Erschöpftes Erzählen?

Die Diskussionsreihe »Vom Unbehagen in der Fiktion« geht an fünf Abenden auf kluge Weise der Frage nach, warum Gegenwartsleser:innen offenbar Geschichten bevorzugen, die durch persönliches Erleben beglaubigt scheinen. 

Von Imme Bageritz

Bilder: Via Pixabay, CC0 / © Imme Bageritz

Am Anfang war das Partygespräch. Anja Johannsen, Leiterin des Literarischen Zentrums Göttingen, hatte nach mehreren Unterhaltungen mit befreundeten Vielleser:innen festgestellt, dass sie alle immer seltener zum ›klassischen‹ Roman griffen. Hoch im Kurs standen stattdessen hybride Formate – »weder Belletristik, noch Sachbuch, weder Fiction noch klassische Non-Fiction«. Johannsen fiel außerdem auf, dass der Grund für diese Abkehr vom Roman offenbar sei, »dass es ihnen in Zeiten, in denen die Welt immer schlimmere Zustände annimmt, wie eine ungehörige Flucht vorkommt.« Fiktion als unerhörter Eskapismus? – Die Idee zur Diskussionsreihe »Vom Unbehagen in der Fiktion« war geboren.

Die Idee geht ins Netz

Im Netzwerk der Literaturhäuser findet Johannsen Mitstreiter:innen. An fünf Abenden diskutieren in den Städten Rostock, Berlin, Göttingen, Frankfurt am Main und Stuttgart verschiedene Autor:innen, Kritiker:innen sowie Literatur- Sozial- und Kulturwissenschaftler:innen den Umgang mit Fiktionalität und Faktualität im Schreiben, im Lesen, im Rezensieren. Das Besondere: Die Veranstaltungsreihe läuft online und alle Beteiligten sind angeregt, sich im Vorfeld ihrer eigenen Diskussionsrunde(n) die Streams der Vorabende anzuschauen. »Meine Grundidee war dabei auch, dass man in verschiedenen Konstellationen an einer Sache weiterdenkt. Das fand ich als Veranstalterin sehr reizvoll im Vergleich zu den üblichen 90 Minuten, die sonst zur Verfügung stehen«, so Johannsen. 

Um dies zu tun, sind im Literarischen Zentrum Göttingen die Autor:innen Lena Gorelik (zuletzt: Mehr Schwarz als Lila, Rowohlt 2017), Deniz Utlu (Gegen Morgen, Suhrkamp 2019) und Moderator Simon Sahner (54books) zusammengekommen. Digital zugeschaltet werden Autor Jan Wilm (Winterjahrbuch, Schöffling & Co 2019) und Fiktionstheoretiker Johannes Franzen (Universität Bonn). Rein rechnerisch überwiegen damit vermeintlich die Autor:innen. Da Sahner und Franzen allerdings beide dem Freiburger Graduiertenkolleg Faktuales und fiktionales Erzählen entstammen und auch Wilm ausgebildeter Literaturwissenschaftler ist, stimmt diese Rechnung aber nicht so ganz. Die stattdessen zustande kommende Ausgeglichenheit der Perspektiven bereichert zwar die Diskussion, doch nicht nur visuell durch den Splitscreen wird zuweilen auf unterschiedlichen Ebenen diskutiert, etwa wenn Wilm (auf) seinen literaturwissenschaftlichen Hintergrund referiert.

Kanonischer Knatsch

»Wieder bin ich auf einer Lesung nur gefragt worden, ob ich das wirklich erlebt habe«, paraphrasiert Literaturwissenschaftler Franzen das Ärgernis vieler Autor:innen, das für ihn als kanonischer Knatsch zwischen Lesenden und Schreibenden gilt. Die Tendenz zur Anerkennung des Fiktionalen als Fakt werde noch befördert, wenn Autor:innen die eigenen Namen für ihre Protagonist:innen verwendeten. Dabei ist der Begriff der Autofiktion, der dafür inzwischen oft herangezogen wird, keineswegs eine Erfindung der letzten Jahre. In seinem Roman Fils (vmtl. bewusst als Sprachspiel; dt. übersetzt: Sohn oder Fäden) prägte Serge Doubrovsky ihn schon 1977. Zunehmend inflationär taucht er mittlerweile jedoch auch dann auf, wenn lediglich einige Ereignisse des eigenen Lebens literarisch verarbeitet werden.

Die Göttinger Diskussionsrunde. Bild: Imme Bageritz

Doch wo sei das denn nicht der Fall, fragt die Göttinger Runde zu Recht. Denn nicht nur die Grenzen zur Autobiographie sind diffus. Erfrischende Uneinigkeit zeigt die Veranstaltung in der Frage, wie variantenreich Autofiktion verstanden werden kann. Vielleicht habe sich Doubrovsky mit einem Wortspiel, das auch als autofriction (Reibung an sich selbst) kursiert, »nur einen Ulk erlaubt«, vermutet Wilm und fügt hinzu: »Wie etwas Blödes, das man zu einer Journalistin oder einem Journalisten sagt und das dann immer wieder zitiert und aufgebauscht wird.« Vielleicht äußert sich darin aber auch der Drang des deutschen Feuilletons, begrifflich anzuerkennen, dass auch faktuales Schreiben einen literarischen Wert hat, wie Franzen augenzwinkernd in den Raum stellt. Er sei sich nicht sicher, ob es den deklarierten Boom autofiktionaler Texte wirklich gebe, »aber es gibt ihn als diskursives Ereignis« und gerade das sei interessant.

