Eva von Redeckers Revolution für das Leben wird als eine ›Philosophie der neuen Protestformen‹ verkauft. Die nehmen aber eher wenig Raum ein in einem Buch, das zur umfassenden Kapitalismuskritik ausholt, aber kaum über die Darlegung des Kernproblems hinauskommt.
Von Frederik Eicks
Eva von Redecker weckt Sehnsüchte. Zwei Sehnsüchte, genau genommen, wie sie am Schluss ihrer Revolution für das Leben schreibt: erstens, den »Drang nach Befreiung aus der kapitalistischen Herrschaft« und zweitens, »endlich in die befreite Zukunft eintreten zu können«. Sie beschreibt die Zustände, in denen wir leben, und die Notwendigkeit, diese Zustände zu überwinden. Konkret heißt das: Die heutige Zeit wartet mit einem ganzen Haufen lebensbedrohlicher Probleme wie Klimakrise, Polizeigewalt und Gewalt an Frauen auf. Redecker verknüpft diese »Lebenszerstörung« mühelos mit den kapitalistischen Weltverhältnissen, in denen sie mit all ihren Facetten ihre Ursache habe. Die titelgebende Revolution für das Leben ist der Aufstand gegen diese Lebenszerstörung. Dafür soll ein System abgeschafft werden, das die Welt in Produkt und Abfall spaltet, und an dessen Stelle Gesellschaftsformen einsetzen, die in den notwendigen Regenerationszyklen für Mensch und Natur funktionieren.
Redeckers besonderer Kniff: In ihrem Verständnis vom kapitalistischen als destruktivem Verhältnis zur Welt werden alle Proteste, die sich gegen solch eine Zerstörung auflehnen zum antikapitalistischen Protest – auch wenn die Bewegungen selbst gar nicht als dezidiert antikapitalistisch auftreten. Das müssen sie auch gar nicht. Wichtig ist, wogegen ›Fridays For Future‹ und ›Black Lives Matter‹ demonstrieren. Redecker spricht aber nicht nur über die großen Bewegungen, sondern auch über solche, die in der deutschen Medienlandschaft unterrepräsentiert sind, beispielsweise über die südamerikanische Frauenbewegung ›NiUnaMenos‹ (›Nicht eine weniger‹) und den indigenen Widerstand ›mni wiconi‹ (›Wasser ist Leben‹) in Nordamerika.
Von klarer Analyse zum Text-Dickicht
Anders als es der Untertitel des Buchs ›Philosophie der neuen Protestformen‹ verspricht, nimmt die direkte Auseinandersetzung mit diesen und anderen Bewegungen jedoch erstaunlich wenig Raum ein. Die Titel der Kapitel und die klare Zweiteilung des Buchs durch das zentrale Kapitel ›REVOLUTION‹, das sowohl im Inhaltsverzeichnis als auch im Text visuell abgegrenzt wird, suggerieren außerdem, dass Redecker sich zuerst mit dem Ist-Zustand der Welt beschäftigt und anschließend mit dem Soll-Zustand. Das ist aber nicht der Fall. Zu Beginn widmet sich der Text einer Abhandlung darüber, in welchen historischen Kontexten das moderne Verständnis von Eigentum, Eigentumsverhältnisse, freie Marktwirtschaft, Sachherrschaft etc. als Bedingung für den Kapitalismus unserer Zeit entstanden ist.
Eva von Redecker
Revolution für das Leben
Fischer: Frankfurt 2020
320 Seiten, 23,00€
Die historische Kontextualisierung wie auch die Analyse heutiger ökologischer, gesellschaftlich-sozialer und ökonomischer Zustände werden immer wieder verwoben mit Verweisen auf Protestbewegungen, Skizzen von Möglichkeiten der Umwälzung, Zitaten philosophischer Klassiker, Bezügen zu literarischen Texten, parabelhaften Erzählungen und Anekdoten aus dem Leben der Autorin. So wird aus einem Text, der ein klares Ziel formuliert und dieses im ersten Drittel mit entschiedenem Drive verfolgt, ein wahres Dickicht aus scharfer Analyse, vagem Ausblick und überflüssiger Erzählung. Darin verliert Redecker die Lesenden, oder die Lesenden Redecker oder beide sich selbst. Genau an dem Punkt kommt das Kapitel ›REVOLUTION‹ – das müsste knallen und dem Text seine Stringenz wiedergeben, aber da knallt nichts. Das liegt vielleicht auch an Redeckers Verständnis von Revolution als langwierigem Prozess. Das verdeutlicht sie anhand eines Zitats von Francis Beal:
Das ist eine Auffassung, der im Grunde auch Redeckers Text folgt: ein stetiges Sich-Abarbeiten am Kapitalismus. Der Unterschied zu so einer schrittweisen Revolution ist aber, dass die Revolution ihr Ziel immer vor Augen hat, egal wie langsam und zäh der Prozess ist. Beim Lesen des Buchs bekommt man hingegen den Eindruck, dass auch der Text nicht mehr weiß, wohin er eigentlich führen möchte. Er zerfasert in jede mögliche Richtung und kommt nirgendwo richtig an: Redecker gelingt es nicht, eine klare Vorstellung davon zu entwerfen, wie die Welt nach dem Kapitalismus aussehen soll. Ein weiterer Faktor ist hier auch Redeckers enorm bildhafte Sprache. Sie verleiht dem Text einerseits eine Schönheit, die berühren kann. Sie führt andererseits aber auch zu weiterer Verunklarung des Inhalts. Es ist hinderlich und leistet keinen Beitrag zum Text, wenn Redecker den zyklischen Kreislauf der Welt der kapitalistischen Verwertungs-Einbahnstraße gegenüberstellt und fortwährend nur noch von den »Gezeiten« spricht.
