Ungehemmt

Mit trockenem Humor und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, zeigt Kate Davies in ihrem Roman Love Addict, wie eine junge Frau ihre sexuelle Selbstbestimmung entdeckt, sich jedoch schnell in einer toxischen Beziehung wiederfindet. Sie muss entscheiden, was ihr wirklich wichtig ist.

Von Marie-Louise Potratz

Bild: Via Pixabay, CC0

Ohne große Umschweife steigt Kate Davies in ihren ersten Roman Love Addict ein. Denn die Coming-out-Geschichte einer jungen Lesbe beginnt direkt und ohne Einleitung mit dem Thema, das den Roman bestimmt: Sex. Die Zeit der Leser:innen wird nicht mit irgendwelchen Umschreibungen verschwendet, sondern spricht ungewohnt offen über das Sexleben der Protagonistin, inklusive dem schlechtesten und dem besten Sex aller Zeiten. Ungehemmt wird der:die Leser:in in die queere Szene eingeführt und lernt deren Eigenarten kennen.

Julia ist 26 Jahre alt und arbeitet in einer Londoner Behörde. Sie trauert ihrer Tanzkarriere nach, langweilt sich in ihrem Bürojob und hatte seit Jahren keinen Sex. Dank ihrer Mitbewohnerin wird sie besonders an den letzten Punkt immer wieder erinnert, da deren »Sexgeräusche« regelmäßig durch die dünnen Wände der Wohnung zu hören sind. Julia versucht, die frustrierende Lage anzugehen. Doch das ist leichter gesagt als getan, denn ihre Versuche scheitern kläglich. Sie schwört dem Sex ein für alle Mal ab, bis sie auf Jane trifft, die ihr die Welt der Homosexualität eröffnet. In der neu entdeckten LGBTQ-Gemeinschaft spürt Julia endlich ein »Gefühl von Zugehörigkeit« und Akzeptanz:

Es schien eine richtige lesbische Sprache zu geben, von der ich nichts geahnt hatte, aber das gefiel mir; es kam mir vor, als würde ich in einen Geheimbund eingeladen. Es gefiel mir, Teil einer Familie zu sein.

Zum ersten Mal fühlt sie sich sowohl in der zwischenmenschlichen Beziehung als auch beim Sex gleichberechtigt. Besonders Letzteres findet im Roman viel Raum. Julia entdeckt dadurch nicht nur ihren eigenen Körper neu, sondern auch ihr sexuelles Verlangen. Dieses bezieht sich nämlich nicht, wie sie bisher immer annahm, auf Männer, sondern auf Frauen.

Toxische Beziehung

Eine unermessliche Freude überkommt Julia, da sie nun endlich ihren Platz in der Welt gefunden hat. Sie erzählt allen, von den eigenen Eltern bis hin zur Kosmetikerin, von ihrer neu entdeckten Sexualität. Schnell verliebt sich Julia in Sam, eine Künstlerin, die sie in Sex-Clubs und zu SM-Events mitnimmt. Die freiheitsliebende Sam hält nicht viel von Monogamie und besteht darauf, dass sowohl sie selbst als auch Julia weiterhin mit anderen Frauen schlafen. Die anfängliche Freude über ihr Leben mit Sam und das neu gewonnene Freiheitsgefühl lösen sich darum alsbald in Luft auf. Denn während ihre Beziehung immer intensiver wird, fordert Sam immer mehr von Julia. Sie muss sich entscheiden, welche Art von Beziehung sie führen möchte.

So ein schönes Paar, die beiden leben den Traum. Und das taten wir wohl auch. Ich war mir nur nicht sicher, ob es mein Traum war.

Davies gelingt es, das fast unmerkliche Abgleiten der Beziehung zwischen den zwei Frauen eindrücklich zu beschreiben. Bald fängt Sam an, Julia zu kontrollieren und möchte nicht, dass sie weiterhin zur Therapeutin geht, ihre beste Freundin und Mitbewohnerin nach der Trennung von ihrem Verlobten tröstet oder Zeit mit den Leuten aus ihrem Tanzkurs verbringt. Sam fühlt sich bei jeder Kleinigkeit im Stich gelassen. Die Beziehung, die so vielversprechend anfing, entwickelt sich in eine ungesunde Richtung, in der Julia von Sam abhängig wird. Genau das ist es, was den Roman auf eine abstrahierende Ebene hebt. Auch wenn es sich hierbei um eine lesbische Beziehung handelt, lässt sich dieser Verlauf auf alle erdenklichen Arten von Beziehungen übertragen.

Manchmal liegen Liebe und Besessenheit nah beieinander.

Kurzweiliger Humor

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Kate Davies
Love Addict

Übersetzt von Britt Somann-Jung
 Fischer: Berlin 2021
 512 Seiten, 23,00€

Neben den explizit beschriebenen Sexpraktiken lebt der Roman insbesondere durch die harten Szenenwechsel. So befindet sich Julia erst in einem Sex-Club, kurz darauf ist sie bei ihren vermeintlich konservativen Eltern zu Besuch, sitzt mit ihrer Mitbewohnerin bei Marks & Spencer auf dem Boden, wo diese ihr unter Tränen von der Verlobung erzählt, oder liegt bei ihrer Therapeutin auf dem Sofa und ist ein Versuchskaninchen für eine neue Therapieform. Damit bleibt der trockene Humor durchgängig erhalten. Doch auch weniger Sexszenen hätten der Geschichte keinen Abbruch getan.

Davies schafft, was nur die Wenigsten schaffen, nämlich die Spannung in den 500 Seiten beinah konstant aufrecht zu erhalten. Erst am Ende zeigen sich Längen und es hätte auf die ein oder andere vorhersehbare Wendung verzichtet werden können. Insgesamt ist es aber ein Roman, der Fifty Shades of Grey um Längen übertrifft. Denn Davies‘ Roman besteht aus mehr als nur den Sex-Szenen. Er handelt von Freundschaft und Liebe, vom Entdecken der eigenen Sexualität und von Selbstverwirklichung. Mit ihrem Scharfsinn und ihrem Witz gelingt es Davies, die so oft vernachlässigte Darstellung von queerer weiblicher Sexualität auf charmante Art in den Mittelpunkt zu rücken.

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