What does the fox say?

Info

»Vom Unbehagen in der Fiktion« ist eine Reihe des Netzwerks der Literaturhäuser. Obwohl als sich fortsetzender Dialog konzipiert, ermöglicht sie gleichermaßen den digitalen Besuch der Standorte Rostock, Berlin, Göttingen, Frankfurt am Main und Stuttgart in Form aufgezeichneter Einzelveranstaltungen. Unterstützt von der Bundeszentrale für politische Bildung und Deutschlandfunk Kultur als Medienpartner sind alle fünf Veranstaltungsstreams unter literaturhaus.net abrufbar.

In einem Punkt sind die Autor:innen der Göttinger Runde sich sofort einig. Ein Schreiben völlig getrennt von der eigenen Person und Erfahrung gibt es nicht. »Wenn ich nicht über mich schreibe, schreibe ich erst recht über mich«, fasst Gorelik pointiert zusammen. Darüber hinaus werden jedoch von Autor:innenseite ganz unterschiedliche Fahrtrichtungen verfolgt. Wilm möchte sich in Anlehnung an Roland Barthes als Romanfigur verstanden wissen, Utlu lässt sich nicht in die Karten gucken und beharrt darauf, einen Fuchs auch dann in seine Autobiographie aufnehmen zu dürfen, wenn der vielleicht gar nicht da war. Gorelik verhandelt offensiv in ihrem Text, wessen Geschichte sie literarisieren darf. Die große Frage nach der Wirklichkeit brandet auf.

Wie auch die anderen Abende der Reihe ist dieser thesen- und themenreich und scheut auch weitere Fragen des großen Kalibers nicht: Wie sollten Kunst und Politik, wie Ethik und Ästhetik zueinanderstehen? Was sind die Funktionen von Literatur? Und endet die große Erzählung in der Postmoderne? Was in der Zusammenschau pathetisch daherkommen mag, wird jeweils klug und differenziert beleuchtet. Glücklicherweise kommt das Format dabei ohne einfache Antworten mit gar ähnlichem Pathos aus, indem es verschiedene Gegenwartsdiagnosen unaufgeregt nebeneinanderstellt. Sahner moderiert umsichtig, holt alle ins Boot, gibt selbst literaturwissenschaftlich informierte Impulse. Franzen kontextualisiert präzise und herrlich uneitel. Die Standpunkte reichen von stark theoriebasierten konstruktivistischen Positionen – »Alles (auch die Sprache!) ist Fiktion.« – bis hin zum scheinbar unbeabsichtigt betretenen Gemeinplatz – »Schreiben ist immer auch politisch.« – als Offensichtlichkeit des politischen Privaten in neuer Verkleidung.

Zum Glück: Ohne Antwort

Das »Unbehagen in der Fiktion« erweist sich unzweifelhaft als ergiebig genug, um an mehreren Abenden diskutiert zu werden. Im Literaturhaus Rostock gelingt ein nahbarer Einstieg mit Schwerpunkt auf eine von allen Beteiligten aufmerksam reflektierte Autor:innenperspektive. Berlin liefert vor allem Theorieimpulse und Anstöße zu Fragen der Cultural Appropriation, der Authentizität und der literarischen Repräsentation von Minderheiten. Frankfurt fokussiert besonders das Verhältnis von Literatur und Politik sowie den Fiktionsbegriff, während in Stuttgart die gesellschaftliche Komponente der Diskussion und das Ende der großen Erzählung zur Debatte stehen. Lediglich die Einzeltitel der jeweiligen Veranstaltungen mögen nicht so ganz zu den diskutierten Inhalten passen. Göttingens Überschrift des Abends »Lüge, Poesie und Identitätspolitiken« ließe sich im Nachhinein etwa eher dem Berliner Abend zuordnen, das »Authentisch ausgedacht!« des Stuttgarter Abends passt eher nach Rostock.

Die Frage, was bleibt, ist schließlich nicht mit einem Verweis auf die Streams der Veranstaltungen beantwortet. Denn die Schlussfolgerungen fallen in den unterschiedlichen Runden durchaus widersprüchlich aus. »Der persönliche Essay«, so Autor und Essayist Daniel Schreiber in der Stuttgarter Runde, »war schon vor dem zweiten Weltkrieg ein wichtiges literarisches Genre. Wir haben das nur vergessen.« Im Grunde sei der aktuelle Trend damit eine Wiederentdeckung, die deshalb nicht wieder verschwinden werde. Literaturwissenschaftler Franzen jedoch kann sich auch einen Ermüdungseffekt vorstellen, der als »backlash« die Hinwendung zu ganz neuen Formaten ermöglichen könnte. Autor Guillaume Paoli wiederum hat im Gespräch mit (s)einem Buchhändler von einer Hinwendung zu ›Klassikern‹ während der Pandemie erfahren. Vielleicht müssen sich alle Beteiligten einfach in ein paar Jahren wiedertreffen, schlägt Anja Johannsen in ihrer Abmoderation des letzten Abends vor, »und dort weitermachen, wo wir jetzt aufhören«. Mindestens bis dahin verbleiben die »Vom Unbehagen in der Fiktion«-Mitschnitte sicherlich online. Sie sind unter anderem etwas für all diejenigen, die nach dem Ende des digitalen Göttinger Literaturherbstes auf der Suche nach einer neuen special-interest-Reihe sind, die sie über die Feiertage, im Lockdown und darüber hinaus bingen können.

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