Tatort im Tiefschlaf

Triggerwarnung: Sexualisierte Gewalt

Das Mordopfer im Weihnachts-Tatort hat mehrere Frauen betäubt und vergewaltigt. Doch das Wort »Vergewaltigung« ist wie aus dem Wortschatz der Figuren gestrichen, die Ermittler:innen reproduzieren entschuldigende Täter-Diskurse. Über Somnophilie, Macht und das Versagen eines TV-Krimis.

Von Linus Lanfermann-Baumann

Bild: NDR / Frizzi Kurkhaus

Ein Mann betäubt Frauen gegen ihren Willen, damit sie beim Sex bewusstlos sind. Klarer Fall von Vergewaltigung? Im neuen NDR-Tatort Alles kommt zurück mit Maria Furtwängler als Kommissarin Charlotte Lindholm (Erstausstrahlung: 26.12.2021) wird diese scheinbar einfache Feststellung genauso konsequent wie kreativ umgangen, das Wort »Vergewaltigung« fällt kein einziges Mal. Die Figuren nennen nicht etwa das Verbrechen beim Namen, sondern philosophieren ausführlich über die sexuellen Vorlieben des Vergewaltigers Roy Schöne, der zu Beginn der Folge ermordet wird.

Udo Lindenberg darf in diesem Tatort, der im Hotel Atlantic in Hamburg angesiedelt ist, sein neues Album promoten. »Netzwerk und Netzstrümpfe, das war sein Ding«, sagt er über den Toten, der auf dem Kiez eine Karaoke-Bar betrieben hat. Bei den Ermittlungen befragt Lindholm in besagter Bar einen Kunden (Kida Khodr Ramadan), dem zu Schöne einfällt: »Er hatte einen anner Waffel. Er mochte es, wenn man mit ihm schläft, dass sie schlafen. Der hat die Frauen ruhiggestellt, damit er so sein Ding danach machen kann mit denen.« Ein skurriler Fetisch also, dem das Mordopfer da gegen den Willen seiner Sexpartnerinnen nachgegangen ist, nichts weiter – so suggeriert es die Erzählung.

Tatort
“Alles kommt zurück”

Deutschland 2021
Regie: Detlev Buck
Mit: Maria Furtwängler, Jens Harzer, Udo Lindenberg, und anderen

Wie die Menschen sich austoben

»Somnophilie: Sex mit Schlafenden oder Bewusstlosen«, klärt die Kommissarin sogleich den »Luden« einer Prostituierten auf, die Roy Schöne zum Opfer gefallen und an einer Überdosis Betäubungsmittel gestorben ist. Der Zuhälter (Detlev Buck) antwortet lachend: »Es gibt ja so viele Möglichkeiten, wie die Menschen sich austoben können, ne? Da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Das ist das Spannende.« Lindholm erwidert wenig nachdrücklich: »Sex mit bewusstlosen Frauen an sich finden Sie in Ordnung?« Des Zuhälters Assistentin würgt Lindholm schnell geschäftstüchtig ab: Man vermiete nur die Zimmer, und »was die Mädchen mit den Kunden machen, machen die Mädchen mit den Kunden direkt«.

Dass ein zufälliger Kneipenbesucher und ausgerechnet ein Zuhälter den Vergewaltigungen gegenüber völlig unsensibel sind, lässt sich noch nachvollziehen. Mehr sogar: Die filmische Reproduktion des Missstands, dass Vergewaltigungen, zumal von Prostituierten, oft nicht als solche erkannt und verhandelt werden, ließe sich sogar als Kritik realer Diskurse deuten. Problematisch wird es aber, wenn mit den Kommissar:innen Lindholm und Delfgau (Gastdarsteller Jens Harzer) selbst die Identifikationsfiguren in diesem Tatort nicht zu dieser scheinbar einfachen Deutung in der Lage sind, jedenfalls nicht explizit.

»Ruhiggestellt« statt »vergewaltigt«

Offensichtlich hat Roy Schöne seine Opfer gegen ihren Willen betäubt, es liegen einige Anzeigen von jungen Frauen vor. »Wegen seiner sexuellen Vorlieben«, lässt Drehbuchautor Uli Brée seinen Kommissar Delfgau zu einer Kollegin sagen. Nicht etwa »wegen Vergewaltigung« – davon keine Spur. Die profundeste Analyse liefert noch Lindholm selbst: »Roy Schöne stand auf Sex mit schlafenden Frauen. Er hat sie ruhiggestellt, damit er volle Kontrolle über ihren Körper hat. Macht.«

Dass Sex mit einem Menschen, der gegen seinen Willen »ruhiggestellt« wird, immer eine Vergewaltigung ist, scheint jedoch auch ihr entgangen zu sein. Wirksam wird hier wohl der Status einiger Opfer als Prostituierte, denen im Schlafzimmer offenbar keine Rechte mehr zugestanden werden (O-Ton des Zuhälters: »Das war ja auch gar kein richtiger Mord, das war ja eher Pech.«). Auch in Besprechungen der Tatort-Folge liest man über »gemeingefährliche Sexspiele« und die »speziellen sexuellen Vorlieben des schönen Roy«. Alles irgendwie erotisch-aufregend und absonderlich, vielleicht auch moralisch zu verurteilen. Aber kriminell?

