In ihrem Roman Herbst, dem ersten Band ihres Jahreszeitenquartetts, gelingt es Ali Smith auf atemberaubende Weise ein komplexes Bild der im Angesicht des Brexits zerstrittenen englischen Gesellschaft zu zeichnen – ein Bild, das zugleich als eine Karikatur der westlichen Welt aufgefasst werden kann.
Von Mareike Röhricht
Der sterbende Hundertjährige, Daniel, pensionierter Komponist und einst als Kind allein nach Großbritannien immigriert, kennt Elisabeth, seit diese im Alter von sieben Jahren mit ihrer Mutter in sein Nachbarhaus zog. Über seine Herkunft scheint niemand mehr zu wissen, doch in seinen Erinnerungen wird deutlich, dass sein Leben in der Rolle des Fremden schwierig war. Womöglich hat gerade diese Erfahrung ihn zu der so umsichtigen humanistischen Persönlichkeit werden lassen, die die kleine Elisabeth schon faszinierte, bevor die beiden ein erstes Wort miteinander gewechselt hatten, denn: Anders als so viele begegnet dieser gebildete Erwachsene ihr von Anfang an auf Augenhöhe, nimmt sie ernst und eröffnet ihr dabei einen neuen Blick auf die Welt und besonders die Künste.
Daniel wird immer öfter ungefragt mit der Aufsicht der heranwachsenden Elisabeth betraut. Mit der Zeit entwickelt sich eine enge Verbundenheit zwischen den beiden. So wird Elisabeth und mit ihr die Leser:innenschaft sensibel für das Andere und die Bedeutung der Künste.
»Was liest du gerade?«
»Was liest du gerade?« ist die Frage, die Daniel Elisabeth stets zur Begrüßung stellt und die so viel mehr für beide bedeutet als das bloße Interesse an ihrer jeweiligen Lektüre: Daniel bekundet damit nicht nur ernsthaftes Interesse an dem, was Elisabeth innerlich umtreibt und an ihr als Person, sondern weist zugleich auf das Potenzial von literarischen Werken als diskursiven Räumen hin.
Gerade zur Zeit des Brexits bewegen diese Fragen nach Werten und Zielen, die Elisabeth besonders in ihrer Jugend umtrieben, die Gemüter der europäischen Gesellschaft. So werden beschriebene Erinnerungen, Träume und der gegenwärtige Alltag der jungen Frau zu einem konzentrischen Kreis zusammengenschlossen: In Elisabeths Alltag ereignen sich haarsträubende Szenerien, in denen Beamt:innen sich und ihren Mitmenschen das Leben unnötig schwer machen, anstatt sich ihres gesunden Menschenverstandes zu bedienen. So werden im Verlauf der Erzählung verschiedene negative Stereotype verhandelt, deren Hochkonjunktur symptomatisch für das Kranken der demokratischen und europäischen Gesellschaft steht, dessen bisheriger Höhepunkt womöglich der Brexit ist. So beantragt Elisabeth einen neuen Ausweis. Ein angemessenes Foto dafür einzureichen wird zu einer grotesken Herausforderung: Anmerkungen wie »FALSCHE KOPFGRÖSSE« auf dem Passantrag verstören und werfen Fragen auf: Wie viel Bürokratie ist notwendig? Und wie gefährlich sind Normen oder wie heikel deren Formulierung?
Ali Smith
Herbst
Übers. von Silvia Morawetz
Luchterhand: München 2019
272 Seiten, 22,00€
Und diese ist nur eine von vielen alltäglichen Begebenheiten, bei denen wohl auch jene Leser:innen, die die NS-Zeit nur aus Erzählungen kennen, die bürokratischen Schikanen des Nationalsozialismus assoziieren. Auch auf offener Straße legen Elisabeths Mitmenschen aus Angst vor dem Umbruch die seltsamsten Verhaltensweisen an den Tag. Der Einzelne pocht auf sein vermeintliches Recht, die Vertreter:innen der Boulevardpresse treten klischeehaft diverse Rechte, etwa die des Urhebers, mit Füßen und das Fernsehen verdreht seinem Publikum die Köpfe: Die Zuschauer:innen werden unterhalten und ohne es zu bemerken gleichzeitig selbst zur Schau gestellt. Die Erzählweise ist satirisch: Die Welt gerät aus den Fugen – während Grenzen und Regeln beständig verstärkt werden, um gerade dies zu verhindern.
