Olga Tokarczuks Erzählband Der Schrank überzeugt mit einer stets humanen Haltung, die das kleine und große Leid des Lebens in all seiner Subjektivität erfahrbar macht. Der Band versammelt Erzählungen, die ihr vollkommen zu Recht zum Literaturnobelpreis verholfen haben.
Von Jelal Sedo
In Träumen scheint die Wirklichkeit verformt wie das kubistische Porträt einer Person. Hinter all den verschiedenen Perspektiven, die in einem Bild zusammenkommen, erkennt man die Person und doch lernt man sie durch die künstlerische Verfremdung auf eine ganz neue Weise kennen. Die Geschichten in Olga Tokarczuks Erzählband Der Schrank erinnern an solche Träume. Man erkennt realistische und alltägliche Versatzstücke, jedoch schwingt immer ein Hauch von Fantastik mit. Oftmals sind die Erzählungen dabei jedoch weniger fantastisch, als sie zunächst scheinen. Das ist dem Umstand geschuldet, dass es Tokarczuk gelingt, ihre Leser*innen tief ins Innere der Figuren zu führen, sodass man ihre mitunter fantasierende Wahrnehmung bereitwillig akzeptiert.
Doch wovon handeln die Erzählungen? In der ersten, titelgebenden Erzählung berichtet eine Ich-Erzählerin vom gemeinsamen Umzug mit ihrem Mann. Sie kaufen sich einen neuen Schrank, der eine ungeheure Anziehung auf die beiden ausübt, und so kommt es, dass sie beginnen, sich in diesen zu stellen. Erst nur für kurze Zeit, dann immer häufiger und länger, bis sie ihn schließlich kaum noch verlassen und die Welt um sie verstaubt. Eine weitere Erzählung handelt von D., einem »echte[n] Computergenie«, der Tag und Nacht in seinem dunklen Zimmer sitzt und versucht, eine Welt ganz ohne Zerfall zu simulieren, ein Vorhaben, das immer wieder scheitert. Und da ist noch die Erzählung mit dem Titel »Zimmernummern«. In dieser herausragenden Erzählung führt ein Zimmermädchen die Leser*innen durch ihren Arbeitstag in einem Hotel. Sie erzählt vom Abstreifen ihrer Kleider und der Annahme der Zimmermädchenidentität; von den Pausen; der übermächtig scheinenden Chefin und dem Aufatmen, wenn der Tag vorüber ist.
Es sind Erzählungen, die zeigen, wie sich Menschen vor ihrer alltäglichen Realität verschließen, bzw. diese fluchthaft verlassen, indem sie sich in ihre Innenwelt zurückziehen. So ist die titelgebende Erzählung eine grandiose Eröffnung für diesen melancholischen Erzählband.
Tiefe Melancholie
Die Figuren in diesen Erzählungen sind ruhige Menschen, die nicht mehr viel von ihrem Leben erwarten und doch große Hoffnungen und Sehnsüchte in sich tragen. In der Erzählung »Sauermehlsuppe« etwa versucht eine Frau das junge Kind ihrer apathischen Tochter einem Mann, anders kann man es kaum bezeichnen, unterzujubeln. Dabei stapfen sie von einer Person zur nächsten durch den Schnee und haben den Glauben längst aufgegeben. Schwermütig ziehen sie mit dem Kind im Arm weiter:
Schließlich gelingt das Unwahrscheinliche und ein Mann nimmt das Kind auf. Die Leser*innen spüren eine herbe Last von ihren Schultern fallen, doch die bedrückte Stimmung bleibt. Tokarczuk erzählt glaubhaft von ihren Protagonist*innen und reichert ihre Prosa mit einer Schwere an, die nie ins Überdramatische geht. Stattdessen weiß sie, ihre teils alptraumhaft erscheinenden Beschreibungen kurzweilig und interessant zu gestalten. Die Leser*innen folgen den Figuren und beobachten Einsamkeit und Tragik.
Der Mensch im Mittelpunkt
Olga Tokarczuk
Der Schrank
Kampa: Zürich 2020
144 Seiten, 18,00€
Man darf sich nicht täuschen lassen: Obgleich die Erzählungen in Polen spielen, sind sie doch universell zu verstehen und beschreiben die menschliche Existenz als solche. Das lässt sich auch in der Spannweite von Tokarczuks Erzählen erkennen. Von der Einsamkeit einer einfachen Bankangestellten bis zum Trauma des Holocausts erzählt Tokarczuk von menschlichem Schmerz und Hoffnung. Ihre Figuren stehen dabei im Zentrum. Sie erzählt von ihnen, lässt sie erzählen und zieht dabei das Leben dieser Menschen nie ins Lächerliche.
Es ist ein sehr humorarmes Buch, aber das braucht es auch, um die tiefsitzende Melancholie und den individuellen Schmerz verstehbar zu machen. Krystina in der Erzählung »Amos« reist durch halb Polen, nur um einen Mann kennenzulernen, von dem sie denkt, dass er in ihren Träumen erschienen ist und ihr dort gesagt hätte, dass er sie liebe. Man hätte über diese einsame und melancholische Figur lachen können. Aber Tokarczuk entscheidet sich dagegen und macht stattdessen Krystinas Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe spürbar. Genau in dieser Ernsthaftigkeit liegt Tokarczuks zutiefst humanistische Haltung begründet.
Eine verdiente Auszeichnung
So sollte es keine Überraschung sein, dass Tokarczuk 2019, rückwirkend für das Jahr 2018, »für eine erzählerische Vorstellungskraft, die mit enzyklopädischer Leidenschaft Grenzüberschreitungen als Lebensform darstellt«, den Literaturnobelpreis erhielt. Eine Nachricht, die durch die Preisverleihung an Peter Handke im gleichen Jahr in den Hintergrund geriet. Das ist traurig, denn Tokarczuks einzigartige Prosa und ihre humanistische Haltung sind eine Bereicherung für die zeitgenössische Literatur. Zudem ist es eine willkommene Abwechslung, sich für die Schriftsteller*innen, die man liest, nicht moralisch rechtfertigen zu müssen.