Somnophilie und Einvernehmen

2016 wurde das deutsche Strafrecht verschärft. Seitdem ist nicht länger nur strafbar, wer Gewalt ausübt oder androht oder wer die schutzlose Lage seines Opfers ausnutzt, sondern auch, wer sein Opfer gegen dessen »erkennbaren Willen« zum Sex zwingt. »Nein heißt Nein«, so lautet seither der Grundsatz. Ein gutes Jahr später begann die #MeToo-Bewegung, öffentlich ein Schlaglicht auf das Ausmaß sexueller Übergriffe von Männern auf Frauen zu werfen. Von den juristischen und aktivistischen Sensibilisierungen ist im Weihnachts-Tatort jedoch offenbar nichts angekommen – obwohl es doch gerade TV-Krimis sein dürften, die großen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung von Straftaten nehmen und sich dessen bewusst sein sollten. In Anbetracht der verharmlosenden medialen Verhandlung scheint es weiterhin notwendig zu sein, das Thema Einvernehmlichkeit zu diskutieren.

Einer schlafenden oder bewusstlosen Person ist es grundsätzlich unmöglich, ihre Einwilligung zu geben. Einvernehmlicher Sex ist somit ausgeschlossen. Allerdings gibt es durchaus kompliziertere Fälle: »Somnophil« muss nicht immer nur der:die aktive Sexpartner:in sein. Somnophil kann auch heißen, das Aufwachen während des Akts oder das Wissen darum, dass dieser trotz eigener Passivität vollzogen wurde, als lustvoll zu erleben und dies zuvor sogar explizit erbeten zu haben. In diesem Fall käme es natürlich zu keiner Anzeige und damit zu keiner Strafverfolgung. Der Sex würde von den Beteiligten als einvernehmlich verstanden und nicht als Vergewaltigung wahrgenommen werden. Es kann also nicht darum gehen, ein erotisches Interesse an schlafenden Personen an sich zu verteufeln. Vielmehr kommt es darauf an, nicht einvernehmlichen Sex grundsätzlich als Vergewaltigung zu erkennen, völlig unabhängig von der dahinterstehenden sexuellen Neigung.

Sex als Einbahnstraße

Gleichzeitig sollte die Gender-Ebene der Somnophilie nicht aus dem Blick geraten. Zumeist sind es Männer, die es erregend finden, sich aktiv der schlaffen Körper von Frauen zu bemächtigen. Es gibt zumindest Hinweise auf eine hohe Dunkelziffer an Vergewaltigungen innerhalb von Beziehungen, die auf eine somnophile Neigung des Mannes zurückgehen und von den Betroffenen oft nicht als solche erkannt werden. Zeigt sich hier eine Tendenz hin zum »Einbahnstraßensex«, wie ein norwegischer Psychologe meint? Haben viele Männer Angst vor gleichberechtigter Interaktion im Bett?

Indiskutabel bleibt, dass nicht einvernehmlicher Sex eine Vergewaltigung bedeutet und als solche benannt werden muss. Alles kommt zurück versagt an dieser Stelle auf ganzer Linie. Ironischerweise ist es einzig die mit Drogen vollgepumpte Zwillingsschwester eines Vergewaltigungsopfers, die Roy Schöne eine »dunkle sexuelle Energie« attestiert. Sie kommt damit zu einem präziseren Werturteil als das gesamte Ermittler:innenteam. Das ist auch deshalb überraschend, weil Maria Furtwängler sich seit einigen Jahren feministisch engagiert und an der aktuellen Folge nicht nur als Schauspielerin, sondern auch als Produzentin beteiligt war. Außerdem hat der NDR Vergewaltigungsdrogen, Antifeminismus und Incels im März 2021 in der Tatort-Folge Borowski und die weißen Männer noch klug thematisiert. Nun aber wieder ein Rückschritt.

Ein wenig kann man diesem Tatort am Ende zwar noch abgewinnen: Jens Harzer gibt einen coolen Kommissar in einem Krimi, dessen Starbesetzung in den bewusst überzogenen Rollen ansonsten eher blass bleibt. Maria Furtwängler ist einigermaßen erträglich und verkörpert den emotionalen Schock nach ihrem Date-Fehltritt, der sie statt zu einem wartenden Liebhaber in das Bett des bereits toten Roy Schöne führt, überzeugend. Die komödiantische Einbindung Udo Lindenbergs gelingt zumindest bedingt. Doch die gesellschaftspolitische Aufmerksamkeit dieser Folge verbleibt wie die Frauen nach den somnophilen Vorlieben ihres Vergewaltigers: irgendwo zwischen Tiefschlaf und Bewusstlosigkeit.

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