Was Liebe bedeutet
Doch die Freundschaft der beiden ist nicht frei von Schatten. Eines Tages verletzt Daniel die Heranwachsende zutiefst und der Kontakt der einst Unzertrennlichen reißt beinahe vollständig ab. Doch Elisabeth bleibt ihm tiefer verbunden, als ihr bewusst ist: Auch wenn sie kurze und lange Beziehungen führt, ist sie in diesen Partnerschaften – mit Männern oder Frauen – doch immer eine reduzierte Variante ihrer selbst. Eines Tages beschließt sie, einer Ahnung folgend, Daniel wieder zu besuchen, um ihm einen Kunstband von Pauline Boty zu schenken. Er verehrt, wie sie noch weiß, diese Künstlerin sehr – nur weiß Elisabeth nicht, woher diese tiefe Zuneigung rührt.
Sie selbst hat als Kunstwissenschaftlerin kurz zuvor eine Arbeit über das Lebenswerk dieser viel zu jung gestorbenen Popart-Künstlerin verfasst und sich damit endlich in ihrem akademischen Umfeld durchgesetzt. Bis dahin hatte Elisabeth einen schweren Weg – ist sie doch Expertin in einer wissenschaftlichen Domäne, die noch immer von Männern dominiert wird, die sich zu allem Übel für nichts als ihre Sicht auf die Welt interessieren und sehr bemüht sind, die Frau im Kreis kleinzuhalten. Mit der Schilderung dieses emanzipatorischen Akts versucht Ali Smith einmal mehr, ihre Leser:innenschaft aufzurütteln: Was bedeuten Europa und die Demokratie eigentlich auf tieferer Ebene – wenn Gleichberechtigung nicht einmal im privilegierten Raum der Wissenschaft gegeben scheint? Es scheint, wir sind von diesen Idealen weiter entfernt, als viele ahnen.
Das Gespräch, das Elisabeth und Daniel an jenem Nachmittag führen, als sie ihn nach so langer Zeit wieder besucht, um ihm den Kunstband zu schenken, bringt die beiden einander auf emotionaler Ebene näher als jemals zuvor:
Diese Bemerkung, die Elisabeth und den Lesenden gleich mehrere Fragen beantwortet, fasst außerdem zusammen, was dieses Buch eigentlich ist: Eine liebevolle Mahnung, uns auf unsere europäisch-demokratischen Werte zu besinnen, vor allem im Miteinander. Oder wie der Kleine Prinz sagt: Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Ein Sprachkunstwerk
Die ersten Kapitel von Ali Smiths Roman mögen zunächst beinahe zusammenhangslos erscheinen, denn das Buch ist selbst eine Collage verschiedener Textformen und Perspektiven und Diskursebenen. Allerdings weicht die Unsicherheit darüber, wie es möglich sein soll, sich auf diesen fulminanten 260 Seiten zu orientieren, bald einem Sog aus Faszination und Neugierde. Kunstvoll verwebt Ali Smith Alltagsszenerien aus dem gegenwärtigen Leben Elisabeths mit ihren Kindheits- und Jugenderinnerungen und Träumen. Wiederholt wird diese Erlebniscollage durch Kapitel aus der Perspektive des sterbenden Daniels ergänzt, dessen Erinnerungen sich immer öfter mit Traumepisoden vermischen. Dieser expressive Tanz der Diskurse wird von einem virtuosen Orchester intertextueller und intermedialer Bezüge begleitet und durch eingestreute Namen geordnet. So reisen Elisabeth und Daniel gemeinsam durch Bilder von Pauline Boty und »Cézanne-Farben«, während Daniel an anderer Stelle in einem seiner Träume eine Szene aus Gullivers Reisen zu durchleben scheint.
Das Buch ist durchwebt von Bezügen zur Weltliteratur, versteckte literarische Titel und Zitate und enthält sogar Songtextfragmente. Dieses bunte Potpourri der Kunst wird durch ein hochsensibles Spiel mit Sprache und verschiedenen Textarten – von Aphorismen und Gedichten in Prosa bis hin zu einem Kapitel, das im Stil einer Nachrichtenrede verfasst ist – zu einem bewegenden und eindrucksvollen Leseerlebnis verschmolzen. Darüber hinaus lässt Silvia Morawetz’ Übersetzungskunstwerk Zweifel an Unübersetzbarkeitsstudien aufkommen – das Warten auf die deutsche Fassung wird bei der Lektüre reich belohnt:
Ali Smith nimmt in ihrem Roman Herbst gleichermaßen die Gesellschaft als Ganze und anhand der einzelnen Charaktere bzw. Geschehnisse auch die Bedeutung der Einzelnen in den Blick. Dabei fokussiert sie zwischenmenschliche Beziehungen in ihrer wechselseitigen Bedingtheit und erhellt sie so hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Relevanz, wodurch Systeme und Verhaltensweisen hinterfragt werden. Voll Spannung drängt sich die Frage auf, wie diese komplexe Analyse von Zeitgeist und Gesellschaft in den Folgeromanen wohl aufgegriffen werden mag…