Im Bild verloren
Gleiches gilt für die Idee eines neuen, solidarischen Miteinanders, bei dessen Beschreibung Redecker die bei Thomas Hobbes negativ besetzte Metapher des Myzels, des Pilzgeflechts, aufgreift und ins Positive umkehrt. Zwar spricht sie auch davon, dass die Menschen sich bei diesem Miteinander gegenseitig versorgen und unterstützen müssen, aber was das konkret bedeutet und wie diese Form der Gemeinschaft aussehen kann, geht im Bild verloren. Solche Stolpersteine sind äußerst ärgerlich, führen aber noch nicht zum Beinbruch. Stellenweise werden Redeckers bildhafte Aussagen in ihrer Unklarheit aber gefährlich: Redecker schildert, wie sie bei der Teilnahme an einer antifaschistischen Demonstration in Verona eine tanzende Frau erblickt. Auf ihrem Bauch steht auf Italienisch: »Salvini, gib nicht auf!« Die demonstrierende Menge bricht aber nicht in Pöbeleien, sondern in Gesänge des Partisanenlieds ›Bella ciao‹ aus. In dieser Reaktion auf die Gegendemonstrantin liegt für Redecker der Unterschied eines solidarischen zu einem faschistischen Kollektiv: »dass in seiner Mitte selbst noch seine Gegner sicher tanzen können.«
Das klingt extrem catchy und lässt sich bestimmt super in Social-Media-Posts zitieren oder als Motto für das neue Bullet Journal verwenden – einen echten inhaltlichen Punkt macht Redecker damit aber nicht, im Gegenteil: Natürlich muss eine solidarische Gemeinschaft Widersprüche und Meinungsverschiedenheiten aushalten können. Das muss sie allerdings nicht kategorisch, sondern nur bis zu einem gewissen Grad. Unterstützer:innen von korrupten Ultranationalist:innen und Faschist:innen wie Matteo Salvini dürfen allerhöchstens am gesellschaftlichen Rechtsaußen-Rand tanzen. Sie haben keine legitime Meinung, die eine solidarische Gemeinschaft aushalten müsste. Das möchte Redecker auch nicht sagen – in der Metapher hat die nötige Differenziertheit aber keinen Platz.
Redeckers unbestreitbare Stärke
Würde man die starke Bildsprache, die Wiederholung der immer gleichen Phrasen und die nächste und übernächste Anekdote streichen, dann käme dabei ein Text heraus, dem es besser gelänge, seine Punkte zu machen. Und wichtig sind die Punkte, die Redecker macht. Sie hat trotz allem ein Buch geschrieben, das durch seine Aktualität und seine sachlichen Analysen besticht. Beim Lesen bekommt man eindeutig vor Augen geführt, wie notwendig solch ein Buch jetzt gerade ist.
Wer seinen Geist neuen Ideen und Gedanken nicht völlig verschließt, wird nicht umhinkommen einzusehen, dass die großen Themen unserer Zeit untrennbar miteinander verknüpft sind: Kolonialismus, Polizeigewalt, Rassismus, Klimakrise, Faschismus, Gewalt gegen Frauen und andere Minderheiten, soziale Ungleichheiten. Die Verbindungen zum Kapitalismus deckt Redecker schonungslos und präzise auf. Das ist an sich nicht unbedingt eine neue Erkenntnis, lässt sich aber durch die Einbeziehung aktueller Proteste ausgesprochen gut unter die Leute bringen. Die Eigenschaft, für Menschen auch ohne Vorkenntnisse zugänglich zu sein und den Kern des Problems leicht verständlich darzulegen, ist die größte Stärke von Revolution für das Leben.