erfahrung auf jeden Fall einmal mitgemacht haben. Ich war am Ende voller Glückshormone und in meinem Olymp des Theaters angekommen. Und wenn man ganz oben angekommen ist, sollte man vielleicht den Vorhang einfach fallen lassen. Das heißt nicht, dass es keine weiteren Theaterbesuche mehr für mich geben wird, denn München hat noch eine Vielzahl von Schauspielhäusern zu bieten, kleinere wie das Theater hochX, und auch größere Häuser wie das Prinzregententheater. Aber ist es nicht auch spannend, etwas für sich selbst zu entdecken? Der Vorhang der Kolumne fällt mit diesem Erlebnis, aber hoffen wir, dass sich der Vorhang der Theater bald wieder öffnen wird und wir bald wieder einmalige Theatererlebnisse haben können.

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